AUGUST 2018
SHARIEin Jahr anfallsfrei. Und dann, letzte Woche Dienstag, der Anruf aus dem Kindergarten. Am ersten Tag nach den Sommerferien: »Mari ist nicht mehr ansprechbar. Wir glauben, dass sie einen Anfall hat.«
Der erste Anfall im Kindergarten. Ich hatte die Erzieher im Kindergarten zwar morgens darauf vorbereitet, dass Mari gerade in einem Medikamentenentzug ist und wir mit dem Schlimmsten rechnen müssen, doch nun war ich es, die unvorbereiteter und überraschter nicht hätte sein können. »Ich komme«, habe ich gesagt und mich umgehend ins Auto gesetzt. Wie in einem Film bin ich zum Kindergarten geflogen. Ohne Rücksicht auf Verkehrsteilnehmer oder Tempolimits, gedanklich immer bei meinem Kind. Ich hatte Angst. Davor, dass Mari leidet – aber vor allem davor, dass ich alleine bin und hilflos. Dass ich nicht weiß, was zu tun ist oder wie ich ihr helfen kann.
Mari lag auf dem Boden im Therapieraum des Kindergartens. Ein schlimmer epileptischer Anfall. Beziehungsweise das, was die Mediziner einen »Status epilepticus« nennen: ein mehr als 20-minütiger Anfall oder eine Serie von Anfällen ohne eine echte Erholung dazwischen. Rhythmisch hat sie mit Armen und Beinen auf den Boden geschlagen, Schaum hat sich vor ihrem Mund gebildet, ihre Augen haben sich weggedreht. Um mich herum tausend Leute und ich trotzdem ganz allein. Allein mit Mari. Allein mit meinem Kind. Schluchzend habe ich über ihr gehangen und immer wieder nach André und dem Rettungswagen gerufen. Denn obwohl ich weiß, dass Mari Epileptikerin ist, obwohl ich schon diverse Anfälle mit ihr erlebt habe, bin ich jedes Mal aufs Neue so geschockt, hilflos und verängstigt, wie man nur sein kann.
Die Erklärung für die Anfälle liegt nahe: der Entzug. Zur Erklärung: Mari bekommt ein Medikament namens Pharma GABA, das sie entspannter macht. Ein Nahrungsergänzungsmittel, mit dem sie ausgeglichener und aufnahmefähiger ist. Und es lässt sie endlich durchschlafen! Leider findet bei diesem Medikament eine Gewöhnung statt. Das bedeutet, dass es nach einiger Zeit nicht mehr wirkt. Nach sechs Monaten, wenn wir Glück haben. Manchmal auch schon nach sechs Wochen. Hilfe bringt dann leider nur ein Medikamentenentzug. Ganz langsam dosieren wir das Medikament runter in der Hoffnung, dass wir Mari anfallsfrei durch diese Phase bekommen. Denn ein zu schneller Entzug löst auf jeden Fall Anfälle aus. Ist das Medikament komplett runterdosiert, folgt eine zweiwöchige Pause. Anschließend dosieren wir das Medikament ganz langsam wieder ein, so dass dann bei voller Gabe des Medikaments hoffentlich wieder der gewünschte Effekt eintritt.
Der aktuelle Entzug, so viel ist jetzt leider klar, findet trotz langsamer Herunterdosierung nicht ohne Anfälle statt. Seit dem ersten Anfall ist eine Woche vergangen. An Maris Zustand hat sich nichts geändert. Sie krampft fast täglich. Wir hangeln uns von Minute zu Stunde, von Stunde zu Tag. Immer in der Hoffnung, wir schaffen es wenigstens kurz ohne Anfall. Und ohne Valium. Denn das bekommt sie, wenn sie krampft. Oder wenn sie nachts so laut und so lange schreit, dass wir keinen anderen Weg sehen, um sie zu beruhigen. Ein Medikament, das sie ruhigstellt und gleichzeitig eine fast berauschende Wirkung auf sie hat. Und die Entzugsphase mit den Anfällen bedeutet für uns nicht nur schlaflose Nächte: Wir lassen Mari keine Sekunde aus den Augen und sind jederzeit auf Abruf. Alles dreht sich um Mari. Wir sprechen mit Ärzten, sind oft im Krankenhaus.
