Auf ruhigen Straßen nach Nashik
Kaum zu glauben, aber in Indien gibt es einsame Straßen und kleine, intakte Dörfer. Auf unserer Nelles-Landkarte mit dem vielversprechenden Maßstab 1:1500000 (1 cm auf der Karte entspricht 15 km in der Wirklichkeit, die Karte mit dem größten Maßstab, die wir in Deutschland auftreiben konnten), finden wir Nebenstraßen und durchfahren Orte, von denen die Welt noch nichts gehört hat, zum Beispiel Vada, Khodala, Javar und Trimbak.
Die Temperaturen steigen von Tag zu Tag. In sengender Hitze mühen wir uns durch eine weit geschwungene Berglandschaft, die uns von Nashik, einer größeren Stadt, trennt. Ausgedörrtes Gras bedeckt die Hänge und webt einen samtbraunen Teppich unter einem lichten, blauen Himmel.
Jedes Dorf besitzt einen Brunnen. Dort treffen sich die Frauen, plaudern und bedienen die Pumpe, um ihre eimergroßen Wasserbehälter aus Metall zu füllen. Auf dem mit einem Stoffring geschützten Kopf tragen sie ihre Last grazilen Schrittes heim. Ich stelle mich an und fülle unsere beiden Wassersäcke, die je zwei Liter fassen. Mit einem Keramikfilter filtern wir das Wasser in Flaschen und kommen so jederzeit in den Genuss von Trinkwasser. Der Bedarf ist groß, ständig sind wir durstig.
Abends schlagen wir unser Zelt fernab von Ortschaften in der Natur auf und bleiben ungestört. Wir kochen auf unserem Benzinkocher. An jeder Tankstelle bekommen wir Brennstoff. Unser Wasservorrat ist so groß, dass wir uns sogar den Salzfilm von der Haut waschen und die Zähne putzen können.
Die Hitze ist gewaltig, sie macht mir zu schaffen. Beide verbrennen wir zusehends. Davids Gesicht und Arme leuchten krebsrot. Bei der Ankunft in Nashik habe ich zum ersten Mal im Leben einen Sonnenbrand auf den Handrücken. Am nächsten Tag kaufe ich mir eine langärmelige, weite Bluse, in die ich mich von nun an hülle.
In der Santosh-Lodge kurz vor Nashik wohnen wir in einem großen, sauberen Zimmer mit Bad für etwa 4,50 Euro. Im dazugehörenden Restaurant werden wir freundlich bedient. Wir treffen einen jungen indischen Chemiker, der geschäftlich unterwegs ist, und unterhalten uns an jedem der drei Abende, die wir dort sind, mit ihm. Er erzählt uns viel von Indien, von sehenswerten Regionen und Städten, von Tempeln und Palästen, von seinem Studium, vom Bildungssystem und von der Politik. Nashik liegt am Godavari, einem heiligen Fluss.
Nashik am Godavari, Gujarat
Alle zwölf Jahre findet das Kumbh-Mela-Fest statt, das größte Fest der Hindus. Millionen von Pilgern aus ganz Indien treffen sich zu rituellen Waschungen an diesem Ort, auf den einst ein Nektartropfen der Unsterblichkeit fiel. Der Legende nach quirlten Götter und Dämonen am Anfang der Welt den Milchozean auf, um den Nektar der Unsterblichkeit zu gewinnen. Sie füllten ihn in einen Krug. Im Streit um die Kostbarkeit verschütteten sie vier Tropfen, die auf Allahabad, Haridwar, Ujjain und Nashik fielen. Seit Jahrhunderten feiern die Hindus dieses „Fest des Kruges“ in den vier Städten.
Wir fahren mit den Rädern ins Zentrum. Am heiligen Fluss reihen sich große und kleine Tempel und Schreine oberhalb der Ghats, den Steinstufen, die sich am Fluss entlangziehen. Frauen waschen ihre Wäsche. Menschen baden. In den Gassen drängen sich die Leute an den Marktständen vorbei. Alte, verwitterte Häuser stehen oberhalb des Zentrums. In den breiten Straßen spenden Regenbäume zu beiden Seiten Schatten.
Nicht weit von unserem Hotel ragt ein Berg aus der Ebene empor. Wir steigen zu ihm hinauf und besuchen 2000 Jahre alte buddhistische Höhlen, die die Menschen in grauer Vorzeit in die Felsen schlugen. Wir sind allein und genießen die Ruhe und den weiten Blick über die Ebene. Wir akklimatisieren uns langsam und sind nicht mehr so erschöpft wie zu Beginn unserer Reise.
Auf Irrwegen nach Rajpipla
Auf dem Weg nach Norden durchfahren wir eine Hochebene, aus der pyramiden- und kegelförmige Erhebungen und Tafelberge aufragen. Die Landschaft erinnert mich an das Monument Valley in den USA. In den Dörfern stehen Steinhäuschen. Die Frauen tragen den traditionellen Sari, die Männer oft weiße, weite Hosen, über denen locker ein weißes Hemd hängt. Auf den Häuptern über bärtigen Gesichtern sitzen die schiffchenförmigen Nehru-Kappen. Zum Plausch hocken die Männer sich ins Restaurant oder auf den Gehsteig. Auf dem Land geht es geruhsam zu. Die bittere Armut, die in den Slums der Großstädte, in Straßen und unter Brücken herrscht, ist hier nicht sichtbar. Die Dorfbewohner mögen nicht reich sein, sie scheinen aber ihr Auskommen zu haben.
