Sie sind hier
E-Book

Menschen stärken

Seelsorge in der evangelischen Kirche

AutorIngo Habenicht, Kerstin Lammer, Sebastian Borck, Traugott Roser
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783641191634
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Seelsorge - die »Muttersprache der Kirche«
Seelsorge ist Kernaufgabe und Kernkompetenz der Kirche. Diese Schrift soll dazu beitragen, das Profil der Seelsorge in der evangelischen Kirche darzustellen und zu schärfen. Sie bietet Orientierung für alle, die Seelsorge in Anspruch nehmen, anbieten, organisieren oder leiten. Umfassend informiert diese Publikation über die biblische und theologische Grundlegung der Seelsorge, über Methoden, Qualifikationen und Kompetenzen in der Seelsorge, greift Strukturfragen und Entwicklungsperspektiven für die seelsorgliche Angebotspalette der Zukunft auf und nimmt notwendige strukturelle Steuerungs- und Qualitätssicherungsmaßnahmen in den Blick.
  • Ein wichtiger Beitrag für alle, die in und außerhalb der Kirche wissen wollen, was Seelsorge will und tut
  • Eine Ermutigung, die Seelsorge der Kirche in Anspruch zu nehmen


Kerstin Lammer, Jahrgang 1963, Dr. theol., Pfarrerin, abgeschlossene Weiterbildungen in pastoralpsychologischer Seelsorge, Supervision und KSA-Kursleitung sowie in systemischer Familientherapie, Supervisorin/Lehrsupervisorin (DGSv/DGfP). Berufserfahrung als Krankenhausseelsorgerin in den University of Chicago Hospitals und in The Queen's Medical Center in Honolulu, Beratungspastorin in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf, einer Einrichtung für Menschen mit geistigen Behinderungen, Leiterin der Alsterdorfer Schwesternschaft, Gemeindepfarrerin in Hamburg-Altona und Glinde, Pastoralkollegsleiterin im Haus Villigst, Schwerte, seit 2009 Vorsitzende der Ständigen Konferenz für Seelsorge in der EKD, seit 2007 Professorin für Seelsorge und Pastoralpsychologie an der Evangelischen Hochschule Freiburg.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

3. Welche gesellschaftlichen Entwicklungen fordern die Seelsorge heraus?

Befunde und Bedarfe3

(Ingo Habenicht)

3.1 Veränderte Lebenswelten schaffen veränderte Lebenslagen

Lebenslagen verändern sich, wenn Lebenswelten sich verändern. Umwälzende Entwicklungen haben Konsequenzen für die Gesellschaft und das Individuum. Seelsorge hat damit verantwortungsvoll umzugehen.

Wahlbiografien statt Normalbiografie, Veränderungen in Familien und Haushalten

Der Prozess zunehmender Individualisierung hat dazu geführt, dass an die Stelle vorgeprägter Lebensläufe, die einer »Normalbiografie« folgten, vielfältige »Wahlbiografien« getreten sind. Die klassische, bürgerliche (Klein-)Familie ist durch eine Pluralität von Lebensformen abgelöst worden. Feste Bilder lösen sich auf, neue Wertvorstellungen entstehen, Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsnotwendigkeiten nehmen zu. Der einzelne Mensch lebt mit der Chance und zugleich mit dem Risiko, die eigene Biografie selbst entwerfen und realisieren zu müssen. Seelsorge hat es deshalb zunehmend mit Menschen zu tun, die mit Identitäts-, Entwicklungs- und Entscheidungsfragen beschäftigt und deshalb auch häufig verunsichert sind; sie muss Menschen in Suchbewegungen ergebnisoffen beraten und in einer »Risikogesellschaft« stärken.

Globalisierung und Mobilität

Die Globalisierung der Wirtschaft verbindet sich für den Einzelnen mit einem Zwang zur Mobilität. Von der Bereitschaft zu Ortsveränderungen hängen in hohem Maße die Chancen auf Zugang zur Erwerbsarbeit und der Erhalt des Arbeitsplatzes ab. Familiäre und weitere private Beziehungen müssen dahinter oft zurückstehen. Seelsorge hat es dadurch zunehmend mit Menschen zu tun, die an dem Ort, an dem sie leben, nicht zuhause sind oder sich dort nicht zuhause fühlen, häufig auch den Lebensschwerpunkt wechseln. Das erschwert Zugänge zur Seelsorge über ortsgemeindliche Strukturen und erfordert andere Kontaktmöglichkeiten.