Auch für Maris Geschwister ist das eine Herausforderung. Oft parken wir sie bei Nachbarn und Babysittern und rasen ohne große Erklärungen davon. Wir wissen, dass das Spuren hinterlässt. Wir versuchen, das mit ihnen aufzuarbeiten. Dabei beschäftigen uns eigentlich nur Themen wie die Notfallnummer, der Notarzt und das Notfallmedikament, also Valium.
Und wie sollte es anders sein: André hat gerade so viel Arbeit wie lange nicht mehr. Ja, und Maris Geschwister haben genau jetzt Kindergartenferien. Die Einschulung unseres Sohnes steht bevor, ein Buch gilt es zu schreiben – und was ist überhaupt mit uns? Mit Shandré?
Wir haben nicht damit gerechnet, dass wir noch mal an so einen Punkt kommen. Diese Phase macht uns klar, dass wir immer mit allem rechnen müssen. Dinge, die wir über andere Angelman-Kinder gelesen und arrogant von uns weggeschoben haben – à la »So was ist uns zum Glück erspart geblieben« –, werden uns nicht erspart bleiben.
Heute Morgen bin ich aus diesem Traum erwacht, in dem Mari in einem Pflegeheim lebt. In dem ich versuche, alles zu geben, aber merke, dass ich keine Kraft mehr habe, uns vor dem Ertrinken zu retten. Wir hatten Mari abgegeben. Wir hatten Mari aufgegeben. Dazu mein Handy, das eine bestimmte Bedeutung hat für die Beziehung zwischen André und mir. Ich habe in diesem Traum so große Angst, dass das Handy nass wird. Dass es kaputtgeht.
Ich habe André davon erzählt. Der Traum ist bezeichnend für mein Leben. Für die Situation, in der ich gerade gefangen bin. In Sorge um mein Kind, dem ich scheinbar nicht helfen kann. Gleichzeitig voller Angst, meine anderen Kinder und meinen Mann aus den Augen zu verlieren. Ich bin kraftlos. Trotzdem stark und voller Liebe. Denn obwohl es noch nicht in greifbarer Nähe ist, sehe ich Licht am Ende des Tunnels.
AUGUST 2018
ANDRÉ»André! Die Shari hat gerade angerufen. Mari hat einen Anfall im Kindergarten.«
Ich stehe im Büro unseres Producers und rede mit ihm über die Abnahme der gerade abgedrehten Folgen durch RTL. Ein voller Erfolg. Ich grinse noch, als ich mich zu Sandra umdrehe, die mir diesen Satz zuruft. Ich nicke Peter, unserem Producer, zu und gehe einen Raum weiter zu unserem Disponenten. Der arme Marcel hat gerade dermaßen den Kaffee auf. Er muss drei Ausfälle von Kollegen kompensieren und kommt mit der Planung der Drehtermine nicht hinterher. In den zwölf Jahren, die ich für die Serie drehe, habe ich noch nie eine so verfahrene Disposituation erlebt. Und mein eigenes Pensum ist gerade ebenfalls so hoch, wie es selten war. Alleine heute habe ich noch acht Szenen zu drehen. »Meine Tochter hat einen Anfall und ich …« – »Fahr!«, sagt Marcel. – »Aber …«
»Fahr!« Ich bin baff. Marcel hat noch nicht einmal nachgedacht, und all der Stress und Ärger, die ihm mein Wegfahren bereiten wird, scheinen ihm in diesem Moment egal zu sein.
