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Alte Texte in neuen Kontexten

Wo steht die sozialwissenschaftliche Bibelexegese?

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl412 Seiten
ISBN9783170291805
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis44,99 EUR
Das leitende Thema dieses Bandes ist die in den 1970er Jahren in der Bibelwissenschaft einsetzende soziale und kulturelle Wende (social and cultural turn). Sie stellt eine der wichtigsten Innovationen der wissenschaftlichen Erforschung des Alten und Neuen Testaments im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert dar. Der einseitig auf theologische Ideen und herausragende Individuen verengte Fokus der traditionellen Exegese wird bewusst geweitet. Die biblischen Texte werden in ihren sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Kontexten gedeutet, durch die sie geprägt wurden. Die sozialwissenschaftliche Bibelauslegung ermöglicht so ein vertieftes Verständnis zahlreicher biblischer Aussagen. In den einzelnen Beiträgen zu Themen und Texten v. a. des Neuen Testaments zeigen international führende VertreterInnen dieser Forschungsrichtung die Leistungsfähigkeit dieser Methodik, wobei sowohl soziologische und sozialgeschichtliche als auch ethnologische und kulturanthropologische Zugänge vorgestellt werden.

Prof. em. Dr. Wolfgang Stegemann, Augustana-Hochschule Neuendettelsau; Prof. Dr. Richard E. DeMaris, Valparaiso University, Valparaiso, Indiana.

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Leseprobe

Gabriella Gelardini


Religion, Ethnizität und Ethnoreligion


Die Entstehung eines Diskurses innerhalb deutschsprachiger historischer Jesusforschung1


Einleitung


Noch 1974 konnte der renommierte deutsche Neutestamentler Ferdinand Hahn erklären, dass Jesus „nicht bereit war, als Jude jüdisch zu leben im Sinne des damaligen jüdischen Selbstverständnisses, gleich welcher Schattierung“. Er hätte vielmehr einen „Konflikt“ mit den Repräsentanten des Judentums in seiner Zeit ausgetragen, der „eine grundsätzliche Bedeutung hatte und die Fundamente des jüdischen Glaubens, vor allem das Gesetzesverständnis, betraf“2. Fast genau zweihundert Jahre früher hatte Gotthold Ephraim Lessing mit der Edition der „Fragmente eines Ungenannten“ die genau gegenteilige Behauptung in die Welt gesetzt und damit – jedenfalls nach Albert Schweitzer – die Geschichte der historischen Jesusfrage überhaupt erst in Gang gesetzt.3 Lessings anonymer Autor, später mit dem Hamburger Deisten Hermann Samuel Reimarus identifiziert, argumentierte, Jesus „war … ein geborener Jude und wollte es auch bleiben“4, und „dass Jesus die Jüdische Religion in keinem Stücke abschaffen, und statt derselben eine neue einführen wollte“5. Unter offensichtlicher Anspielung auf Martin Luthers berühmte Schrift, Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei, hinterfragte Reimarus sowohl die orthodoxe christologische Glaubenslehre der Anhypostasie (wonach der „Gottessohn“ jenseits der göttlichen keine eigene menschliche Person aufweise) als auch das Rapprochement der modernen Theologie mit der historischen Hermeneutik. Wenn Jesu menschliche Natur – freilich existierte für Reimarus keine göttliche Natur Jesu, wie sie das christliche Dogma postulierte – im Blick auf Geburt, Nationalität und Religion jüdisch war, konnte der Angriff auf die christliche Sicht von Jesus als dem Urheber und Stifter des Christentums kaum radikaler sein.

Die deutschsprachige protestantische Theologie sah sich ihrer historischen Jesusfrage wegen vor ein Dilemma gestellt. Denn seit ihren Anfängen durch Reimarus hatte sie sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass Jesus mehr als beiläufig ein Jude war. Das entsprach freilich weder Protestantischer Orthodoxie noch Liberaler Theologie, welche sich die historische Kritik bereits angeeignet hatte. Wenn der historische Jesus ein Jude und nichts als ein Jude war, war das protestantische Konzept von Jesus als einem heroischen und genialen Lehrer, wie auch einem freien und freilich männlichen Individuum ernsthaft infrage gestellt.6 Angesichts des verzerrten Bildes von den Juden, ihrer sozialen Herabsetzung und der Vorenthaltung gleicher bürgerlicher Rechte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, wird schnell ersichtlich, was für einen Anstoß es erregen musste, Jesus zu einem Juden zu erklären und ihm infolgedessen die Gründung des Christentums abzusprechen. Erwähnenswert ist dabei auch, dass dem vorherrschenden Bild von Juden eine antijüdische Geschlechtskonstruktion einkodiert war, nach der jüdische Männer als effeminiert und zum Führen eines heroischen Lebens als unfähig erachtet wurden, wobei ihre Umkehrung freilich auch auf jüdische Frauen Anwendung fand.7 Juden ihrerseits rangen um Emanzipation und Integration in die zivile Gesellschaft, und Nichtjuden wie Lessing unterstützten ihren Anspruch auf gleiche Zivilrechte. In einem seiner Bühnenstücke stellte Lessing sogar einen Juden dar, der „auf dem Niveau der aufgeklärten Menschen“ und dessen Verhalten bemerkenswerterweise „in scharfem Kontrast zu dem seiner nichtjüdischen Figuren“ stand.8