Auf den Straßen ist wenig Verkehr. Dindori, ein Straßendorf, empfängt uns mit vielen bunten Reklameschildern. Wir essen in einem Restaurant und trinken Tee am Stand eines alten Mannes. Zu beiden Seiten der Straße breiten sich Felder aus. Die aus Stein errichteten Bauernhäuser liegen verstreut dazwischen. Am Abend schlagen wir unser Zelt in einem ausgetrockneten Flussbett auf. Die Dorfbewohner entdecken uns, gucken kurz ins Zelt und gehen wieder. Wir blicken über eine goldene Abendlandschaft, der Halbmond steht am Himmel. Als es dunkel wird, leuchten die Sterne auf, das Sternbild des Orion steht fast im Zenit. Wir befinden uns 900 Meter über dem Meeresspiegel.
Unsere Fahrräder erregen immer wieder Interesse. Sobald wir in einem Dorf anhalten, sind wir in Sekundenschnelle umringt von einer Menschenmenge. Der Tachometer und die Gangschaltung wirken wie ein Magnet auf die Männer. Beides müssen sie anfassen, ob sie wollen oder nicht. Den Tachometer können wir gar nicht schnell genug in Sicherheit bringen, sonst sind die Knöpfchen schon gedrückt. Die Hebel der Gangschaltung knacken und krachen, sobald wir wegschauen. Die neugierigen Menschen nerven uns, wenn wir müde sind. Doch niemals fühlen wir uns bedroht wie damals in Tunesien, wenn Jugendliche mit Stöcken in den Händen zur Straße stürmten und nach Zigaretten und Geld fragten. In Indien packt niemand das Gepäck an, sondern nur die Gangschaltung und den Tachometer, unser liebstes Spielzeug.
Wir steigen zum Ferienort Saputara auf. Er liegt gut 800 Meter hoch. Weiß getünchte Häuser stehen hinter trockenen Rasenflächen. Verkaufs- und Teestände reihen sich aneinander. Ein See glänzt blau in der braunen Landschaft, Boote liegen zum Verleih am Ufer und Pferde stehen zum Vermieten bereit.
Eine steile Abfahrt bringt uns hinunter zu einer Kreuzung. Auf den Hinweisschildern stehen die Namen der Orte in verschnörkelten Schriftzeichen, in Devanagari, der Hindi-Schrift. Wohin nun? Kaum jemand spricht Englisch auf dem Land. Weit und breit ist ohnehin kein Mensch zu sehen, den wir fragen könnten. Auf gut Glück fahren wir weiter Richtung Norden und hoffen, die Straße nach Songadh gewählt zu haben.
Teakbäume gruppieren sich zu Wäldchen in weiten Tälern. Am Rande brauner Weiden tauchen Siedlungen auf. Die mit Ziegeln bedeckten Häuschen bestehen aus Mattenwänden, die die Einheimischen mit Lehm verkleistert haben. Wir zelten unter Teakbäumen, an denen große, trockene Blätter hängen. Wo sind wir bloß? Wohin mögen uns die verlassenen Straßen führen? Nach Songadh? Wir sind gespannt.
Noch einen Tag lang radeln wir durch weite Hochtäler, bis die Straße zur Tiefebene abfällt. Wir erreichen Nawapu. Unser Ziel Songadh haben wir um 24 Kilometer verfehlt. An einem Stand kaufen wir in Öl gebackene Gemüsebällchen. Der Verkäufer serviert sie uns auf Zeitungspapier. Eine alte, dürre Bettlerin packt hastig alle Bällchen ein, als wir ihr welche anbieten. Wir kaufen neue.
Wir kämpfen gegen den Wind und erreichen schließlich doch noch Songadh, einen Lkw-Stopp. Wir steuern ihn an, weil er auf unserer Route liegt, die uns nach Norden führen soll. Viele Automechaniker arbeiten hinter Verschlägen in ihren Werkstätten. Die Luft ist voll von Staub. In einem schmutzigen Restaurant essen wir ein hervorragendes Mahl: Omelette, Chapati und ein mit Chili scharf gewürztes Erbsencurry. In einem Laden erstehen wir Nescafé, Milchpulver, Kekse, Reis und Zigaretten. Immer wenn wir stehen bleiben, umringen uns neugierige Menschen. Sie drängen sich mit uns in die Läden, um zu sehen, wie und was die Ausländer einkaufen.
Ukai, ein Straßendorf an einem riesigen Staudamm, liegt auf unserem Weg. Schon wieder können wir die Straßenschilder nicht lesen, studieren die
Dorfleben, Menschenauflauf
Karte und fahren aufs Geratewohl weiter. Die Asphaltdecke der Straße, die nach Norden führt, ist abgefahren und zerbröckelt. Wir holpern über spitze Steine und durch Schlaglöcher bergauf und bergab. Manchmal schieben wir, um die Speichen zu schonen. Die Straße wendet sich nach Osten. Da wollen wir nicht hin! Auf der Karte existiert die Straße, die wir jetzt entlangradeln, gar nicht. Schließlich erreichen wir, schon ziemlich erschöpft, den nördlichen Teil des Stausees und das Dorf Borda. Saubere Lehmbauten stehen nebeneinander. Als wir angehalten...