2 Sonder- und Heilpädagogik zwischen Grundlegung und Kritik
2.1 Geschichte der Heilpädagogik
Die Geschichte der Heilpädagogik kann man als Geschichte der immer expliziteren und differenzierten Wahrnehmung von Problem- bzw. Notsituationen im pädagogischen Arbeitsfeld begreifen.
Die geschichtliche Entwicklung des Erziehungs- und Bildungswesens für Menschen mit Behinderung steht in enger Verbindung mit deren Stellung in Gesellschaft, Religion und Kultur und mit den Sichtweisen in den verschiedenen Epochen. Ähnlich wie heute lassen sich bei der Betrachtung historischer Ereignisse verschiedene Sichtweisen (Medizin, Psychologie, Anthropologie, Pädagogik, Didaktik) beobachten. In den historischen Darstellungen wird immer wieder von Menschen gesprochen, die aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Abweichung und Beschränktheit bzw. Beeinträchtigung eine spezielle Rolle – eine Sonderrolle – spielten (vgl. Speck 1979, 57). Menschen mit geistiger Behinderung wurden bspw. als Narr zum Spielzeug und Gespött gesehen, dann wieder als Dämon gefürchtet, aber auch – vereinzelt – als „Wesen unter dem besonderen Schutze Gottes“ (Disselhoff 1857, 5). Meyer (1973, 20) spricht gar von religiöser Verehrung des „Schwachsinnigen“1 in der Schweiz.
Die Einstellungen waren gegensätzlich. Dies zeigt sich auch daran, dass z.B. im alten Sparta missgebildete und schwer schwachsinnige Kinder aus der Gesellschaft entfernt und in Schluchten geworfen wurden, während Seneca im alten Rom empfahl, den Schwachsinnigen ins Haus aufnehmen und ihm eine menschenwürdige Behandlung angedeihen zu lassen (Kirmsse 1969, 452–453).
2.1.1 Bedeutsame frühe pädagogische Ansätze
Eines der ersten Beispiele für die institutionalisierte Betreuung von Menschen mit Behinderung ist die Schule für Gehörlose, die 1770 von Abbé de l’Epée in Paris gegründet wurde. Acht Jahre später schuf Samuel Heinicke in Leipzig die erste deutsche Gehörlosenschule mit dem Namen „Chursächsisches Institut für Stumme und mit anderen Sprachgebrechen behaftete Personen“.
Nach mehreren privat finanzierten Versuchen, Lernfortschritte bei blinden Kindern und Jugendlichen zu erzielen, wurde es Valentin Haüy 1785 vom französischen Staat gestattet, eine Schule für blinde Kinder zu eröffnen. Durch ihn wurde Blindenunterricht europaweit bekannt, was wiederum zu zahlreichen Neugründungen führte.
Ende des 18. Jahrhunderts hat Pestalozzi in Zusammenhang mit seinen Erziehungsversuchen auf dem Neuhof (1777 u. 1778) unter anderem auch zwei Kinder mit geistiger Behinderung in seine Obhut genommen, denen er offensichtlich helfen konnte, ein relativ freies Leben zu führen. Durch die Aufnahme verwahrloster Kinder wollte er deren Aussicht auf berufliche Zukunft und auf Ehestand verbessern.
Insbesondere durch die für das Zeitalter der Aufklärung typische rationale Grundhaltung wurde der Mensch als Verstandes- und Gefühlswesen betrachtet und ihm dadurch ein Entwicklungspotential zugeschrieben, das es zu fördern galt. Dieses Menschenbild entsprach auch dem Pestalozzis, der dieses durch seine Tätigkeit auf dem Neuhof in die Tat umzusetzen versuchte. So sollte seiner Ansicht nach jedem Menschen die Möglichkeit gegeben werden, sich gemäß seinen Kräften, Anlagen und Bedürfnissen frei zu entfalten (vgl. Kapitel 9).
Sehr genaue Angaben über einen ersten gezielten Versuch, einen „schwachsinnigen“ Jungen zu erziehen, stammen von Jean Itard (1774–1838), einem Taubstummenlehrer und Arzt an einem Taubstummeninstitut in Paris. „Victor, das Wildkind vom Aveyron“ (Itard 1965), ein im Walde aufgewachsener völlig verwilderter Junge, der psychiatrisch als „unheilbarer Idiot“ galt, wurde von Itard ab 1800 mit pädagogischen Mitteln betreut. Die Besonderheit Itards, der in der Tradition des Sensualismus2 stand, lag in der für die damalige Zeit erstaunlichen Annahme, dass die Ursache für das verwilderte Verhalten des Jungen in sozialer und pädagogischer Vernachlässigung zu suchen und dass deshalb durch gezielte Übungen, Zuwendung, sinnliche Erziehung und soziale Eingliederung auch eine Förderung der Intelligenz zu erreichen sei. Seine – wenn auch begrenzten Erfolge – gaben Itard prinzipiell Recht.
Durch seine Erkenntnisse wurden spätere Ansätze beeinflusst, wie beispielsweise die seines Mitarbeiters Edouard Seguin (1812–1880), einem Taubstummenlehrer und Arzt, der 1839 Leiter einer „Idiotenschule“ in Paris war und 1846 ein erstes Lehrbuch über die Behandlung der Idiotie schrieb.
Zur Schulung der „schwachen Sinne“ entwickelte Seguin Spiel- und Lernmaterialien, die später in modifizierter Form Eingang in Maria Montessoris Material zur Wahrnehmungsförderung fanden.
