Geschichten, Legenden, Aberglaube und Nützliches
ALLSEITS BEKANNT
Der Schweizer Kräuterpfarrer Johann Künzle (1857–1945) schreibt in seinem wundervollen kleinen Büchlein, „Chrut und Uchrut“: „[…] ich habe viele Stadtleute getroffen, die ausser der Brennnessel keine einzige Pflanze kennen, – ’s ist wöhrli so – aber dafür in Spitzen, Fransen, Korsetten und Parfümereien bewandert sind.“ Es ist heute nicht viel anders. „Welche Wiesenblumen fallen Ihnen spontan ein?“ – eine Frage, die ich vor Kräuterführungen oft stelle und die nahezu immer gleich beantwortet wird.
Die meisten Befragten kommen nach drei Pflanzen bereits ins Schleudern und Löwenzahn, Gänseblümchen und Brennnessel sind die am häufigsten genannten Pflanzen. Wobei Letztere gar keine Wiesenblume ist. Sie ist eher in feuchten Wäldern, an Ufern gedüngter Flüsse und Bäche und auf Unkrautfluren zu finden, da sie eine typische Ruderalpflanze ist. Ruderal leitet sich von dem lateinischen „rudus“ ab, was so viel wie Schutt oder Ruinen bedeutet, und das wiederum verweist auf die Nähe zum Menschen und Orte, die er geschaffen hat.
DIE FRÜHEN KONTAKTE MIT DEM MENSCHEN
Die Brennnessel erweckt fast den Eindruck, als würde sie dem Menschen „nachlaufen“. Dieser Eindruck täuscht nicht. Da sie stickstoffreiche und gedüngte Böden liebt und keine Probleme mit stark überbeanspruchten Untergründen hat, sind vom Menschen besiedelte Orte für sie geradezu ideal. Organische Abfälle durch die Tierhaltung, menschliche Fäkalien und Essensreste bieten der Brennnessel Stickstoff im Überfluss. Unsere Vorfahren dürften deswegen bereits recht früh mit dieser Pflanze in Kontakt geraten sein. Und tatsächlich lässt sich mit Hilfe archäologischer Funde eine intensive Nutzung der Brennnessel in früheren Zeiten belegen. So weiß man heute, dass die Textilfasern der Steinzeit Bast, Binsen und vor allem Brennnesselfasern waren. Auch fand man in Gräbern mit menschlichen Überresten verschiedene Heilkräuter, die den Verstorbenen in der jenseitigen Welt hilfreich sein sollten. Darunter befanden sich auch Brennnesselfasern und Brennnesselsamen. Und da unsere Vorfahren so ziemlich alles auf ihre Essbarkeit hin untersucht haben dürften, kann man davon ausgehen, dass die Brennnessel auch auf ihrem Speisezettel gestanden hat.
Mittlerweile ist diese wehrhafte Pflanze dem Menschen nahezu um die ganze Welt gefolgt. Lediglich in der Antarktis gibt es keine Brennnesselart. Das Verhältnis unserer Vorfahren zu dieser sehr nützlichen Pflanze war somit sicher ein anderes als das der heutigen Menschen. In den seltensten Fällen gestattet man der Brennnessel heute einen Platz im Garten. Sie wird niedergemäht, sooft es nur geht, damit sich niemand an ihr brennt. Aber gerade diese Wehrhaftigkeit rückte die Brennnessel für unsere Vorfahren in die Nähe eines ihrer bedeutendsten Götter.
DER DONNERNDE, WOLLÜSTIGE HIMMELSGOTT UND SEINE PFLANZE
Jeder ist bestimmt schon einmal unbeabsichtigt mit einer Brennnessel in Berührung gekommen. Der blitzartig sich ausbreitende heiße Schmerz bleibt dauerhaft in Erinnerung. Die Brennhaare der Nesseln weisen eine verkieselte Spitze mit einer Sollbruchstelle auf, die bei Berührung sofort abbricht und das scharfkantige Haar zurücklässt. Wenn sich dieses in die Haut eines Tieres oder Menschen bohrt, gelangt eine Mischung aus Serotonin, Acetylcholin, Ameisensäure, Histamin und Natriumformiat in die Wunde und damit in den Körper. Eine schmerzhafte Quaddelbildung ist die Folge.
Interessanterweise ähnelt das Gift der Brennnessel eher dem Gift von Tieren als dem von anderen Pflanzen. Es verwundert nicht, dass eine Pflanze, die mit Hilfe kleiner „Keile“ blitzartige Schmerzen verursacht, von den keltogermanischen und slawischen Stämmen einem ihrer Hauptgötter, dem Gott Donar, geweiht war. Donar ist der Herr des Gewitters, der mit seiner Waffe, einem Donnerkeil, die Blitze auf die Erde schleudert. Man glaubte, dass er dabei keilförmige Steine in den Boden fahren ließ. Diese Donnerkeile kann man auch heute noch finden. Es sind zwar nicht die Keile Donars, sondern entweder die fossilen Innenskelette eines ausgestorbenen Kopffüßers oder steinzeitliche Steinkeile. Für unsere Vorfahren waren es aber die Donnerkeile eines ihrer höchsten Götter. Die Ähnlichkeit der Brennhaare der Brennnessel mit diesen Keilen und der heiße, schnelle Schmerz, der wie ein Blitz den Körper durchfährt, ließen keinen Zweifel daran, wessen Geschöpf die Brennnessel sein musste. Noch heute zeugen einige Volksnamen der Brennnessel von dieser göttlichen Geschichte. So etwa die Namen Donnernessel oder Dunnernettel.
