Auf dem Wege …
Montag, den 11. März 2013
Blick aus dem Flieger – über den Wolken
Wir, die tatsächlichen Reisenden im März 2013, haben uns gefunden, um die Reise gemeinsam zu beginnen: 18 Menschen aus verschiedenen Gegenden Deutschlands, aus den Niederlanden, der Schweiz und aus Südafrika. Obwohl wir uns noch fremd sind, beginnt die Gemeinschaft sich zu bilden – an gemeinsamen Erlebnissen, die schnell gemeinsame Erinnerungen werden: Wartezeiten, Sicherheitskontrollen, Verspätungen, die Possen der Welt.
Wie verwöhnt sind wir inzwischen – und wie lang dauerte im Gegensatz dazu eine Reise ins Heilige Land in früheren Zeiten! Mit Kutschen, Pferden, Segelschiffen, zu Fuß oder auf Eseln und Kamelen … Sie musste für viele Menschen ein Traum bleiben. Wir sind weltweit so viel näher zusammengerückt. Wir hören ständig voneinander und sind ziemlich schnell überall auf der Erde, wo es uns wirklich hinzieht. Wir gehen einander an. Vielleicht unternehmen wir diese Reise auch deshalb – um uns als Menschheit zu erleben …
Zur Methodik des Reisetagebuchs
Dieses Buch ist eine in jeder Hinsicht verkürzte Darstellung. Der Hinweis auf das Selbstverständliche in dieser Tatsache wird nicht dadurch überflüssig, dass das natürlich bei allen Versuchen der Verschriftlichung des real existierenden Lebens so ist. Es ist mir wichtig, mich selbst und andere an dieser Stelle daran zu erinnern, dass niemand eine alle Aspekte umfassende Wahrheit kennt, geschweige denn übersichtlich darzustellen vermag. Und so erleichtert die Form eines Reiseberichtes ungemein – wir können nicht überall hinfahren, müssen auswählen, und werden am Ende auch vieles nicht gesehen haben.
Jeder Versuch einer Beschreibung der Lebenswirklichkeit geschieht aus der individuellen Perspektive eines Betrachters, der von seinem Standpunkt aus auf die Dinge schaut, und bezieht dessen Erfahrungen und Erkenntnisse mit ein. Andere Menschen verbinden mit dem gleichen Thema andere Erfahrungen und Sichtweisen, die ebenso individuell sind, von ihrem Standpunkt genauso richtig. Selbstverständlich ist auch dies ein ausgesprochen perspektivisches Buch, in dem ich mich zwar bemühe, möglichst viele Gesichtspunkte einzubeziehen, bei dem ich aber von Anfang an sehr im Bewusstsein der Grenzen lebe, die meinen Versuchen gesetzt sind. Was sind schon zwei Wochen, um das Land kennenzulernen? Was sind zwanzig Jahre Reise- und Arbeitserfahrungen angesichts der Komplexität der Lebensverhältnisse? Was sind einige Seiten bedrucktes Papier, um davon auch nur einen Eindruck zu vermitteln?
Mein Weltbild fließt ein, meine Sichtweise der Verhältnisse, geformt von der kulturellen Prägung durch das Aufwachsen in Deutschland, Europa, beeinflusst von den Menschen, denen ich begegnete, hier und anderswo, den Büchern, die ich gelesen habe, meiner Erziehung und nicht zuletzt auch von bisherigen Selbsterziehungsversuchen, die wiederum zusammenhängen mit der jahrelangen Auseinandersetzung mit einem inneren Weg, wie die Anthroposophie ihn beschreibt – einem sehr individuellen Weg, den jeder nur auf seine ganz eigene Weise gehen kann, und der so notwendigerweise zu ganz verschiedenen Veränderungen der Weltsicht führt. Dieser Weg bedeutet unter anderem die Berücksichtigung des GeistigSeelischen, der Faktoren »Leben«, »Entwicklung«, »Schicksal«, des nicht Sichtbaren, das sich in der Wirklichkeit in vielfältiger und nachvollziehbarer Weise folgerichtig ausdrückt, das aber nicht im gewohnten Sinne berechenbar, messbar, kalkulierbar, planbar ist. Und dessen Darstellbarkeit im Wort von Anfang an an Grenzen stieß, wie schon Rudolf Steiner oft beklagte.
