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Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu

Neuausgabe! Erstmals mit Fotos von unterwegs!

AutorChristian Y. Schmidt
VerlagKahl Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783938916278
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Neuausgabe, erstmals mit Fotos von unterwegs! Um endlich selbst ein echter Chinese zu werden, begibt sich Christian Y. Schmidt, der bereits seit Jahren in Peking lebt, auf eine ungewöhnliche Reise. Er folgt der Nationalstraße 318, auch 'Windknochen Chinas' genannt, die das Riesenreich auf einer Länge von 5.386 Kilometern vom Gelben Meer im Osten bis zu den westlichen Rändern des Himalaya durchschneidet. Der drei Monate lange Trip wird zu einer Zeitreise vom glitzernden 21. Jahrhunderts Shanghais bis nach Tibet, wo Yaks züchtende Nomaden noch halb im Mittelalter leben. Dazwischen besucht der Autor die malerische Wasserstadt Xitang, den gewaltigsten Staudamm aller Zeiten, die mit über 30 Millionen Einwohnern fast weltgrößte Stadt Chongqing, den Potala-Palast in Lhasa und nach zahllosen Tempeln, Klöstern, Punkschuppen und Discos ganz zuletzt das Basecamp am Mount Everest. Christian Y. Schmidt hat einen ebenso spektakulären wie komischen Reisebericht geschrieben, der von der Kritik hoch gelobt wurde und sofort nach Erscheinen auf der Spiegel-Bestseller-Liste stand. Inzwischen gilt das Buch als moderner Klassiker der China-Reiseliteratur.

Bis 1996 Redakteur des Satiremagazins Titanic, arbeitet er seitdem als freier Autor (u.a. für FAZ, SZ, GEO, Merian, Zeit, Jungle World) sowie die Zentrale Intelligenz Agentur. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählen die 2013 wieder erschienene, vieldiskutierte Joschka-Fischer-Biografie 'Wir sind die Wahnsinnigen' sowie die China-Bücher 'Bliefe von dlüben' (2009), 'Im Jahr des Tigerochsen' (2011) und 'Im Jahr des Hasendrachen' (2013).

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Leseprobe

Mission: Impossible IV

In der Wasserstadt Xitang geht der Held der Frage nach, was den chinesischen Schein von der chinesischen Wirklichkeit unterscheidet. Er besteht wichtige Prüfungen, ist aber trotzdem ratlos. Der amerikanische Schauspieler Tom Cruise spielt auch kurz mit.

»Mission: Impossible III« war kein besonders guter Film, aber auch in den chinesischen Kinos sehr erfolgreich. Vielleicht unter anderem deshalb, weil die letzten zwanzig Minuten in Shanghai spielen. Dabei wäre der Film beinahe wegen dieser Szenen nicht in die hiesigen Kinos gekommen. Die Zensoren vom Filmbüro kritisierten, der Film zeichne ein verzerrtes, unrealistisches Chinabild. Das kann man wohl sagen: Tom Cruise springt in Shanghai von einem Hochhaus und landet mit einem Satz in einem kilometerweit entfernten Stadtteil. Oft ist es auch gar nicht Shanghai, was da im Film gezeigt wird: Große Teile der Straßenszenen wurden in Los Angeles gedreht, andere in der von Shanghai neunzig Kilometer entfernten Wasserstadt Xitang. Das ist ungefähr so, als hätte man Szenen für einen deutschen Hauptstadtschocker in einem Dorf im Spreewald gefilmt, wollte dem Publikum aber weismachen, es handele sich hier um Berlin-Mitte.

Sicher: Ein Spielfilm ist kein Dokumentarfilm. Aber auch die Fernsehfeatures und Reportagen westlicher Fernsehsender malen oft seltsame Porträts des Landes. Hinterher haben die Leute etwas im Kopf, das ungefähr so aussieht: China ist eine schlimme kommunistische Diktatur bei gleichzeitigem Raubtierkapitalismus, alle sind bitterarm, bis auf ein paar Reiche, die allesamt korrupt sind und am Wochenende in Stadien Leute erschießen. Die Armen aber tragen weiterhin alte, verschlissene Mao-Anzüge, in denen sie bis zum Umfallen in Kohlegruben oder unter einem grauen, tief versmogten Himmel schuften. Während die Chinesen gefaktes Kinderspielzeug herstellen, vergiftete Schuhe und verseuchte Autos, lächeln sie geheimnisvoll.

