FRÜHE ZÄHMUNG
Während der letzten ca. 12.000 Jahre haben wir Menschen gelernt, alle wichtigen Ressourcen zu kontrollieren – darunter vor allem die Nahrungsquellen. Damit ging auch eine tiefgreifende Veränderung der uns umgebenden Tierwelt einher; wir haben Aussehen, Lebensweise und Verhalten der Tiere durch planvolle Züchtung an unsere Bedürfnisse angepasst. Alle heutigen Haus- und Nutztiere befanden sich zuerst im Wildzustand, wurden aber im Laufe von Jahrtausenden, Jahrhunderten oder gar nur wenigen Jahrzehnten gezähmt und nach unseren Bedürfnissen umgeformt. Der Nutzen war und ist vielfältig, etwa die Verfügbarkeit von Rindern zum Schlachten oder Melken, von zahmen Pferden zum Ziehen und Reiten, Hunden als Wächter und Jagdgefährten mit feinen Sinnen. Träge, fette Schweine im Koben und wollreiche Schafe in großen Herden unter Obhut des Hirten, Hühner mit hoher Legeleistung hinter dem Haus … sie alle waren uns nützlich und sind sinngemäß auch „Nutztiere“. Die verschiedenen Tierfamilien wurden zu verschiedenen Zeiten an vermutlich mehreren Orten domestiziert. Trotz unermüdlicher Forschungen auf verschiedenen Wissensgebieten ändern sich unsere Erkenntnisse dazu immer wieder – das Thema bleibt spannend.
(Foto: Arbeitsgemeinschaft zur Zucht Altdeutscher Hütehunde, A. A. H.)
Ein Stumper als idealer Hütehund für Schafe
VON DEN RASSEN
Die Haustierwerdung ging allmählich vor sich und veränderte die Stammformen bzw. setzte veränderliche Formen sogar voraus (zahme, schwache oder kindliche Individuen, stark variable Fressgewohnheiten usw.). Vermutlich besaßen schon die vorgeschichtlichen Völker lokale Naturrassen oder selektierte Kunstrassen. Man wählte vermutlich absichtlich die geeigneten Tiere zur Gewöhnung oder Zähmung aus und veränderte diese weiter, mit dem Ziel, nützliche und immer leichter zu zähmende Tiere zu erhalten. Domestikation ist ein lang andauernder, progressiver Prozess. Die meisten Wildformen wurden durch die Haustierwerdung zuerst rasch kleiner und dann in jenen Eigenschaften „lukrativer“, welche der Mensch verwerten konnte (Körperkraft, Fleisch, Milch, Wolle, Eier etc.). Neben Verhaltensänderungen kam es bald zu deutlichen Farb- und Fellvarianten. Es entstanden regionale Zweckformen, die sich in Aussehen, Leistung und Verhalten mitunter deutlich unterschieden. Die Vererblichkeit dieser Merkmale stieg in den jeweiligen Verbreitungsgebieten markant an, sodass man von Schlägen oder Typen sprechen kann, die in Analogie zur „Art“ zu geografischen Rassen wurden. Diese waren vielseitig und gut angepasst und konnten mit den lokal verfügbaren Mitteln zu ausreichenden Leistungen gebracht werden.
Die Griechen, Römer, Kelten und Germanen besaßen unterscheidbare Rassen von Rindern, Pferden und Hunden, die wir aus der Literatur kennen. ARISTOTELES hinterlässt interessante, nicht immer reale Beschreibungen, JULIUS CÄSAR zeigt sie uns im kulturellen Zusammenhang. Mittelalter und Renaissance bringen nur wenig Fortschritt, zu stark greift die Kirche bremsend in die Wissenschaft ein. In der Renaissance berichtet Markus FUGGER im „Traktat von der Gestütterey“ über die systematische Pferdezucht und weist damit auf die Unterscheidung von Pferderassen hin. Der Zucht von eigentlichen Nutztieren ohne hohes Prestige wird literarisch eher selten Bedeutung gezollt – es waren eben lokale oder regionale „Nützlinge“, Teile des bäuerlichen Bestandes und damit kaum erwähnenswert.
Seit dem 17./18. Jh. kam es zur konsequenten Herausbildung der Kultur- und Zuchtzielrassen. Man führte die lokalen Schläge (Landschläge) zusammen und setzte gezielte Verbesserungsmethoden ein, wie Hybridzucht, Inzucht oder Selektion. Während zunächst noch Form- und Farbrassen im Blickpunkt tierzüchterischen Interesses standen, wurden mit der Entstehung der Vollblutzucht und den Züchtungen Robert BAKEWELLS (1725– 1795) und des Grafen Alexej ORLOW (1737–1809) sowie der Einführung von Leistungsprüfungen des Zuchtmaterials die ersten Leistungsrassen geschaffen. Vor allem die Pferdezucht wirkte von Anfang an auf alle Haustierzuchten anregend und befruchtend. Die von BAKEWELL geschaffenen bzw. verbesserten Haustierrassen Shire-Pferd, Longhorn-Rind, Leicester-Schwein und -Schaf sowie das Vollblutpferd spendeten nicht nur ihre Gene – sie waren auch Ideenträger für den Zuchtziel-Gedanken. Klare Zuchtziele, Beherrschung der Zuchtverfahren, Zuchtwahl, Ausmerzung der Minusvarianten bis hin zur Inzucht und Inzestzucht, sorgfältige Zuchtbuchführung, Leistungsprüfungen sowie darauf beruhende scharfe Zuchtauslese wurden im 18. und 19. Jh. als Zuchtverfahren anerkannt, angewendet und nachgeahmt. Spätere Autoren wie Charles DARWIN (1809–1882) denken und schreiben schon frei und konstruktiv über Zoologie und Tierzucht, ohne ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse durch religiöse Dogmen zu stark einzugrenzen.