Nachdem die Erforschung des „Cretinismus“ – eine Unterfunktion der Schilddrüse, die als Folge von Jodmangel entsteht und zu einer geistigen Behinderung führen kann – gegen Ende des 18. Jahrhunderts intensiviert wurde, begann auch die Suche nach medizinisch und pädagogisch relevanten Möglichkeiten zu dessen Heilung.
So entstand 1816 in Hallein bei Salzburg die von dem Privatlehrer Gotthard Guggenmoos (1782–1838) gegründete „Kretinenschule“, die neben Taubstummen auch „schwachsinnige“ Kinder aufnahm. Da sich der Unterricht jedoch insbesondere bei den Taubstummen im Vergleich zu den „reinen“ Taubstummenanstalten als weniger erfolgreich erwies, verloren die Geldgeber und Unterstützer recht bald das Interesse am Konzept von Guggenmoos, weshalb dieser die Anstalt 1836 wegen mangelnder Unterstützung wieder schließen musste.
Zu nennen ist auch der Lehrer Traugott Weise (1793–1859), der 1820 eine „Betrachtung über geistesschwache Kinder in Hinsicht der Verschiedenheit, Grundursachen, Kennzeichen und Mittel auf leichte Art durch den Unterricht beizukommen. Mit besonderer Rücksicht auf die Pestalozzi’sche Rechenmethode“ schrieb. Weise betont darin die Heterogenität der Kinder – wozu auch die Erkenntnis gehört, dass es „geistesschwache“ Kinder gibt. Zudem ist Weise der Auffassung, dass ein Mensch zu seiner Menschwerdung der Bildung bedarf und niemand die Entwicklung eines Kindes vorhersehen kann (vgl. Ellger-Rüttgardt 2008, 153). Weise setzte sich 1820 für eigene Lehranstalten für Geistesschwache ein, „deren Menschheit oft mit Füßen getreten wird“, und die in den üblichen Schulen, „wie in einer Folterkammer“ (§ 4) leiden.
2.1.2 Anstaltsgründungen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Mit der Errichtung von Anstalten kann man von einer ersten relativ geschlossenen Epoche in der Fürsorge für Geistesschwache sprechen, wobei fundamentale christliche Impulse ebenso wie medizinisch und pädagogisch wissenschaftliche und humanitäre Ansätze und Einrichtungen eine wesentliche Rolle spielten.
Da hier nicht auf sämtliche Einzelheiten eingegangen werden kann, soll beispielhaft die Pionierarbeit des Schweizer Arztes Johann Jakob Guggenbühl (1816–1863) genannt werden, der 1841 auf dem Abendberg bei Interlaken eine „Heilanstalt für Kretinen und blödsinnige Kinder“, Europas „erste Kolonie für Heilung des Kretinismus“, errichtete, die zum „Wallfahrtsort für Menschenfreunde“ wurde und recht bald weltweite Beachtung fand.
Das Problem Guggenbühls bestand jedoch in seinen zu hohen Erwartungen: „Der Mensch ist geboren zur Herrschaft über die Natur, und auch der Cretin, der mit dem menschlichen Aussehen die lebendige Seele verloren, und von Jedermann verlassen in dumpfen Kerkern, auf Misthaufen und in Viehställen sein elendes Dasein hinschleppt, wird sich wieder erheben auf die menschliche Bahn“ (Guggenbühl 1997, 104).
Seine Vorstellung, den Kretinismus zu heilen und die von der Gesellschaft Ausgeschlossenen wieder zu integrieren, scheiterte und brachte ihm Hohn und den Vorwurf der Scharlatanerie ein. „Für alle Zeit steht es jedenfalls fest, daß G. seine Versuche ehrlich meinte, daß er aber andererseits die Erfolge derselben überschätzte. Daß er absichtlich zu täuschen suchte, ist keineswegs bewiesen. Wohl aber ließ er es vielfach an der nötigen Sorgfalt fehlen“ (Kirmsse 1911, 692f.).
Carl-Wilhelm Saegert (1809–1879) errichtete 1845 als Direktor der Königlichen Taubstummenanstalt Berlin eine „Heil- und Bildungsanstalt für Blödsinnige“ und verfasste die Schrift „Die Heilung des Blödsinns auf intellectuellem Wege“. Saegert bezog sich in seiner Spracherziehung auf einen Stufengang, der ihm aus der Taubstummenpädagogik bereits bekannt war und betrachtete die physiologischen Aspekte in der Erziehung als ebenso zentral wie der bereits genannte Arzt und Taubstummenlehrer Edouard Seguin (vgl. Möckel 2007, 101).
Zahlreiche weitere Anstalten wurden in dieser Zeit gegründet, die teilweise bis heute bestehen; zu nennen wären beispielsweise die:
- „Blödenanstalt Neuendettelsau“ bei Ansbach, gegründet 1854 durch Pfarrer Wilhelm Löhe (1808–1872).
- „Pflegeanstalt für Schwachsinnige“ in Rieth, später in Stetten/Remstal, gegründet 1849 durch den Arzt Georg Friedrich Müller (1804–1892);
- „Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana“ in Baden bei Wien, gegründet 1856 durch den Pädagogen und Arzt Jan Daniel Georgens und den Pädagogen Heinrich Marianus Deinhardt;
- Alsterdorfer Anstalten bei Hamburg, gegründet 1863 durch den Pastor Dr. Heinrich Matthias Sengelmann (1821–1899);
- Anstalt für Epileptische in Bethel bei Bielefeld, ab 1872 geleitet durch Dr. Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910).
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