Ein Spaziergang nach Syracuse
Mit Seume durch Upstate New York
Der „Spaziergang nach Syrakus“, den Johann Gottfried Seume im Jahr 1802 unternahm, führte den Dichter von Leipzig über Prag und Wien, Rom und Neapel nach Sizilien und von dort über Mailand und Paris zurück nach Hause. Neun Monate war er unterwegs. Sein Buch mit gleichem Titel erschien 1803 und machte ihn berühmt. Ihm sind etliche Passagen für diesen Text entnommen, ohne dass sie gekennzeichnet wurden. Sie zeigen, dass die Erfahrungen des Reisens über Kontinente und Epochen hinweg einander gleichen, man muss nur die Namen und Ereignisse austauschen. Die Wanderung von Rome nach Syracuse im amerikanischen Bundesstaat New York hat drei Tage gedauert.
Vorige Woche machte ich den Gang, den ich hier erzähle.
Rome
Ich schnallte in Rome meinen Tornister, und wir gingen. Dabei gab die Karawane guter gemütlicher Leutchen des Orts keineswegs mir Geleite; im Gegenteil. Ich begleitete sie – über die Aschenbahn eines Sportplatzes. Wir liefen also im Kreis. Ich für ein paar Minuten nur, ehe die wirkliche Reise beginnen würde, sie hingegen, zu Hunderten und Aberhunderten, vierundzwanzig Stunden lang.
Sie taten es für einen guten Zweck, und man hätte sich nicht wundern müssen, hätte auf ihren T-Shirts gestanden, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Stattdessen war darauf „Relay for Life“ zu lesen: Staffellauf fürs Leben. Das ist der Titel einer Aktion der American Cancer Society, mit der Geld für die Krebsforschung und -behandlung gesammelt wird. Einer Aktion aber auch, mit der sich die Beteiligten Gewissheit besorgen, nicht allein zu sein. Jeder Bürger Romes, der einen Angehörigen durch die Krankheit verloren hat, und ebenso jeder, der den Krebs hat besiegen können, hatte am Abend zuvor im Oval der Arena eine Kerze angezündet. Am Ende brannten sechstausendsiebenhundert Lichter.
Diese Menschen waren im Übrigen die einzigen Wanderer, die mir im Laufe der Reise begegneten. Allein ist man jedoch selbst in Amerika als Fußgänger immer nur für kurze Zeit. Und dass, wer geht, im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr sieht, als wer fährt, das stimmt selbst dort, auch wenn man bisweilen anderes hört – nämlich dass sich Amerika am besten und vielleicht überhaupt nur vom Fahrersitz eines Autos aus begreifen ließe.
Rome liegt nicht am Ende der Welt, sondern zentral im Bundesstaat New York und damit im Ballungsraum Ostküste. So wirbt die lokale Handelskammer. Der Wirtschaft hilft es wenig. Seit mit dem Ende des Kalten Kriegs der Airforce-Stützpunkt am Stadtrand aufgegeben wurde und viereinhalbtausend Familien weggezogen sind, fielen die Immobilienpreise, und die Infrastruktur ist unterfordert. Etliche Lokale und Läden haben geschlossen, und in den Wohnstraßen stecken reichlich „Zu Verkaufen“-Schilder in großen Vorgärten vor großen Villen unter riesigen Bäumen, die wohl noch aus der Zeit stammen, als man sagte, ein Eichhörnchen könne von Ast zu Ast von Maine bis New Orleans hüpfen, ohne je den Boden zu berühren. Nur Amerika-Flaggen sieht man noch mehr.
Sie flattern vor jedem Haus, sie sind an vielen Autos befestigt, und am Grab von Francis Bellamy hat man gleich mehrere aufgezogen. Er ist der berühmteste Sohn der Stadt. Im August 1892 textete er den Fahnenschwur „Pledge of Allegiance“, den früher die Schulkinder in Amerika jeden Morgen vor der ersten Unterrichtsstunde aufsagen mussten. Aber so außerordentlich berühmt muss er nicht einmal mehr in seiner Vaterstadt sein, denn in einem Lokal behaupteten die Gäste am Abend überzeugt, Bellamy habe die Nationalhymne „Star Spangled Banner“ geschrieben. Das Unwissen ändert freilich nichts daran, dass in diesen Tagen der Patriotismus besonders demonstrativ zur Schau gestellt wird. Transparente an den Hauswänden fordern, die Truppen zu unterstützen, und in einem Fenster hing ein Foto von Osama Bin Laden, darüber der Satz: Meine Steuern wurden für Atomwaffen ausgegeben – Nun setzt sie auch ein!
Es ist eine seltsame Fügung, dass Rome, ein Verlierer der weltweiten Friedensbemühungen, nun umso mehr versucht, von Amerikas ältestem Krieg zu profitieren. Im Ortszentrum, das auf Fotografien aus den zwanziger Jahren noch einen ziemlich großstädtischen Eindruck macht und wo damals zwischen hohen Gebäuden im Stil des Art déco sogar Straßenbahnen gefahren sind, hat man vor mehr als einem Vierteljahrhundert einen ganzen Straßenblock freigeschlagen, um Fort Stanwix zu rekonstruieren. Es spielte im „1777er Krieg“, wie er hier heißt, keine ganz unwesentliche Rolle. Ein General Peter Gansevoort hat von dort aus die Armee der Briten samt einiger verbündeter Indianerstämme so lange in Schach halten können, bis die für den Unabhängigkeitskrieg wichtige Schlacht von Saratoga gewonnen war. Die Stadt ehrt ihn mit einer überlebensgroßen Bronzestatue. Den ernsten Blick hat er auf die andere Straßenseite gerichtet, wo aus Stein ein Soldat an die Gefallenen des Orts aus allen Kriegen mahnt.