Wie Hans Liebeschütz in einer luziden Studie zeigen konnte, kam dem antiken Judentum in deutscher historischer Forschung zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine herausragende Bedeutung zu, nicht zuletzt deshalb, weil historische Bibelkritik sich mit den unbestreitbaren „Zusammenhänge(n) mit der jüdischen Welt“9 – aus der die christliche Religion hervorgegangen war – auseinandersetzen musste. Bevor Lessings anonymer Autor ihre Fundamente erschütterte, war die übereinstimmende Antwort gegenüber der offensichtlichen Kohäsion Jesu (und seiner Jünger) mit antikem Judentum, diese Verbindung zu marginalisieren. Jesus „akkomodierte“ bloß seine Lehre an seine zeitgenössische jüdische Hörerschaft. Das Judentum jedoch war nicht die Essenz oder Natur seiner Religion, sondern nur die äußere Schale, wie Johann Salomo Semler (1725–1791) und andere anführten.10

Daher hatte sich bereits vor Reimarus eine Spannung zwischen dem historischen Jesus und dem Judentum etabliert. Um nun die theologische Kontrolle über die historische Hermeneutik zu erlangen, lösten Gelehrte diese Spannung auf, indem sie Jesu „Religion“ (oder „Kultur“) teilweise oder gänzlich gegen seine „Ethnizität“ (oder „Nationalität“) ausspielten, wenngleich auf zwei charakteristische und unterschiedliche Weisen. Einerseits wurde der historische Jesus zunächst als Gestalt konstruiert, deren Religion entweder mit (jüdischer) Ethnizität kollidierte oder diese transzendierte, wodurch die Ethnizität zum verzichtbaren Aspekt seiner Identität, zum bloß äußeren Faktor degradiert wurde. Andererseits, als im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert religiös-historische Forschung sich mehr oder minder die „Jüdischkeit“ von Jesu Religion eingestehen musste, verschob sich das Muster von (christlicher) Religion versus (jüdische) Ethnizität Jesu zu einem Muster von (christlicher; transethnischer) Religion versus (jüdischer) Ethnoreligion (einschließlich derjenigen des historischen Jesus).

In diesem Artikel beginne ich mit gegenwärtigen Debatten zur Terminologie sowie zur umstrittenen Anwendung der Kategorien „Religion“ und „Ethnizität“ auf die antiken Quellen. Ich werde mich kurz zu Diskursen über kollektive Identität antiker Ioudaioi in den Arbeiten verschiedener Forscher, einschließlich denen von Shaye J. D. Cohen, Steve Mason und David Goodblatt, äußern. In folgenden Abschnitten werde ich zur Begründung meiner Hauptthese charakteristische Beispiele anführen. Zunächst behandle ich Reimarus, nach dessen Meinung der historische Jesus sowohl in religiöser als auch ethnischer Hinsicht ein Jude war. Danach untersuche ich zwei Beispiele von Reaktionen auf diese Ansicht, die dem Muster „Religion versus Ethnizität“ folgen, namentlich am Beispiel von Johann Gottfried Herder und Ferdinand Christian Baur. Der vierte Abschnitt handelt knapp von Julius Wellhausen und Rudolf Bultmann; beide erachteten den historischen Jesus mehr oder minder widerwillig als Juden, sowohl religiös als auch ethnisch. Sie trennten ihn aber infolge dieser Auffassung von der christlichen Religion, Wellhausen über das „Evangelium“ und Bultmann über das „Kerygma“. Hier ist es auch angebracht, von einer Überschattung der historischen Jesusfrage durch die Kontroverse zwischen theologischem Selbstverständnis und den Herausforderungen des modernen Historismus zu sprechen. Dies war offensichtlich der Hintergrund der sogenannten Zweiten Frage nach dem historischen Jesus, die unter Schülern Bultmanns ihren Anfang nahm. Ich werde darlegen, dass insbesondere Ernst Käsemanns Position in diesem Disput vom Erbe Liberaler Theologie und antijüdischen Ressentiments kontrolliert war. Der letzte Abschnitt behandelt schließlich die Dritte Frage nach dem historischen Jesus.

„Religion,“ „Ethnizität“ und „Ethnoreligion“ – einige Bemerkungen zur Terminologie


Wie das englische Wort Judaism meint auch das deutsche „Judentum“ die jüdische Religion in modernem Sprachgebrauch. Der Begriff beinhaltet jedoch auch die aktuelle und historische Performanz jüdischer Kultur oder Religion („Jüdischkeit“) und jüdischer Kollektivität („Judenheit oder Judenschaft“). Der Begriff bezeichnet demnach den religiösen als auch den kulturellen Ausdruck von Juden und ihrer Konstitution als Kollektiv, Volk oder Nation. Daher verwischt der deutsche Sprachgebrauch potentiell auch die Unterscheidung zwischen einer Zugehörigkeit zu den Juden, dem jüdischen Volk oder der jüdischen Nation, also dem ethnischen Kollektiv, und einer Zugehörigkeit zum Judentum als einer kulturellen Identität, die mehrheitlich als spezifisch religiöses System verstanden wird. So ist es möglich, von Jesus als einem Juden zu sprechen, als einer Person, deren Abstammung...

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