Mir fällt das alles gerade ein, weil ich zwei Tage nach der Vince-Weber-Vision im Blues & Jazz tatsächlich auf einem Busbahnhof stehe und ein Ticket nach Xitang in der Tasche habe, der Stadt, in der der chinesische Part von »Mission: Impossible III« gedreht wurde. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um einen regulären Busbahnhof, sondern einen für Tourbusse, den ich nach hartnäckiger Recherche schließlich doch gefunden habe. Von hier aus starten Tagestouristen zu Fahrten in die Umgebung Shanghais. Als ich gestern Nachmittag unter den ganzen Ausflugsangeboten eine Tour nach Xitang fand, griff ich sofort zu. Zwar muss ich für das ganze Tourpaket bezahlen, obwohl ich nicht nach Shanghai zurückfahre. Doch der Tourbus ist wohl die einzige Möglichkeit, ohne Umwege in diese Stadt zu kommen, die nur ein paar Kilometer südlich der 318 liegt.

Jetzt ist es Sonntagmorgen, und ich bin tatsächlich der einzige Ausländer auf dem Busbahnhof unter Tausenden von Chinesen, die sich aufgeregt plappernd auf ihren Ausflug freuen. Der Busfahrer reißt mein Ticket ab und zeigt stumm auf die ausgedruckte Abfahrtszeit. Ich zeige ihm dafür drei große Schlüsselbunde, die herrenlos auf dem Asphalt liegen, nur zwei Meter vom Bus entfernt. Das sind sicher nicht unwichtige Auto-, Bus- und Sicherheitsschlüssel, jeder Bund in einem schönen Lederetui. Irgendjemand ist wegen dieses Verlustes sicher schon in heller Panik. Der Fahrer aber schaut kurz hin, grummelt etwas und winkt ab. Auch etliche Reisende sehen die Schlüssel, und doch tut jeder so, als seien sie nicht vorhanden. Sie denken wahrscheinlich das, was Chinesen in einem solchen Fall meistens denken: Was geht mich das an? Fasse ich die Schlüssel an, bringt das nur Scherereien und möglicherweise richtig Ärger. Erst zwanzig Minuten später kommt eine Straßenfegerin und hebt die Schlüssel auf. Sie ist ja auch fürs Aufheben zuständig.

Pünktlich um neun Uhr setzt sich der Bus in Bewegung. In letzter Minute kommt noch ein etwas fülligerer Mann in den Bus gestürmt. Ich kriege einen Riesenschreck: Der Dicke trägt über dem Herzen den Bundesadler, und es steht fett »Deutschland« auf ihm drauf bzw. auf seinem T-Shirt. Im ersten Moment glaube ich, die deutschen Expattruppen in Shanghai hätten ihn hinter mir hergeschickt, um mich aufzuhalten. Doch dann erkenne ich, dass es sich bei dem Mann nur um einen germanophilen Chinesen handelt. Auch alle anderen Menschen im Bus sind Chinesen, wobei mein Sitznachbar, ein junger Mann, sogar etwas Englisch kann: »Sind Sie guter Stimmung?«, fragt er mich. »Sehr guter. Und Sie?« – »Ich auch.« Dann springt der Soundtrack zum Beginn meiner langen Reise an. Es ist ausgerechnet der Titanic-Song, dargeboten von Kenny G., einem nicht unbedingt bei mir, aber in China hoch beliebten Künstler. Ich freue mich trotzdem, denn chinesischer kann meine Reise kaum losgehen.

Der einzige Wermutstropfen: Der Bus nimmt nicht die 318, die die ganzen 5386 Kilometer bis zur nepalesischen Grenze eine Landstraße ist, sondern die parallel verlaufende Autobahn. Das hatte ich fast erwartet. Noch vor ein paar Jahren war die 318 die einzige Straße, die von Shanghai aus direkt nach Westen führte. Doch inzwischen ist der ganze Osten Chinas von einem dichten Autobahnnetz durchzogen. Und natürlich fährt auch in China kein Bus aus Nostalgiegründen auf der Landstraße, wenn man auf der Autobahn schneller vorankommt. Bald sind wir außerhalb von Shanghai, es geht über von Kanälen und Flüssen durchzogenes plattes Land, dazwischen Felder, Reihenhaussiedlungen und Industriegebietsinseln – wie in Holland. Nach knapp zwei Stunden hält der Bus vor den Toren der Altstadt von Xitang.