Ich schminke mich ab, ziehe mich um, packe meine Sachen und spiele in einer seltsamen Ruhe alles durch, was mich erwartet. Ich gehe aus meiner Garderobe und fange an zu rennen. Ich steige in mein Auto. Zugeparkt. Aussteigen und Alarm schlagen oder rangieren? Ich zittere, bleibe aber ruhig. Rangieren geht schneller. Zwei kostbare Minuten und ich habe endlich ausgeparkt. An der Schranke das nächste Hindernis. KARTE NICHT LESBAR. Das passiert zwar manchmal, ist aber schon verdammt lange her. Ich ziehe die Karte weg und halte sie wieder vor den Sensor. KARTE NICHT LESBAR. Noch mal. KARTE NICHT LESBAR. Dann raste ich aus und fluche und schreie dem mechanischen Schrankenwärter entgegen, dass er jetzt endlich die verfickte Schranke hochfahren soll. Ich wäge ab, ob ich bereit bin, die Schranke zu durchbrechen, und sage mir dann: »Was, wenn es nur ein kleiner Anfall war und alles längst geregelt ist?!« Da geht endlich die Schranke auf. Weiter zur Ampel. Rot. Natürlich. Ich schaue links, rechts. Alles frei. Der Motor heult auf und ich fahre nacheinander über zwei rote Ampeln. Immer noch zitternd, aber vollkommen fokussiert und konzentriert. Ich rufe Shari an. Sie ist relativ gefasst. »Ich weiß noch nichts. Bin gleich im Kindergarten.« Ich überschreite die Geschwindigkeit um das Doppelte. Mari hatte bisher mehr als zehn Anfälle und, warum auch immer, ich war bei JEDEM dabei. Ich konnte immer agieren. Jetzt bin ich 20 Kilometer entfernt und will so schnell wie möglich bei meinem Mädchen sein. An der Zufahrt zu unserem Dorf blockiert ein Unfall die Straße. Mit Reifenquietschen lege ich einen U-Turn hin. Alle halten mich für bekloppt. Zu Recht. Ich komme am Kindergarten an und der Notarztwagen ist bereits vor Ort. Ich renne rein und öffne die Tür zu dem Raum, in dem Mari den Anfall bekommen hat. Ich sehe Shari, die über Mari gebeugt ist. »Wie lange?«, frage ich. »Sie krampft seit fast 30 Minuten«, entgegnet Uta, ihre Einzelfallhilfe – der einzige Mensch, der Mari fast so gut kennt wie Shari und ich. »Das ist viel zu lang!« Ich spreche aus, was alle schon wissen. »Was hat sie bekommen?« »5 mg oral und vom Notarzt noch mal 15 mg …«, sagt Shari verzweifelt. »Amsterdamer?« Gemeint ist die Kinderklinik in der Amsterdamer Straße in Köln.
»Amsterdamer! Ich trage sie« antworte ich. Ich bringe Mari zum Rettungswagen und lege sie auf die Bahre.
»Fahr du mit. Ich packe das gerade nicht und fahre mit dem Auto zur Klinik«, sagt Shari. Da ist es wieder. Dieses blinde Vertrauen, Dinge schnörkellos aussprechen zu können, wie sie sind, und seine Schwächen und Stärken in kritischen Momenten richtig einschätzen zu können. Ich bleibe also bei Mari, schnalle mich an und halte ihre Hand. An diesen Anblick gewöhnt man sich wohl nie. Diesen Anblick, wenn dein Kind vor dir liegt und nicht mehr da ist. Kein Lächeln, ein kaum merkbares, flaches Atmen, die nach oben verdrehten Augen. Um es in aller Härte, mit allem Realismus zu sagen: Sie sieht aus, als sei sie tot. Ich weiß, dass sie es nicht ist, denn ich hatte das, wie gesagt, schon ein paar Mal gesehen, aber dieses Mal habe ich das unbestimmte Gefühl, dass es kein gutes Ende nehmen würde.
»Wie viel Uhr ist es?«, frage ich die...