Sehhilfe für die kirchliche Arbeit
Der Blick auf die Milieubeschreibungen kann ein wirkungsvolles Analyseinstrument sein. „Die Milieuperspektive ist eine zauberhafte Sehhilfe“163 für die kirchliche Arbeit; denn sie verhilft dazu, an den konkreten Alltagsbezügen von Menschen anzuknüpfen, greift deren Wünsche und Themen auf und kann im Sinne einer einladenden Kirche milieuspezifische Hürden abbauen.
„Auf der Grundlage einer differenzierten Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Teilgruppen bieten die zugänglichen Sinus-Milieu-Studien einen reichhaltigen Zugewinn an Wissen über die sozialen Milieus und bislang weitgehend ausgeblendete Bezüge, nämlich über die milieuspezifischen Grundannahmen, die damit verbundenen religiösen und weltanschaulichen Perspektiven und über die kirchlich-kommunikativen Anschlusschancen“,164 führen Michael Ebertz und Bernhard Wunder aus. Der eigentliche Gewinn für sie liegt in der „Wahrnehmung und Vertiefung der Wahrnehmung, dass es solche Milieus überhaupt ‚gibt‘“.165 Die kirchliche Arbeit insgesamt hat die große Chance, den Blick auf die Milieulandschaft zu schärfen. Gleichzeitig warnen die beiden Autoren: „Der wirkliche Erfolg einer differentiellen Milieubetrachtung hängt weniger von den vorliegenden Sinus-Studien ab als davon, […] solche Ergebnisse ernst zu nehmen und sich auf sie einzulassen.“166
Heinzpeter Hempelmann hält ein Plädoyer für „Kirche neu und anders denken!“. Die Erkenntnisse der Milieuforschung werfen Kernfragen auf und fragen uns Mitarbeitende in der Kirche selbst kritisch an, was Kirche ausmacht und welche Bedeutung sie in heutiger Zeit im gesellschaftlichen Wandel einnimmt. „Wenn wir versuchen, Erkenntnisse der Milieuforschung umzusetzen, sehen wir uns unversehens fundamental herausgefordert, aber auch unversehens bereichert.“167 Letztlich geht es darum, einen anderen Blickwinkel einzunehmen, der den Horizont für neue Gemeindeperspektiven eröffnet. Wir verfügen über ein Instrumentarium, das verschiedene Interessen, Bedürfnisse und Lebenseinstellungen von älteren Menschen für eine kirchlich orientierte Altenarbeit von Nutzen sein kann. Aus der Milieuperspektive lassen sich neue Ansätze für Altenarbeit gut darstellen.
Lothar Hoffmann
Zum Weiterlesen:
- Ahrens, P.-A.; Wegner, G. (2013): Soziokulturelle Milieus und Kirche. Lebensstile – Sozialstrukturen – kirchliche Angebote, Stuttgart.
- Wippermann, C.; Sellmann, M. (2011): Milieus in Bewegung – Werte, Sinn, Religion und Ästhetik in Deutschland, Würzburg.
- Hempelmann, H. (2012): Gott im Milieu – Wie Sinusstudien der Kirche helfen können, Menschen zu erreichen, Gießen.
Im Internet:
- www.sinus-institut.de – SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH, Heidelberg
- www.milieus-kirche.de – Website mit Übersichten und Arbeitsmaterialien
- www.milieus-praktisch.de – Website zum genannten Buch von Schulz/Hauschildt/Kohler
8. Das Konzept der Lebenslage
Der biologisch-psychologische Alterungsprozess konnte im 20. Jahrhundert stark verlangsamt werden und hat im Zusammenhang mit medizinischem Fortschritt, höherem Bildungsstand und größerem Wohlstand der Bevölkerung der Industrieländer zu ganz unterschiedlichen (Alters-)Lebensstilen geführt. Die Herausforderungen an Menschen in derselben Altersgruppe sind – ebenso wie deren Bewältigung – individuell und unterschiedlich. Wir können folglich nicht mehr von dem alten Menschen oder dem einen Alter sprechen. Die mittlerweile weit verbreitete Unterscheidung zwischen dem „dritten“ und „vierten“ Lebensalter ist kritisch zu betrachten (→ Kap. I.3). Denn sie impliziert bzw. erzeugt erneut Altersbilder, die sich am Lebensalter orientieren wie z.B. fitte, „junge“ Alte versus hilfsbedürftige, pflege-abhängige, „alte“ Alte. Im Unterschied zum Modell des „dritten“ und „vierten“ Lebensalters geht das Lebenslagenmodell von einer strukturellen und individuellen Heterogenität beim Älterwerden insgesamt aus. Die Orientierung an der Lebenslage versucht somit den individuellen Alternsprozessen, den vielfältigen Lebensstilen sowie den unterschiedlichen Milieus, denen sich Menschen zugehörig fühlen, gerecht zu werden.