Eine sehr klare und umfassende Definition des Begriffes „Rasse“ gibt der bekannte Hippologe Jasper NISSEN in seinem dreibändigen Werk „Enzyklopädie der Pferderassen“ (Kosmos, 1998):
„Mit dem Begriff Rasse bezeichnen wir alle Tiere einer Art, die sich durch gleiche Erbanlagen und damit Entwicklung gleicher Eigenschaften unter ähnlichen Milieubedingungen vom Rest der Art unterscheiden und sich aufgrund dieser Erbanlagen zu einer Population zusammenfassen lassen. Rassen entstehen durch Selektion in einer bestimmten Richtung und durch isolierte Vermehrung. Es ist eine Sache der Übereinkunft, des Herkommens, der Zweckmäßigkeit, manchmal auch des Zufalles und der Willkür, nach welchen Kriterien man Tiere derselben Art unter einem Rassebegriff zusammenfasst. Derartige Zusammenfassungen erfolgen nach ökologischen oder morphologischen Merkmalen, nach bestimmten Rassekennzeichen, wie zum Beispiel Farben, nach Verbreitungsgebiet zu Lokalrassen oder so genannten geographischen Rassen, nach physiologischen und nach psychischen Fähigkeiten, nach Leistungsanlagen oder nach Abstammung, in der Regel jedoch nach mehreren Kriterien.
Grundlage und Ursprung aller heutigen Rassen sind die Naturrassen, bei deren Entstehung der Einfluss des Menschen noch gering oder nicht vorhanden war. Aus den Naturrassen gehen die so genannten Landrassen hervor. Bei deren Herausbildung kommt es zu einer zunächst mehr zufälligen, dann jedoch immer gezielteren Einflussnahme durch den Menschen. Natur- und Landrassen haben viele Jahrhunderte lang, teilweise bis heute, eine wichtige Rolle im Leben der Völker gespielt. Sie sind dadurch charakterisiert, dass sie ideal an Klima, Futtergrundlage, Boden und Parasiten ihrer Umwelt angepasst sind. Sie zeichnen sich aus durch Breite der Reaktionsfähigkeit, durch vielseitige Leistungsanlagen, Erbanlagenvielfalt, Unspezialisiertheit, Erhalt der natürlichen Instinkte und große Modellierbarkeit in der Hand des Züchters. Je nach dem Milieu, dem sie entstammen, handelt es sich in der Regel um Tiere der kleinen Umsätze und der größeren Anpassung. Sie sind kleiner und haben einen geringeren Nährstoff- und Wasserbedarf als die Intensivrassen, sind in ihren Futter- und Haltungsansprüchen extensiv, haben einen geringeren Energieumsatz und sind weniger empfindlich für Klimaschwankungen und Mangelsituationen. Ihre Futterverwertung ist meist besser als die der Züchtungsrassen (hochgezüchteten Leistungsrassen, Anm. des Autors). Landrassen sind eifrige Futtersucher und Fresser. Sie pflegen Notzeiten, vor allem futter- und wasserarme Zeiten, besser zu überstehen. Die Haustierzucht hat sich häufig die von der Natur vorselektierten Rassen zunutze gemacht und weiterentwickelt. Die Erbanlagen derartiger, aufgrund der natürlichen Auslese entstandenen Rassen sind oft durch die ganze Entstehungsgeschichte einer Kulturrasse spürbar und zu verfolgen. Die Natur- und Landrassen stellen ein Reservoir für Erbanlagen dar, die in manchen Leistungsrassen durch Spezialisierung verlorengegangen sind, und können zu deren Regeneration beitragen.“
Saaser Mutten (Foto: ProSpecieRara)
Man muss sich auch im Klaren sein, dass nicht hinter jeder Rassezucht ein edles Motiv steht. Bei den meisten so genannten Nutztieren sind die Ziele recht eindeutig, nämlich eine Steigerung des Nutzens, sei er Milch, Wolle, Fleisch, Federn, Eier o. Ä. Bei vielen Rassen der Kategorie Haustiere kommen andere Motive zum Tragen und führen u. U. zu mindestens ebenso sinnlosen Qualzuchten wie bei den Nutztieren. Beispiele seien hier Hunderassen, die nur mehr durch Kaiserschnitt gebären können, oder Hunde oder Katzen besonderer Färbung, die taub geboren werden. Zwischenformen sind die iberischen Kampfrinder, die ohne ihre grausame Verwendung im Stierkampf mangels wirtschaftlicher Rentabilität längst ausgestorben wären. Hier haben typische Nutztiere (Fleischrinder) nur mehr einen pervertierten Nutzen in Schaukämpfen, werden aber dennoch als solche empfunden, jedoch völlig anderen Selektionskriterien unterworfen (Aggression statt Fleischqualität). Bei den seltenen Haustieren/Nutztieren stehen...