Ökonomisierung und Existenzangst

Infolge der weltweiten Ökonomisierung und des damit einhergehenden permanenten Rationalisierungsdrucks wachsen bei vielen Menschen Sorgen um die eigenen wirtschaftlichen Verhältnisse bis hin zu Existenzangst. Seelsorge wird sich also einstellen auf Menschen mit sozialen Ängsten, die sich von Armut bedroht erleben und die erfahren, dass sie auf die Umstände ihres Lebens wenig Einfluss haben.

Zunehmende Armut

Negative Begleiterscheinungen der beschriebenen Entwicklungen sind auch Gehälter unterhalb des Existenzminimums, die durch Sozialleistungen aufgestockt werden müssen, sowie eine zunehmende Armut von Teilen der Bevölkerung. Armut geht einher mit massiven Einschränkungen der gesellschaftlichen Teilhabe, mit Ausgrenzungsphänomenen und mit statistisch signifikant schlechterer Gesundheit. Seelsorge hat hier eine »Option für die Armen«. Sie muss daran arbeiten, Menschen in Armut zu erreichen, zu begleiten und zu stärken, und sich nicht einseitig auf andere gesellschaftliche Milieus zu konzentrieren.

Beschleunigung

Rationalisierungsprozesse erzeugen permanenten Veränderungs- und Beschleunigungsdruck. Die Beschleunigungsfalle hat zwei Pole, die das Individuum zu überfordern drohen: die total verplante Zeit und die restlos flexibilisierte Zeit, weil alles zu jeder Zeit überall machbar erscheint. Seelsorge bekommt es mit Menschen zu tun, die wenig Zeit haben für Muße, Pause, religiöse Betätigung oder für ein zweckfreies Gespräch. Aber auch die Kehrseite dieser Entwicklung will beachtet sein: Menschen, die aus dem Produktionsprozess herausgefallen sind und zu viel Zeit haben. Fragen nach dem Umgang mit der eigenen Lebenszeit können zu Sinnfragen und damit zu Themen seelsorglicher Gespräche werden.

Bildung und lebenslanges Lernen

Der Wandel von der Industriegesellschaft zur globalen Wissensgesellschaft sowie der Beschleunigungs- und Veränderungsdruck führen zu einer immer schnelleren »Halbwertzeit« von Wissen und zur Notwendigkeit von lebenslangem Lernen. Einmal erlernte Berufe bieten keine Sicherheit für eine lebenslange Arbeitsbiografie. Seelsorge wird damit immer mehr dem Thema der Unsicherheit allen Lebens angesichts eines weit verbreiteten tiefen Wunsches nach Sicherheit begegnen.

Entgrenzung des Berufslebens

Durch die beruflichen Herausforderungen verschwimmen oft die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben. Arbeitszyklen verlaufen in Projekten, Ergebnisse und Schnelligkeit zählen mehr als Regelarbeitszeiten. Eine zufriedenstellende Life-Balance ist für viele Menschen schwer zu finden, Burn-out ist zunehmend eine häufige Folge. Seelsorge ist herausgefordert, hier Hilfen zu Prävention und Bewältigung anzubieten.

Gesundheit

Der medizinische Fortschritt hat positive gesundheitliche Auswirkungen und eine längere Lebenserwartung der Menschen zur Folge. Zugleich lässt sich ein Zwang zu Gesundheit und Fitness feststellen, um den Anforderungen der Leistungsgesellschaft gewachsen zu sein. Der Zuwachs an medizinisch-technischen Möglichkeiten bringt außerdem organisationsethische Fragestellungen und eine Reihe individualethischer Problemlagen mit sich. Seelsorge begegnet daher einem hohen und spezialisierten Gesprächsbedarf z.B. im Bereich der Pränataldiagnostik, der Behindertenmedizin oder im Palliativbereich. Seelsorge muss zunehmend Menschen bei ihren eigenen, persönlich verantworteten ethischen Urteilsfindungen, aber auch im Umgang mit Leistungsdruck und Gesundheit unterstützen.