Ein historischer Blick auf das Alter(n)
Historisch gesehen ist die Auffassung vom Alter als eigenständigem, abgegrenztem Lebensabschnitt noch relativ jung. Gertrud M. Backes und Wolfgang Clemens beschreiben in ihrem Buch „Lebensphase Alter“ die historische Entwicklung des Alters hin zu einer „eigenständigen Lebensphase“168. Sie machen deutlich, dass sich „die Etablierung von Älteren und Alten als sozialstrukturell bestimmbare gesellschaftliche Gruppe mit vergleichbaren Merkmalen“169 im Wesentlichen durch das Zeitalter der Industrialisierung herausgebildet hat. In vorindustriellen Zeiten betrachtete man das Alter als stetige biologische Abwärtsentwicklung. Heute ist diese Lebensphase als selbständiger Lebensabschnitt institutionalisiert und mit Blick auf ein „aktives Altersbild“ zunehmend positiv in den Lebenskalender aufgenommen. Hatte das kalendarische Alter in früheren Gesellschaften kaum eine Bedeutung, spielen sozial festgelegte Altersgrenzen in unserer Kultur eine wichtige Rolle. So wird die Lebensphase Alter z.B. über das gesetzliche Renteneintrittsalter definiert. Diese historische Entwicklung führte schließlich zu einer „Chronologisierung und Dreiteilung des Lebenslaufs“170, wie man sie in allen modernen Industriegesellschaften kennt.
Das Alter wird bei dieser Dreiteilung als „drittes Alter“ angesehen. Der allgemein gültige Lebenskalender teilt sich seither in drei Phasen. Eine erste Lebensphase, bestehend aus Kindheit, Jugend und Ausbildung. Gefolgt von einem zweiten Lebensabschnitt, bei dem der Beruf und die Familie im Vordergrund stehen. Die dritte Phase bezeichnet den Ruhestand, mit dem wir in die Lebensphase des Alters eintreten. Das Modell des „dritten und vierten Lebensalters“ greift diese Perspektive auf und entwickelt sie weiter. Es ordnet „fitte“ 60- bis 80-Jährige dem „dritten Lebensalter“ und gesundheitlich gefährdete Endsiebziger und Ältere dem „vierten Lebensalter“ zu (→ Kap. I.14). Diese „Vierteilung des Lebenslaufs“ bezieht neuere gerontologische und medizinische Erkenntnisse sowie kulturelle Veränderungen des Alter(n)s mit ein und blickt dadurch differenzierter auf das gesellschaftliche Alter(n) als das Modell der „Dreiteilung“.
Das Lebenslagenkonzept – eine Theorie der sozialen Ungleichheit
Noch einen Schritt weiter geht das Konzept der Lebenslagen. Dieser Ansatz betrachtet das Individuum nämlich aus einer umfänglichen Perspektive und reduziert es nicht primär auf die Kategorie Lebensalter. Die Theorie der „Lebenslagen“ versteht sich als „eine Theorie der sozialen Ungleichheit und beschreibt mit mehrdimensionaler Perspektive die unterschiedlichen Handlungsspielräume von Individuen“171.
Gertrud M. Backes und Wolfgang Clemens weisen darauf hin, dass „in modernen Gesellschaften neuere Konzepte verwandt werden“172, wie das der „sozialen Lage“. Sie treten an die Stelle von Begriffen wie „Klasse“ oder „Schicht“ und ermöglichen ähnlich wie die Kategorien „Milieu“ und „Gender“ eine differenziertere Beschreibung von sozialer Ungleichheit. „Die Dimensionen werden voneinander unabhängig betrachtet, stehen nicht hierarchisch geordnet und können je nach Gewicht eine verschieden große Dominanz auf die Lebenslage ausüben (z.B. soziale Absicherung, Arbeitsbedingungen, soziale Beziehungen, Diskriminierungen und Privilegien)“173. Neben „vertikalen Merkmalen“174 wie Alter, Herkunft, Einkommen und Beruf werden auch „horizontale Merkmale“175 wie Kontakt- und Unterstützungschancen, Wohn- und Umweltbedingungen sowie kulturelle Partizipation mit einbezogen. Gleiches gilt für biografische Prägungen und personenbezogene Aspekte wie Bildungschancen und Geschlechtszugehörigkeit.
Fünf zentrale Dimensionen des Lebenslagenkonzepts176
Je nach sozialwissenschaftlichem Ansatz werden die Dimensionen, die eine Lebenslage ausmachen, etwas unterschiedlich definiert. Üblicherweise unterscheidet man fünf Dimensionen:
- Einkommen und Vermögen
- Erwerbsarbeit
- Bildung
- Wohnen
- Gesundheit
Die Handlungsspielräume innerhalb dieser Dimensionen werden anhand objektiver Daten erfasst. Diese betreffen zum Beispiel Wohnfläche in Quadratmetern, Bildung nach formalem Bildungsabschluss und Gesundheit nach Häufigkeit der Inanspruchnahme medizinisch-pflegerischer Leistungen. Die Ressourcen, die einzelnen Personen zur Verfügung stehen, eröffnen oder verschließen ihnen gewisse Handlungsspielräume. Nach Wolfgang Voges kann aber „aus den zur Verfügung stehenden Ressourcen, die eine bestimmte Lebenslage sozusagen verursachen, […] eben nicht unmittelbar auf Folgen dieser Lebenslage für das weitere Handeln bzw. Teilhabemöglichkeiten geschlossen werden“177. Die Lebenslage eines Menschen wird nicht nur durch die aufgeführten Dimensionen beeinflusst, sondern auch durch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und seine persönliche lebenszeitliche Entwicklung. Für das Alter sind die Handlungsspielräume im Bereich Gesundheit und sozialer Netzwerke von entscheidender Bedeutung,...