Das Fort, in dem mehr als vierhundert Mann stationiert waren, wird vom Nationalpark Service betrieben, und im Besucherzentrum wird wohl seit der Eröffnung 1976 viel über Freiheit und Patriotismus deklamiert, das liegt in der Natur des Orts sowie der Sache und muss nicht ausgeführt werden. Die Ranger tragen Kleidung, wie man sie vor einem Vierteljahrhundert getragen haben mag, und spielen den Cicerone oder andere Rollen. Einer führte Besucher durch die karg eingerichteten Stuben und Schlafsäle, ein anderer saß vor einem Blockhaus und stopfte in der Sonne Socken. Ein Gefühl für das Leben früher in diesem Außenposten der Zivilisation, zwei Tagesmärsche entfernt von der nächsten Siedlung, mochte sich aber nicht einstellen, da sich unmittelbar hinter den Palisaden die nüchterne Fassaden eines Parkhauses und die spitze Silhouette einer Kirche in die Höhe recken.
So machte der Angestellte im Museum der historischen Gesellschaft auch wenig Anstalten zu verbergen, welche Lösung er vorgezogen hätte. Man hätte besser Fort Bull wieder aufbauen sollen, sagte er. Es lag ein wenig außerhalb Romes, am Ufer des Wood Creek, der sich an Sümpfen vorbei- und durch Wälder hindurchschlängelt und der früher die Verbindung zu den Großen Seen war. Auf dem Hudson von New York aus bis Albany hinauf, von dort auf dem Mohawk River in die Region des heutigen Rome, das damals „The Carry“ hieß, weil man die Kanus ein paar Kilometer weit über Land zu ebenjenem Wood Creek tragen mußte: Das war der einzige Verkehrsweg in den Norden und Westen, bis 1825 der Erie-Kanal eröffnet wurde, also wiederum eine Wasserstraße, die erst Jahre später von der Eisenbahn und noch später von Autostraßen abgelöst wurde. Pfade, Wege und Pisten gab es hingegen nie. Die Epoche des Fußgängers hat man hier, wie fast überall in den Vereinigten Staaten, übersprungen.
Heute in dieser Gegend zu wandern heißt deshalb, auf dem ehemaligen Treidelpfad am Kanal entlangzulaufen oder auf Asphalt. Die mit Kopfschütteln und Bedenken wiederholt ausgesprochene Warnung in Coffee Shops und Läden, der Weg nach Syracuse sei voller Gefahren, bezog sich deshalb vor allem auf den Verkehr – und nur dann und wann sagte jemand noch: „There are crazy people out there.“ Aber ich sah unterwegs fast nur brave Leute, die in ihren Gärten Unkraut zupften, den Rasen mähten und ihre Büsche in akkurate Form schnitten, wie auf einem Postkartenidyll des amerikanischen Malers Grant Wood. Und so viele Autos waren nun nicht auf diesen kleinen, gewundenen Landstraßen unterwegs, die sich der Topographie unterwerfen und nicht umgekehrt, und die sogar meist eine recht breite Standspur haben. Was außerdem schert einen die Sorge einer Kellnerin, wenn hinter der Theke ein Schild hängt: „The deadline for complaints was yesterday“ und auf einer Urne aus Steingut steht: „Ashes of Problem Customers.“
Es ist ein seltsam überheblicher Humor, der sich hier offenbart, und der damit zu tun haben mag, dass sich gerade die kleinen Unternehmer für das Rückgrat des Landes halten, für diejenigen sogar, die Amerika groß gemacht haben – genau so, wie es ihnen Präsident George W. Bush von Plakaten in den Postämtern herunter zuruft. Und man könnte meinen, sie entnähmen daraus den Anspruch, sich gleich ihre ganz eigene Welt mit eigenen Gesetzen zu schaffen. Dass er sich das Recht vorbehalte, nicht zu bedienen, wen er nicht bedienen will, darauf verweist in Amerika noch jeder Wirt mit einer Notiz am Eingang. Hier stand zudem: „My policies don’t have to make sense. I’m the boss.“
Das Wetter war freundlich und heiter, fast einen Hauch zu heiß, und ich wandelte ruhig die Straße hinaus aus dem Ort, der rasch hinter mir blieb und sich nicht übertrieben mit Hamburger-Läden und Motels in die Länge zog. New London Road hieß die Straße, und eben dorthin führte sie, und ich konnte noch nicht ahnen, dass New London nur eine Tankstelle ist.
Links und rechts reichte mal der Wald bis an die Straße, mal reichten Weiden bis an den Horizont, der weit war in dieser flachen Landschaft. Kühe aber tauchten nur ein einziges Mal auf, gemalt auf einen Briefkasten aus Zink. Die Tiere stünden im Stall, sagte man mir. Denn man habe erkannt, dass sie durch diese Maßnahme mehr Milch gäben. An den Anblick riesiger leerer Weiden aber gewöhnt man sich selbst nach einigen Tagen kaum, schon gar nicht in einem Landstrich, der nicht zuletzt von der Milchindustrie lebt.
Kühe tauchten in diesem Landstrich, der nicht zuletzt von der Milchindustrie lebt, nur ein einziges Mal auf: gemalt auf einem Briefkasten.
Das Museumsdorf unweit der Stelle, an der man am...