2. Kapitel
Thema Herausforderung:
Pro-bleme? Ja, bitte!
Lust auf ein Spiel?
Dann schauen Sie bitte einmal, wie viele Quadrate Sie in der folgenden Abbildung sehen.
Haben Sie die Antwort? Und die Antwort lautet 16? Ach nein, Sie korrigieren sich ja schon selbst und sagen 20, weil Sie inzwischen auch die vier Quadrate gesehen haben, die die vier Viererblocks bilden. Oder 21? Schließlich ist die ganze Abbildung selbst ein Quadrat. Oder vielleicht 22? Denn die vier Quadrate in der Mitte bilden ihrerseits ja wieder ein Quadrat.
Jetzt ist aber Schluss? Von wegen, jetzt geht’s erst richtig los! Werfen Sie doch mal einen Blick auf das Kreuz in der Mitte, und schon kommen wieder ein paar Quadrate hinzu.
Jetzt sind wir bei 30 Quadraten, und bei 30 hören die meisten Spieler auf. Doch schauen Sie mal auf die Stellen, wo die Linien sich kreuzen, und sehen Sie ganz genau hin. Entdecken Sie da nicht auch winzig kleine Quadrate, die ungefähr so aussehen?
Vergrößertes Detail:
Quadrat im Schnittpunkt der Linien
Von diesen Miniquadraten gibt es immerhin 25 in der Abbildung – macht mit den bereits identifizierten Quadraten insgesamt 55. Wie, das ist Ihnen immer noch nicht genug? Weil Sie die inneren und äußeren Begrenzungslinien der Kästchen entdeckt haben?
Und schon haben wir wieder viele Quadrate mehr. Was natürlich nicht heißt, dass dies alle sein müssen. Es sind noch jede Menge weiterer Quadrate in der Abbildung versteckt. Wenn Sie Lust haben, danach zu suchen, hier ein kleiner Tipp: Vergessen Sie nicht, die Quadrate mitzuzählen, die Sie mit Ihrer Vorstellungskraft in die Abbildung hineinprojizieren.
Wird da vielleicht Einspruch laut? Dass das ja alles fauler Zauber sei? So hätten wir nicht gewettet – Quadrate an den Kreuzungspunkten oder Begrenzungslinien oder gar in der Phantasie …
Solcher Einspruch wäre mehr als verständlich. Aber: Wer hat eigentlich gesagt, wo wir Quadrate entdecken dürfen und wo nicht?
Grenzen im Kopf
Fazit des Quadrate-Spiels: Ob ich 16, 20 oder unendlich viele Quadrate entdecke – die Grenze ist genau da, wo ich sie mir setze.
Die einzige Regel bei dem Spiel lautete: Gezählt werden nur die Quadrate, also Rechtecke mit vier gleich langen Seiten. Wie groß oder wie klein diese Quadrate sind, ob man ihre Umrandungen gleich erkennen kann oder ob man für ihre Existenz etwas dickere Trennungslinien annehmen muss – all das stand ganz in meinem Belieben. Kein Mensch hat mir hier Vorschriften gemacht. Höchstens ich mir selbst.
Die Grenze, an der ich mir die Zähne ausgebissen habe, war die Grenze, die ich in meinem Kopf gezogen habe: »Ich darf nur die offensichtlichen Quadrate mitzählen.« Doch kann ich mich trösten: Damit stehe ich nicht allein. Wir alle sind fixiert auf Grenzen, und wenn uns kein anderer welche setzt, dann setzen wir sie uns selbst.
Was ist erlaubt?
Bleibt die Frage: Warum gehen wir immer davon aus, dass uns etwas einschränkt? Auch wenn wir objektiv gar keinen Einschränkungen unterliegen? Die Antwort ist ebenso trivial wie folgenschwer: Weil wir auf Einschränkungen programmiert sind.
Alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist – so die unterschwellige Annahme –, ist verboten. Und rums! sind wir blockiert, sobald wir vor einer Aufgabe stehen, und verwerfen Chancen zur Lösung, noch bevor wir sie überhaupt ins Auge gefasst haben. So wie die zögerlichen Neuankömmlinge im himmlischen Empfangssaal, die bei ihrem Freudensprung glaubten, weder ein Trampolin benutzen noch ein Loch in die Decke sprengen zu dürfen, obwohl der liebe Gott doch gar nichts dagegen hatte und ihre einzige Grenze der Himmel über ihren Köpfen war.
»Hebe den Blick und du siehst keine Grenzen«, heißt es in dem Kultbuch Die Möwe Jonathan. Wenn wir die Freiheit haben, unsere eigenen Annahmen zu bilden, warum gehen wir nicht von der Annahme aus, dass wir auch frei in unseren Handlungsmöglichkeiten sind? Was hindert uns, den Spieß umzudrehen und – statt zu sagen: »Alles, was nicht erlaubt ist, ist verboten« – einfach das Gegenteil anzunehmen: »Alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt!«?
Vom Umgang mit Problemen
Das Quadrate-Spiel ist nur ein Spiel, aber lehrreich. Denn es zeigt uns auf simple Weise eins: Je entschlossener wir Gebrauch von der Freiheit machen, anzunehmen, was wir wollen, desto leichter fällt es uns, eine Lösung zu finden. Wenn uns tausend Wege offen stehen, dann führt uns wenigstens einer zum Erfolg. Wenn nicht mit Sicherheit, so doch mit einiger Wahrscheinlichkeit.
