Die Erde dreht sich bekanntlich einmal im Jahr um die Sonne. Von uns aus gesehen, scheint es aber so zu sein, dass die Sonne eine kreisförmige Bahn um die Erde beschreibt. Der Astrologie wird vielfach vorgeworfen, sie ignoriere diesen grundlegenden Unterschied. In Wirklichkeit ist er für die astrologischen Horoskopdeutungen jedoch nicht von Bedeutung.
Diesen in den Himmel projizierten Kreis nennt man »Ekliptik«. Die Ekliptik wird in zwölf gleich große Abschnitte gegliedert, denen die Namen der zwölf Stern- bzw. Tierkreiszeichen zugeordnet sind. Zwischen dem 22. Dezember und dem 20. Januar durchläuft die Sonne gerade den Abschnitt Steinbock, weswegen dieses Tierkreiszeichen auch das »Sonnenzeichen« genannt wird.
Beginnen wir jetzt mit der Betrachtung des Sonnen- oder Tierkreiszeichens, dem dieser Band gewidmet ist, um zunächst einmal herauszufinden, was denn nun »typisch Steinbock« ist.
Wie wird man ein Steinbock?
Kinder des Himmels
Wer sich Anfang August unter dem nächtlichen Himmel auf die Suche nach dem Sternbild des Steinbocks macht, braucht einen Blick über weites, ebenes Land oder von einem Berg herab. Nur so kann er tief im Süden, ganz nah am Horizont, neun bis zehn schwach leuchtende Sterne erkennen, die das Auge wie selbstverständlich zu einem massiven Dreieck verbindet. Auf einer der Dreiecksspitzen befindet sich ein Fortsatz, eine Art Horn.
Albrecht Dürer (1471–1528) wurde von der Anordnung der Sterne und dem Namen »Steinbock« inspiriert und gestaltete in seiner Abbildung des Himmels ein mächtiges Tier mit großen, schweren Hörnern, das majestätisch und selbstzufrieden auf der gedachten Linie der Ekliptik kauert. Auch im Betrachter mag sich ein Gefühl erhabener Ruhe ausbreiten: Er begegnet dem Sinnbild des Steinbocks, der über dem Leben thront.
Kinder ihrer Jahreszeit
Wenn die Sonne für die nördliche Erde ihren tiefsten Stand erreicht hat und die Nacht am längsten verweilt, beginnt die unerbittliche Zeit des Winters. Eis und Schnee regieren das Land, bannen springendes Wasser und türmen es zu bizarren gläsernen Kaskaden auf. Wie ein weicher weißer Teppich fällt der Schnee und erstickt jeden Laut. Die Luft ist unendlich klar, und das Licht der Sonne bricht sich am gläsernen Schliff des Winters. Nachts finden selbst die Sterne einen funkelnden Widerschein im Spiegel der schneebedeckten Erde.
Das Leben flieht vor dem eisigen Hauch, zieht sich tief in Wurzeln und Samen zurück. Die Tierwelt verschläft in Löchern oder Höhlen ihre Zeit, ernährt sich von der gesammelten Nahrung des Sommers oder scharrt karges Moos und Rinde vom Baum ab.
Was den Winter überdauern will, muss geschaffen sein für die kalte Jahreszeit, braucht Härte, Ausdauer und die Fähigkeit, in seinem Innersten ruhend zu verharren.
Kinder der Kultur
Mit Beginn der Steinbockzeit im Dezember feierten die Völker Mitteleuropas die geweihten Nächte. Man nannte sie auch »Rauh-« oder »Zwischennächte«. Sie entsprechen dem scheinbaren Stillstand der Sonne und dauern zwölf Tage.
Die Bräuche waren von Land zu Land verschieden, aber immer feierte man symbolisch die ewige Lebenskraft. Vielerorts schnitt man jetzt Mistel, Efeu oder Tannenzweige ab. Diese immergrünen Pflanzen galten als Träger besonders magischer Kräfte. So schrieb Cäsar in einem Reisebericht über die germanischen Druiden, dass jene die Unsterblichkeit der Seelen auch mit Hilfe von frisch geschnittenen Mistelzweigen beschworen. Im Weihnachtsfest lebt dieser Glaube fort: Der geschmückte Tannenbaum ist ein uralter heidnischer Brauch in christlichem Gewand.
In der Dunkelheit der zwölf langen Nächte, während deren die Sonne bis zu sechzehn Stunden unter dem Horizont verweilt, suchte die archaische Seele der Menschen nach Zeichen unvergänglicher Lebenskraft. Denn in den Rauhnächten hatten die Geister der Verstorbenen und andere furchterregende Kräfte besonders viel Gelegenheit, ihr Unwesen zu treiben. Man nannte sie das »Totenvolk«, »Frau Holle« und »Perchta«, das »Nachtvolk« oder »Wodans Heer und seine wilden Reiter«. Um sie zu bannen, stellte man immergrüne Bäume auf oder überließ ihnen ein Opferschaf. In Italien gibt es noch heute den Brauch, beim Weihnachtsessen ein Gedeck für eine verstorbene Seele auf den Tisch zu legen. Selbst die beliebte Weihnachtsgans unserer Zeit war früher als Opfertier gedacht, und man darf ruhig vermuten, dass den Geschenken, die man am Heiligen Abend überreicht, ein Rest magischen Glaubens innewohnt, hierdurch den Zorn bei seinen Mitmenschen zu bannen.