Medialisierung von persönlichen Beziehungen

Aufgrund neuer technischer Entwicklungen wie Mobilfunk und Internet verändert sich das Kontakt- und Sozialverhalten von Menschen im beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Raum. Soziale Netzwerke und elektronische Medien ermöglichen neue Formen von gesellschaftlicher Teilhabe und Zugang zu Informationen. Sie bedeuten zugleich eine Zunahme an Druck, beständig und überall »online« sein zu müssen. Seelsorge will auch in diesen Medien kompetent und verlässlich präsent sein. An der Telefonseelsorge zeigt sich beispielhaft, wie so etwas gelingen kann, hier obendrein verbunden mit einer deutlichen Stärkung des Ehrenamts. Seelsorge bedenkt auch, welche Folgen ausschließlich medial vermittelte Kommunikation für Menschen hat: ein Verlust an Körperlichkeit, ganzheitlichen Begegnungen und Bewegung. Da der Zugang zu diesen Medien abhängig ist von ökonomischen und Bildungsfaktoren, behält Seelsorge auch die im Blick, die sich dieser Medien nicht bedienen können oder wollen.

Demografie und sozialer Nahraum

Eine immer höhere Lebenserwartung der Menschen bei gleichzeitig geringer Geburtenrate sowie nicht Demografie-fest strukturierte soziale Sicherungssysteme wie Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung stellen hohe Ansprüche an die nachfolgende Generation. Immer mehr ältere Menschen werden medizinische und pflegerische Versorgung, aber auch Seelsorge benötigen. Zugleich werden immer weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter vorhanden sein, um diese Tätigkeiten auszuüben. Die Folgen dieses »Fachkräftemangels« beginnen bereits sichtbar zu werden, sowohl im medizinischen und pflegerischen Bereich als auch in der pastoralen und seelsorglichen Versorgung.

Die Versorgung älterer Menschen in stationären Einrichtungen der Altenpflege wird daher abnehmen zugunsten wohnortnaher, bürgerschaftlich organisierter Selbstversorgungssysteme, unterstützt durch ambulante Dienste. Damit gewinnt die »Seelsorge vor Ort« zunehmend wieder an Bedeutung, verbunden mit steigenden Anforderungen an ihre Kompetenz, Verlässlichkeit und vernetzte Präsenz. Auf die Seelsorge in den Ortskirchengemeinden kommt dabei verstärkt die Aufgabe zu, auf ältere und alte Menschen in ihrem Einzugsgebiet zuzugehen. Sie ist herausgefordert, Kompetenzen sowohl für Menschen mit Demenz als auch für eine quartiersbezogene, nachbarschaftlich orientierte und lokal vernetzte Arbeitsweise zu finden, die Menschen in ihrer Selbstbefähigung stärkt.

Alter

Allein im 20. Jahrhundert stieg die Lebenserwartung in Deutschland um etwa 30 Jahre. 2050 werden die über 60-Jährigen 40 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Für die Seelsorge ist die Frage zu beantworten, welche Formen von Seelsorge Menschen benötigen, um den Übergang vom Erwerbsleben in die aktive Phase des Ruhestands und dann den Ruhestand selbst in seinen verschiedenen Phasen zu bewältigen. Zudem gilt es attraktive Möglichkeiten zu schaffen, um Menschen in der aktiven Ruhestandsphase zunehmend als ehrenamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger zu gewinnen und zu qualifizieren.

Migration

In Deutschland steigt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund kontinuierlich an; Deutschland ist ein Einwanderungsland. Menschen unterschiedlicher Kulturen, Ethnien und Religionen leben zusammen. Immer noch und immer wieder führt das auch zu Ausgrenzungen, Fremdheitsreaktionen und Konflikten. Die gesellschaftliche Aufgabe, ein gutes Zusammenleben aller zu gestalten, wird auch künftig bewältigt werden müssen.

Für haupt-, neben- und ehrenamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger bedeutet das, dass sie sowohl interkulturelle als auch interreligiöse Kompetenz erwerben müssen. Damit kann Seelsorge einen wichtigen Beitrag zu notwendigen gesellschaftlichen Inklusionsprozessen leisten.