Unser Verhalten beim Quadrate-Spiel ist typisch für unseren ganz alltäglichen Umgang mit Problemen. Wenn wir ein Problem haben, dann fragen wir uns in der Regel nicht, wie etwas trotzdem geht, sondern aktivieren alle Energie, um den Nachweis zu führen, warum etwas nicht geht. Dabei würde nicht selten schon ein Teil dieser Energie ausreichen, um zu beweisen, dass es geht. Und statt in Betracht zu ziehen, was uns bei der Lösung helfen könnte, sammeln wir Argumente, warum und wieso wir das Problem partout eben nicht lösen können.
Drängt sich die Frage auf: Was ist ein Problem?
Hassliebe
Hier fängt die Sache an, problematisch zu werden. Unser Verhältnis zu Problemen ist nämlich selbst problematisch – eine klassische Hassliebe: Einerseits sind uns Probleme zuwider; andererseits aber mögen wir Probleme so sehr, dass wir sie mit Freuden suchen.
Wie bitte? Wir suchen Probleme? Und ob! Jedes Spiel – zum Beispiel das Quadrate-Spiel, aber auch jedes Kreuzworträtsel oder Tennis- beziehungsweise Fußballmatch – ist nichts anderes als ein Haufen ungelöster Probleme. Und trotzdem geben wir uns, freiwillig und mit großer Leidenschaft, allen möglichen Spielen hin.
Denn so komisch es klingt: Wir Menschen brauchen Probleme, haben ein Urbedürfnis danach, können gar nicht ohne sie sein. Und das gleich aus mehreren Gründen.
Pro-bleme
Wenn ich ein Problem habe, habe ich den Salat – denke ich zumindest. Doch trifft diese Sicht der Dinge wirklich zu? Um die Frage zu beantworten, muss ich mir nur mal ein Leben ohne Probleme vorstellen. Abgesehen von der unerträglichen Langeweile, die dann zweifellos herrschen würde, was wären die Folgen?
Die Antwort hat es in sich: Ohne Probleme wäre ich nicht lebensfähig. Sobald ich mit der kleinsten Schwierigkeit konfrontiert würde, müsste ich die Segel streichen. Weil ich ja nicht gelernt hätte, wie ich damit umgehen soll. Jemand, der noch nie ein Problem hatte, kann keine Probleme lösen, so wenig wie jemand, der noch nie einen Fußball gesehen hat, Fußball spielen kann. Beides muss man eben lernen.
Probleme machen mich fit, Probleme zu lösen. Wenn Probleme plötzlich anstehen oder auf mich einstürzen, kann ich zwar meistens gut auf sie verzichten. Würde ich aber ein Leben ohne alle Probleme führen, wäre ich bald dem Untergang geweiht. Denn im wirklichen Leben – anders als in der Vorstellung – gibt es früher oder später eben doch mal ein Problem. Und dann habe ich wirklich eins.
Ein Problem ist darum ein »Pro-blem«; es ist pro, also für mich: mein ganz persönlicher Entwicklungshelfer, der mir hilft zu wachsen.
Das Gleichnis vom Schmetterling
Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um! Und wer Probleme meidet, wird früher oder später Opfer seiner Probleme. Dieses niederträchtige Prinzip ist leider keine Erfindung kompliziert denkender Menschen, sondern eine Beobachtung, die sich bereits im Reich der Tiere anstellen lässt.
Wenn ein Schmetterling das Licht der Welt erblickt, hat er es erst einmal ziemlich schwer. Um zu schlüpfen, muss er sich unter Aufbietung all seiner Kräfte ein Loch in den Kokon bohren: sein persönliches Tor zum Leben.
Das brachte Wissenschaftler auf eine Idee: Sie wollten einem Versuchs-Schmetterling den Eintritt ins Dasein erleichtern und zwar auf denkbar simple Weise. Damit das Tierchen sich nicht plagen musste, nahmen sie ihm die Arbeit ab und vergrößerten künstlich das Loch in dem Kokon.
Für den Augenblick konnte der Schmetterling von Glück reden – er schlüpfte ohne jedes Problem. Doch genau damit fingen seine wirklichen Probleme an, und zwar für den Rest seiner Tage. Denn so mühelos er auf die Erde gelangt war, so schwer lastete er nun auf ihr: Er konnte sich nicht entfalten – und war darum unfähig zu fliegen!
Warum konnte er nicht fliegen? Ganz einfach: Beim natürlichen Schlüpfen, beim mühsamen Bohren durch den Kokon, bildet ein Schmetterling gerade die Muskeln aus, die er zum Fliegen braucht. Nimmt man ihm aber die Probleme beim Schlüpfen, nimmt man ihm zugleich die Fähigkeit zu fliegen.
Prosit!
Und was hat das mit uns Menschen zu tun? Mehr, als wir glauben!
Angenommen, ich habe mit achtundvierzig Jahren mein erstes größeres Problem – es haut mich um! Habe ich dagegen bereits als Fünfundzwanzigjähriger schon ein Dutzend größerer Probleme gelöst, dann haut mich so schnell nichts mehr um. Das zumindest kann ich schließen, wenn ich auf mein Leben Rückschau halte: Nach der Lösung eines Problems war ich immer weiter, als ich war, bevor ich das Problem hatte.
Was Probleme betrifft, unterscheiden wir uns also nicht besonders von den Schmetterlingen in ihren Kokons. Auch in unserer eigenen Entwicklung erweisen sich Probleme immer wieder als Pro-bleme, als...