1 Der erste Eindruck
So gewinnen Sie die Schüler für sich
Denken Sie an Ihren Lieblingslehrer. Denken Sie nun an den Lehrer, den Sie am wenigsten mochten. Sehr wahrscheinlich erinnern Sie sich gleich gut an diese beiden Personen, denn beide haben Sie geprägt. Sie haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen, sei er nun positiv oder negativ. Vielleicht war es Ihnen damals nicht klar, aber Sie wussten schon am ersten Schultag, ob Sie den Lehrer mögen oder ob es ein langes Jahr werden würde.
Der Eindruck, den Sie am ersten Schultag hinterlassen, ist ganz entscheidend, denn die Schüler versuchen sofort, Sie einzuschätzen. Die Klasse beobachtet Sie auf Schritt und Tritt und registriert jede Ihrer Bewegungen, Handlungen und Reaktionen.
Dieser erste Eindruck ist die Messlatte für den Rest des Schuljahres. Er lässt sich mit dem festen Fundament vergleichen, auf dem die Schule errichtet wurde. Nun fragen Sie sich vielleicht: „Aber was soll ich tun, wenn ich diese Zeilen erst im Oktober, Januar oder April lese? Muss ich bis zum nächsten Schuljahr warten, damit ich die notwendigen Änderungen vornehmen kann?“ Die Antwort lautet selbstverständlich: Nein! Und das ist das Schöne am Unterrichten. Wenn ich mit den Berufsanfängern unter den Lehrern arbeite, sage ich ihnen oft: „Jeder Tag kann ein Montag sein, es liegt ganz bei Ihnen!“ Idealerweise möchten wir das Fundament natürlich am ersten Schultag legen und dann im Verlauf des Schuljahres darauf aufbauen. Ein gutes Fundament erspart uns nachträgliche „Renovierungsarbeiten“. Trotzdem können wir bei Bedarf jederzeit Mängel ausbessern. Unterm Strich gilt also: Wer gleich am Anfang alles richtig macht, kann darauf aufbauen und sich auf die Feinheiten konzentrieren. Achten Sie trotzdem stets auf kleine Mängel und beseitigen Sie diese sofort, bevor Ihr Fundament zu bröckeln beginnt.
Denken Sie an einen der ersten Schultage in Ihrer eigenen Schulzeit. Wonach haben Sie gesucht, was haben Sie von Ihren Lehrern erwartet? Und was erwarten Sie noch heute, wenn Sie von Professoren, Studienleitern, Mentoren oder externen Mediatoren unterrichtet werden? Sind es die gleichen Qualitäten, die Sie Ihren Schülern bieten?
Vor einigen Jahren befragte ich eine Gruppe von Schülern an einer weiterführenden Schule. Ich bat sie, über ihren Lieblingslehrer nachzudenken (in diesem Jahr hatten alle Schüler fünf verschiedene Lehrkräfte) und ihn oder sie kurz zu beschreiben, ohne den Namen der Lehrkraft zu nennen. Da ich die Schule und die Lehrkräfte kannte, waren die Ergebnisse sehr interessant für mich. Ich wusste anhand der Beschreibungen ganz genau, über wen die Schüler sprachen. Hier sehen Sie einige Aussagen der Schüler:
- Sie ist sehr nett zu uns allen.
- Sie passt auf uns auf und sagt, wir seien wie ihre eigenen Kinder.
- Sie ist gerne Lehrerin und mag ihren Beruf.
- Ich glaube, er mag mich sehr. Er hilft mir und den anderen Kindern immer.
- Bei einigen Lehrern benehme ich mich wirklich schlecht, aber in ihrem Unterricht gerate ich nie in Schwierigkeiten.
- Bei ihr müssen wir ganz schön viel arbeiten, aber sie hilft uns dabei und deshalb macht es mir nichts aus, denn ich bekomme fast immer eine Eins.
- Er ist lustig und interessant.
- Manchmal schaue ich auf die Uhr und die Stunde ist schon vorbei – dabei dachte ich, sie hätte gerade erst angefangen.
- Sie regt sich nicht auf und schreit uns nie an, denn wir machen alle gut mit.
- In seinem Unterricht möchte ich richtig gut sein.
- Wir behandeln da lauter Sachen, die Spaß machen – man muss sich anstrengen und es gibt Noten dafür, aber es macht trotzdem Spaß.
- Sie hat meiner Mutter eine Nachricht geschickt, weil ich im Unterricht gut bin, und die hängt jetzt bei uns am Kühlschrank.
Stellen Sie sich vor, Ihre Schüler sollten Sie beschreiben. Welche dieser Aussagen träfen auf Sie zu?
Die Situation
Erster Schultag, der Unterricht beginnt. Die Schüler sind wegen Verhaltensauffälligkeiten, die einen langfristigen Ausschluss vom Unterricht oder sogar Schulverweise nach sich zogen, in dieser speziellen Bildungseinrichtung gelandet. Die meisten von ihnen kommen unruhig und ängstlich an. Da sie alle „Opfer“ von Entscheidungen Dritter sind, zeigen sich nur wenige von ihnen für ihr Handeln verantwortlich. Ganz offensichtlich freut sich keiner von ihnen hier zu sein. Es ist kein schöner Tag für sie. Frau Hansen und Frau Paulsen arbeiten seit 15 Jahren an dieser Schule. Sie haben Erfahrung mit dieser Art von Schülern und beide haben ihren Ruf an der Schule. Die Schulleiterin sagt, dass es mit Schülern von Frau Hansen so gut wie nie Disziplinprobleme gibt. Sie sagt auch, dass die meisten Disziplinprobleme an der Schule bei Frau Paulsen auftreten.