Unsere heutigen Bräuche zur Silvesternacht haben ebenfalls uralte Wurzeln. So nannte man die »rauhen Nächte« auch »Lostage« oder »Schlussnächte«; und da man glaubte, in dieser Zeit sein zukünftiges Glück »auslosen« zu können, warf man zum Beispiel erhitztes Zinn oder Blei ins Wasser, um aus der Form die Zukunft zu erkennen. Auch das Feuerwerk in der Neujahrsnacht beruht auf dem Glauben, durch Lärm die bösen Geister zu vertreiben.
Mit dem Licht der wiederkehrenden Sonne, die jetzt täglich etwas länger über dem Horizont verweilt, sah man in die Zukunft – und man blickte zurück: In manchen Gegenden zahlte man das Gesinde aus, gab Lob und Tadel und legte über das vergangene Jahr Rechenschaft ab: was ausgegeben und was eingenommen wurde – und was letzten Endes übrig blieb. In unserer Zeit führt man Anfang Januar die Inventur durch.
Kinder der Tierwelt
Weil der Steinbock auf der Flucht vor den Menschen in immer entferntere Regionen der Bergwelt fliehen musste, ist er in der freien Natur sehr selten geworden. Bekommt man ihn in einem Naturschutzgebiet hoch droben auf einem Felsen noch zu sehen, gewinnt man den Eindruck, er throne über dem Leben. Viele Stunden lang kann ein altes Tier unbeweglich in die gleiche Richtung starren, und sein graubraunes Fell vermischt sich allmählich mit der steinernen Umgebung. Beim leisesten Geräusch, etwa einem fallenden Stein, entwickelt der Steinbock jedoch eine faszinierende Behendigkeit: Selbst senkrecht aufragende Felsen kann er überwinden, und er riskiert halsbrecherische Sprünge über tiefste Schluchten. Es gibt Tiere von der Größe kleinerer Pferde und mit einem Geweih von über einem Meter Länge. Die Männchen und die Weibchen mit ihren Zicken leben im Sommer in getrennten Herden. Nur während der Brunftzeit vermischen sich die Geschlechter.
Bei den Steinböcken herrschen klare Verhältnisse: Der stärkste Bock steht immer über dem Rest der Herde. Und auch die anderen folgen in ihrer Aufstellung dem erkämpften Rang. Kein Tier kann seinen Stammplatz verlassen, ohne einen erbitterten Kampf zu riskieren.
Steinbockherden halten sich an der Schneegrenze auf. Im Sommer leben sie daher oberhalb der Baumgrenze, folgen im Winter dem Schnee und steigen hinunter bis in versteckte Täler.
Der Steinbock ist der König der Berge. Dieser Ruf wurde ihm nicht nur aufgrund seiner Kraft und Beweglichkeit verliehen, sondern auch, weil er über allen anderen Tieren thront und weil er von üppiger Nahrung nahezu unabhängig ist. Die meiste Zeit lebt er von Flechten und Moos. Nur in der sehr kurzen Sommerzeit der Bergwelt genehmigt er sich frisches Gras. Der Volksmund nennt ihn daher auch den »König der Kargheit« oder »des einfachen Lebens«.
Man schrieb ihm darüber hinaus die Weisheit des Alters zu. In einer Berggeschichte regiert er im Rat der Tiere und ist so alt wie die Berge selbst. Oft betrachtet man ihn als Hüter und Wächter der Bergwelt. Ein Mensch braucht Kraft, Ausdauer, Mut und darf ein karges Leben nicht fürchten, um in den Lebensraum des Steinbocks einzudringen. Dort wird ihm das erhabene Gefühl zuteil, näher am Himmel und über den anderen zu stehen.
Es zieht sie hinauf
Von Steinböcken, den Tieren, weiß man, dass sie ein innerer Antrieb immer nach oben zieht. Diese optimale Distanz zur Welt drunten schenkt ihnen Schutz und Sicherheit. Genau dies ist auch das Geheimnis von Steinbockmenschen: Sie drängen hinauf, weil sie sich oben sicherer fühlen. Es entspricht ihrer Natur. Im Grunde können sie gar nicht anders.
Ein wichtiger Aspekt ist, dass Steinböcke für das harte Leben an der Schneegrenze die besten Voraussetzungen aufweisen. Sie sind besonders widerstandsfähig gegen Kälte und Wind und extreme Futterverwerter, die wie gesagt sogar von Flechten leben können. Mit einem Satz: Sie sind mit äußerst wenig zufrieden. Steinbockmenschen besitzen im übertragenen Sinne die gleichen Fähigkeiten: Sie sind genügsam und widerstandsfähig. Oben zu sein entspricht einem tiefen Bedürfnis nach Eigenständigkeit, nach einem eigenen Platz und nach Selbstbestimmung. Im Grunde zieht es typische Steinbockmenschen hinauf, weil ihnen die »dünnere Luft« in der Höhe, die von den meisten anderen gemieden wird, besser bekommt.
Steinböcke kommen bereits mit der Fähigkeit zur Welt, unter schwierigen Bedingungen zu überleben. Aus meiner psychotherapeutischen Praxis weiß ich, dass viele Steinböcke in Familien hineingeboren werden, in denen das Leben hart und von Knappheit bestimmt ist. Ich denke beispielsweise an Klienten, die das zehnte, elfte oder einmal sogar sechzehnte Kind gewesen waren: Da wird der Lebensraum eng, und man muss vom ersten Atemzug an um Privilegien kämpfen bzw. als Ältere(r) schon früh Verantwortung übernehmen. Auch in extrem kargen Verhältnissen kommen Steinböcke zur Welt, zum Beispiel wenn Vater und Mutter gemeinsam den Lebensunterhalt verdienen müssen und sich daher wenig um ihr Kind...