Tom Cruise war schneller da. Er ließ sich in Shanghai noch ein wenig von Philip Seymour Hoffman foltern, machte dann ein Fenster auf, und schon stand er auf dem Dach eines Hauses mitten in Xitang. So kam er auch um den Eintritt herum, der am Tor zur Altstadt kassiert wird. Das ist in China nichts Ungewöhnliches; für historische Dörfer, irgendwie interessante Berge, ja sogar für Wiesen nimmt man Eintritt. Aber auch ich muss heute nichts bezahlen, denn das Eintrittsgeld ist in meiner Tour enthalten. Allerdings muss ich mir mein Hotel selbst suchen. Kein Agent in der Mission-Impossible-Force-Zentrale lotst mich per GPS und Handy durch die verwinkelten Gassen: Das sind schon mal zwei Unterschiede zwischen Film und Wirklichkeit.

Dafür sieht die Stadt tatsächlich so malerisch aus wie auf der Leinwand. Allein das Hotel, in dem ich fünf Minuten nach meiner Ankunft einchecke, wirkt wie eine Historienfilmkulisse. »Das verehrungswürdige Haus«, versichert mir der Hotelprospekt, sei am Ende der Ming-Dynastie – also um 1600 – erbaut worden und soll mir »einen unvergesslichen Eindruck vom Leben in der alten Stadt Xitang vermitteln«. Eins weiß ich genau: Garantiert nicht vergessen werde ich mein Zimmer, in dem ein schönes, altes, mit Kattun bespanntes Himmelbett steht und eine Anrichte aus Rosenholz, und dass ich bei der netten, dicken Wirtin den Preis dafür von neunzig auf achtzig Yuan herunterhandele. Damit habe ich zwar nur umgerechnet einen Euro gewonnen, doch darum geht es nicht. Wer Chinese werden oder überhaupt von Chinesen ernst genommen werden will, muss jeden Preis verhandeln. Tut er es nicht, wird er bestenfalls als Trottel belächelt, schlechtestenfalls als Vollidiot verachtet.

Ich bin nicht wenig stolz auf diesen ersten kleinen Sieg und wuchte ächzend meinen schweren Rucksack in den ersten Stock. Auf jeder Reise frage ich mich, warum er am Ende so schwer geworden ist, obwohl ich doch nur das Nötigste eingepackt habe. Aber vielleicht habe ich es mit der Reisebibliothek doch ein wenig übertrieben, und die acht Notizbücher wiegen seltsamerweise auch etwas. Nach dem Wuchten und dem Wundern will ich in der Stadt was essen. Durch eine schmale Gasse, in der kaum zwei Menschen nebeneinanderpassen, gehe ich hinunter zum Kanal. Ein kleines Büchlein, das an der Rezeption meines Hotels ausliegt, behauptet, es gäbe neun von diesen Kanälen, die die Stadt in acht Teile zerschneiden, 104 Brücken, die diese Teile wieder verbinden, dazu genau 122 Gassen. Ich werde mal versuchen herauszukriegen, ob das stimmt. Eines weiß ich schon jetzt: Der kleine Reiseführer ist ein perfektes Zeugnis des allgemein verbreiteten chinesischen Erfassungs- und Statistikwahns. Das muss ich also auch draufhaben, wenn ich wirklich ein echter Chinese werden will. Über das Alter der Stadt ist dagegen nur Diffuses zu lesen. Alt sei sie, sehr alt. Stadt wurde sie erst zu Beginn der Ming-Dynastie, das heißt im 14. oder 15. Jahrhundert. Und die höchste Brücke über einen der Kanäle stammt aus dem Jahr 1581. Sie sei im ganzen Land berühmt, so sagt ein Schild, wegen ihrer drei Rundbögen. Tatsächlich sehe ich nur einen Bogen. Das liegt daran, dass die Brücke eher Chabuduo’r rekonstruiert wurde, vor zehn Jahren. Wahrscheinlich ist die ganze »antike« Wasserstadt nicht echt. Chinesen haben einen völlig anderen Authentizitätsbegriff als der durchschnittliche Westler. Historische Gebäude wurden in der Geschichte Chinas immer wieder abgerissen und durch »bessere« neue ersetzt, bis heute. Selbst das Tor des Himmlischen Friedens in Peking, Teil des alten Kaiserpalastes, hat man noch vor rund fünfzig Jahren ausgetauscht. Das neue Tor ist ein bisschen höher als das Original, was natürlich auch besser ist.

Aber selbst wenn alles hier falsch sein sollte: Der Schönheit dieses Mini-Venedigs tut es keinen Abbruch. Die Andenkenläden nehmen nicht überhand, verkauft werden neben ein paar Tom-Cruise-Tassen hauptsächlich essbare Spezialitäten der Gegend, Eisbein in schwarzer Sauce und kleingehackte und getrocknete grüne Bohnen zum Knabbern. Und es ist ruhig, was...

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