3.2 Zur künftigen Rolle der Kirchen in der Gesellschaft

Auch die Situation der Kirchen ist Veränderungen unterworfen, was...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Einführung - Religion - Philosophie

Anleitung zum Philosophieren

E-Book Anleitung zum Philosophieren
Selber denken leicht gemacht Format: PDF

Mit diesem Buch werden Sie Ihren Intelligenzquotienten steigern. Sie lernen die wichtigsten Philosophen aus Ost und West privat kennen, werden mit philosophischen Gedanken über Themen wie…

Nietzsche

E-Book Nietzsche
Eine philosophische Einführung (Reclams Universal-Bibliothek) Format: PDF

Günter Figal nähert sich dem Philosophen Nietzsche von außen, von seiner Biographie und von den Positionen her, die die Nachwelt ihm zugewiesen hat, um den Leser sodann behutsam, anregend und…

Benedictus de Spinoza. Eine Einführung

E-Book Benedictus de Spinoza. Eine Einführung
Röd, Wolfgang - philosophische Texte; Ethik-Unterricht; Analysen; Erläuterungen - 18193 - Reclams Universal-Bibliothek  Format: PDF

Spinozas Philosophie ist vor allem (rationale) Metaphysik. Auch seine Ethik, die Psychologie der Affekte, die Lehre von Recht und Staat und seine Religionsphilosophie beruhen auf metaphysischen…

Benedictus de Spinoza. Eine Einführung

E-Book Benedictus de Spinoza. Eine Einführung
Röd, Wolfgang - philosophische Texte; Ethik-Unterricht; Analysen; Erläuterungen - 18193 - Reclams Universal-Bibliothek  Format: PDF

Spinozas Philosophie ist vor allem (rationale) Metaphysik. Auch seine Ethik, die Psychologie der Affekte, die Lehre von Recht und Staat und seine Religionsphilosophie beruhen auf metaphysischen…

Immanuel Kant

E-Book Immanuel Kant
Vernunft und Leben (Reclams Universal-Bibliothek) Format: PDF

Die ebenso originelle wie fundierte Studie ermöglicht einen neuen Zugang zu Kant, indem sie 'Vernunft und Leben' in einen systematischen Zusammenhang stellt. Aus dem Inhalt: Die Programmatik des…

Das Unendliche

E-Book Das Unendliche
Mathematiker ringen um einen Begriff Format: PDF

Philosophen und Theologen haben über das Unendliche nachgedacht. Doch die wahre Wissenschaft vom Unendlichen ist die Mathematik.Rudolf Taschner gelingt es, diesen zentralen Begriff auch dem…

Das Unendliche

E-Book Das Unendliche
Mathematiker ringen um einen Begriff Format: PDF

Philosophen und Theologen haben über das Unendliche nachgedacht. Doch die wahre Wissenschaft vom Unendlichen ist die Mathematik.Rudolf Taschner gelingt es, diesen zentralen Begriff auch dem…

Philosophiegeschichte

Format: PDF

Wie eine Geschichte der Philosophie zu schreiben ist, ist nicht nur selbst ein systematisches Problem der Philosophie, eine entsprechend verfasste Philosophiegeschichte hat Konsequenzen für die…

Paris - Wien

E-Book Paris - Wien
Enzyklopädien im Vergleich Format: PDF

Eines der zentralen Anliegen des 'Wiener Kreises' ist heute aktueller denn je. Es bestand darin sichtbar zu machen, wie ganz unterschiedliche, weit auseinanderliegende Bereiche wissenschaftlicher…

Weitere Zeitschriften

Arzneimittel Zeitung

Arzneimittel Zeitung

Die Arneimittel Zeitung ist die Zeitung für Entscheider und Mitarbeiter in der Pharmabranche. Sie informiert branchenspezifisch über Gesundheits- und Arzneimittelpolitik, über Unternehmen und ...

Atalanta

Atalanta

Atalanta ist die Zeitschrift der Deutschen Forschungszentrale für Schmetterlingswanderung. Im Atalanta-Magazin werden Themen behandelt wie Wanderfalterforschung, Systematik, Taxonomie und Ökologie. ...

aufstieg

aufstieg

Zeitschrift der NaturFreunde in Württemberg Die Natur ist unser Lebensraum: Ort für Erholung und Bewegung, zum Erleben und Forschen; sie ist ein schützenswertes Gut. Wir sind aktiv in der Natur ...

Baumarkt

Baumarkt

Baumarkt enthält eine ausführliche jährliche Konjunkturanalyse des deutschen Baumarktes und stellt die wichtigsten Ergebnisse des abgelaufenen Baujahres in vielen Zahlen und Fakten zusammen. Auf ...

Computerwoche

Computerwoche

Die COMPUTERWOCHE berichtet schnell und detailliert über alle Belange der Informations- und Kommunikationstechnik in Unternehmen – über Trends, neue Technologien, Produkte und Märkte. IT-Manager ...