So klappt es
Frau Hansen steht an der Tür und begrüßt die Schüler in einem freundlichen Tonfall und mit einem Lächeln. Sie gibt jedem die Hand und klopft ihnen auf die Schulter. Beim Betreten des Klassenraums sind die Schüler ganz beeindruckt von der einladenden Atmosphäre: Überall hängen Willkommensschildchen und auf den Tischen steht für jeden von ihnen ein kleines Begrüßungsgeschenk. Frau Hansen nimmt sich einen Stuhl und stellt ihn so hin, dass sie von allen Schülern umringt ist. Sie blickt ganz tief in jedes der zwanzig Augenpaare um sie herum. Als sie ganz sicher ist, dass sie die ungeteilte Aufmerksamkeit hat, sagt sie: „Wenn ich euch erzählen würde, was ich so alles gemacht habe, als ich jünger war, dann wären ein paar Dinge dabei, auf die ich ganz bestimmt nicht stolz bin. Ich werde es euch nicht erzählen, aber worum es mir geht, ist, dass wir alle schon einmal etwas getan haben, wofür wir uns schämen. Ihr seid hier, weil ihr Fehler gemacht habt, aber diese Fehler gehören der Vergangenheit an, genau wie meine Fehler. Wir müssen nicht darüber reden. Wir dürfen sie nur nicht vergessen, damit sie uns immer daran erinnern, was wir nie wieder tun wollen. Mir ist nicht wichtig, warum ihr hier seid. Mir ist nur wichtig, was wir von heute an tun. Das ist alles, was zählt.“
Da ganz offenkundig alle aufmerksam sind, nutzt Frau Hansen diesen Moment aus und beginnt mit einer Aktivität für den ersten Schultag, die ihr besonders gut gefällt: „Ihr habt jetzt 15 Sekunden Zeit. Schaut euch ganz genau im Raum um und findet so viele braune Gegenstände wie möglich. Wenn die 15 Sekunden um sind, werde ich euch bitten, nur noch auf den Tisch zu schauen und mindestens zehn braune Gegenstände aufzulisten, die ihr gefunden habt. Ihr dürft dann nicht mehr hochschauen, denn es geht darum, dass ihr nur aufschreibt, woran ihr euch erinnert.“ (Ein Beisitzer könnte nun beobachten, dass die Schüler bereits den Raum inspizieren.)
„OK“, sagt Frau Hansen, „Achtung – fertig – los!“ Die Schüleraugen suchen wie wild jeden Winkel des Raumes ab, während Frau Hansen „Braun, braun, findet etwas Braunes!“ vor sich hin summt. Nach 15 Sekunden stoppt sie die Suche. „Bitte senkt jetzt eure Köpfe. Schaut nicht mehr hoch, sondern nur noch auf das Blatt Papier und schreibt aus eurer Erinnerung mindestens zehn grüne Gegenstände auf.“ Die Schüler stöhnen und maulen. „Grün?“ fragt einer von ihnen. „Genau! Und lasst die Augen bitte auf dem Papier“, sagt Frau Hansen. „Ich möchte nur grüne Gegenstände – alle grünen, an die ihr euch erinnern könnt.“
Ein paar Sekunden später sagt Frau Hansen den Schülern, dass sie nun wieder hochschauen dürfen. „Was ist denn los?“, fragt sie.
„Sie haben doch gesagt, wir sollen nach braunen Gegenständen suchen“, antworten die Schüler. „Stimmt, das habe ich gesagt. Wer von euch hätte denn mindestens zehn braune Gegenstände aufschreiben können?“ (Alle melden sich.) „Und wem fiel es schwer, zehn grüne aufzuschreiben?“ (Wieder melden sich alle.) „Kann mir jemand sagen, warum das so schwierig war? Wenn ich mich jetzt so im Raum umsehe, fällt mir auf, dass es viel mehr grüne als braune Gegenstände gibt“, sagt Frau Hansen. „Sie haben gesagt, wir sollen nach braunen Dingen suchen, also haben wir das getan. Auf grüne Sachen haben wir nicht geachtet“, erklärt einer der Schüler und die anderen stimmen ihm zu.
„Ihr habt also nur braune Sachen gefunden, weil ihr euch genau darauf konzentriert habt. Und weil euer Blick nicht auf Grün gerichtet war, habt ihr die vielen grünen Sachen um euch herum gar nicht wahrgenommen.“
„Ah, jetzt verstehe ich!“, sagt einer der Schüler. „Wir können nur etwas lernen, wenn wir nicht von etwas anderem abgelenkt sind.“
„Ganz genau!“, sagt Frau Hansen und schon ist die Botschaft angekommen.
Frau Hansen lehnt sich zurück, schaut wieder in die 20 aufmerksamen Augenpaare und sagt: „Also noch einmal: Es geht einzig und allein darum, was wir uns von heute an als Ziel setzen. Wir dürfen dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren, sonst sehen wir nicht, was wirklich wichtig ist. Und wir dürfen unsere Vergangenheit nicht vergessen, weil wir sonst nicht aus unseren Fehlern lernen können. Die Fehler von früher helfen uns also dabei, uns auf eine bessere Zukunft zu konzentrieren. Und diese Zukunft beginnt heute!“
So klappt es nicht
Es ist die erste Stunde bei Frau Paulsen und die Schüler betreten den Klassenraum. Sie steht auch an der Tür, aber ihre Begrüßung fällt nicht besonders herzlich aus. Sie unterhält sich noch mit einem Kollegen und nimmt kaum wahr, wie die Schüler hereinkommen. Hier ist kein „Willkommen“, „Guten Morgen“ oder „Schön, dass ihr da seid“ zu hören....