Der polternde Gott Donar war aber auch als ein lustvoller ganzer Kerl und ordentlicher Zecher berühmt. Er galt deswegen als Schirmherr über Met, Bier und Bierkräuter. Dieses Ansehen teilt auch die ihm zugehörige Pflanze, die Brennnessel. In England wird heute noch das bekannte Nettle Beer gebraut und getrunken (ein Rezept findet sich im Buchabschnitt „Alte und neue Rezepte für den gesunden Gaumenschmaus“). Es galt und gilt als besonders anregend, stimulierend und fruchtbar machend.
In ländlichen Gebieten war es zudem früher Brauch, unlustigem Vieh, das sich vermehren sollte, die Genitalien mit Brennnesseln einzureiben. Die stark durchblutende Wirkung erhöhte die Lustgefühle. Manche Menschen setzen die Brennnessel auf diese Weise ein. Die sogenannte Brennnesselurtikation ist allerdings Geschmacksache. Im Rheinischen sagte man deswegen aber von einem mannstollen Mädchen, „Dat let och en de Brennnessle!“ (Das lag auch an den Brennnesseln!).
Auch die Samen der Nessel spielen eine Rolle in Sachen Liebe. Bereits in der Antike setzten Ärzte Brennnesselsamen für die feurige Liebe ein und in mittelalterlichen Klöstern waren sie genau aus diesem Grund streng verboten. Auf Bauernhöfen ist es heute noch üblich, an Hühner Brennnesselsamen zu verfüttern, um damit die Produktion von Eiern zu erhöhen und besonders schöne gelbe Eidotter zu erhalten. Ein gesundheitlicher Nebeneffekt dieser Fütterung soll der bessere Schutz vor Durchfallerkrankungen beim lieben Federvieh sein.
Nicht nur den Samen und den Blättern wurde Lust- und Potenzsteigerung nachgesagt. Auch die Wurzeln der Brennnessel wurden ans Vieh verfüttert, um deren Trächtigkeit zu erhöhen. Als Tee genossen, gelten sie als Stimulans für Männer, da die Inhaltsstoffe der Brennnesselwurzel wie männliche Sexualhormone (Phytoandrogene) wirken. Sie werden deswegen in der Volksmedizin auch bei männerspezifischen Gesundheitsstörungen im höheren Lebensalter eingesetzt.
DIE BRENNNESSEL ALS ZAUBERKRAUT
Nahezu alle stacheligen oder dornigen Pflanzen* galten aufgrund ihrer Wehrhaftigkeit als antidämonisch. So auch die Brennnessel. Ein Amulett mit der wehrhaften Nessel sollte gegen üble Nachrede oder Verzauberung, das sogenannte Verschreien, helfen. Für ein wirksames Amulett benötigte man ein stacheliges, Schmerzen verursachendes Brennnesselblatt, einen Strohhalm möglichst vom Bett einer Wöchnerin und die Feder eines Hahns, die ein Überbleibsel aus noch früherer Zeit ist, als dieser noch ein gängiges Opfertier bei Zauber gegen das Böse und Dämonische war. So ausgestattet, konnte man jeden Dämon in die Flucht schlagen und jede üble Nachrede an sich abprallen lassen.
Aber auch Tiere, Nahrungsmittel und sogar ganze Felder mussten vor dem bösen Blick oder bösem Zauber geschützt werden. Wenn die Kühe plötzlich weniger Milch gaben oder Hühner keine Eier mehr legten, dann konnte das nach damaliger Auffassung nicht mit rechten Dingen zugehen. Derselben Ansicht war man, wenn sich die Milch plötzlich nicht mehr buttern oder säuern ließ. All diese Vorkommnisse waren ein ganz klarer Fall für die antidämonische Brennnessel.
Wer Kühe, Hühner oder Schweine hält, der kann ein Bündel Brennnesseln in den Stall hängen. Das soll gegen alles Böse helfen. Sicher ist sicher. Und wer am Gründonnerstag, dem ehemaligen Tag des Gottes Donar (in jüngerer Zeit der Donnerstag vor Ostern, in älterer Zeit der Tag in der Osterwoche, die mit dem Ostermontag beginnt), ein Büschel Brennnesseln pflückt und dieses im Haus aufhängt, der nutzt die Fähigkeit, die diesen besonderen Nesseln zugesprochen wird. Es soll das Haus wirksam vor Blitzschlag schützen.
Noch 1902 gab es einen kuriosen Rechtstreit bezüglich der Zaubereigenschaft der Brennnessel, Milch vor dem Sauerwerden zu bewahren. Eine Milchhändlerin aus Berlin wurde der Lebensmittelverfälschung bezichtig und von einem Konkurrenten angeklagt, weil sie an einem heißen Sommertag Brennnesseln in ihre Milchbottiche gesteckt hatte.
Sie gab an, dass die Nesseln...