Für die Pädagogik ist eine solche erweiterte Sichtweise des Menschen schon fast im Mainstream angekommen. Viele Menschen schauen die Wirklichkeit des heranwachsenden Menschen so an, dass sie mit der Erziehung lediglich Hilfestellung dazu geben wollen, dass sich das entwickeln kann, was im Kind schon angelegt ist, sodass der junge Mensch seinen ihm gemäßen Weg finden kann. Dazu gehört das Imponderable, die Seele, der Geist, Teile des Menschen, die sich physiologisch nicht verorten lassen.
In der Geschichte, der Politik, der Betrachtung gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge bedeutet eine von derart ganzheitlichen Bestrebungen getragene Sichtweise vor allem, dass die Symptomatologie zur Methode erhoben wird, wenn diese auch nicht immer so genannt wird. Viele Geschichtsschreiber und vor allem viele Journalisten arbeiten heute ganz unbewusst, aber sehr erfolgreich auf diese Weise. Die besten Filme über das Heilige Land sind so gemacht – eine oft fast unkommentierte Komposition von Äußerungen, Stimmungen, Geschehnissen, relevanten Ereignissen, eine Hilfe zu eigenen Wahrnehmungen ohne Wertung.
Was macht diese Methode aus? Es geht beispielsweise um ein genaues Beobachten auch der scheinbar unwichtigen Einzelheiten im kulturellen und gesellschaftlichen Leben, in denen wir Symptome für Entwicklungslinien finden können. Es geht um Zusammenhänge, die im Hinschauen und Hinhören deutlich werden, und in diesem Prozess selbst um die möglichst vollständige Unbefangenheit, um ein immer wieder neues Infrage-Stellen dessen, was sich als Schlussfolgerung aufdrängt. Ein Urteil wird eben schnell zum Vorurteil, wenn es nicht immer wieder losgelassen und in jeder neuen Situation neu gefunden wird, statt dass wir es nur auf seine Richtigkeit »überprüfen«, weil wir an den einmal gefundenen Schlüssen hängen und recht behalten wollen.
Ich habe diese Methode nicht etwa von vornherein theoretisch so gewählt – mein Leben mit dem Heiligen Land und seinen Menschen führte mich dahin, dass sich nur eine solche Arbeitsweise als fruchtbar erweisen konnte. Das Land ist auch in dieser Hinsicht ein Lehrmeister. Viele vorschnelle Erkenntnisse mussten immer wieder revidiert werden. Je länger ich mit dem Land lebe, desto weniger weiß ich. Wer einmal dorthin gereist ist, wird vielleicht bemerkt haben, dass er nachher weniger bereit ist zu urteilen als vorher, obwohl oder gerade weil er viel Neues aufgenommen hat. Erste Erkenntnisse sind eben oft unkritisch übernommene Einseitigkeiten, die sich bei erneutem, vielleicht mehrfachem Hinschauen mit immer neuen Perspektiven anreichern.
Verbindungen zwischen Phänomenen entstanden nie am Schreibtisch, sondern immer im Leben. Ich bin weder Historikerin noch Soziologin, geschweige denn Judaistin oder Islamwissenschaftlerin. Auch bin ich als Pfarrerin der Christengemeinschaft nicht universitär-akademisch ausgebildete Theologin. Ich habe nie eine Prüfung als Reiseleiterin in Israel abgelegt. Insofern erhebe ich keinen Anspruch auf »abgesegnete Lehrmeinungen«. Im Übrigen kann man mitunter auch aus dem Munde professioneller Reiseleiter ziemlich oberflächliche Fragwürdigkeiten hören. Und die akademischen Spezialisten widersprechen sich ständig … Da schreibe ich lieber einen subjektiven Reisebericht, den jeder nach Belieben um eigene Wahrnehmungen ergänzen kann.
Ich habe seit nunmehr zwanzig Jahren Beobachtungen und Erfahrungen gemacht, die ich teilen möchte mit allen, die die Bedeutung dieses Landes kennenlernen oder ihre eigene Beziehung zum »Kreuz der Erde« entwickeln möchten.
Dabei ist mein Schwerpunkt weniger die geologische, geografische oder biologische Seite dieser Weltgegend. Die Bedeutung des Landes ist auch in dieser Beziehung kein »Zufall«. Ein ziemlich zeitloses Standardwerk zum Thema ist das umfangreiche und vielseitige Buch Mitte der Erde von Suchantke, Schmutz, Schad und Fackler. Den Ausführungen dort ist wenig hinzuzufügen.
Mein Augenmerk gilt vielmehr der menschlichen und gesellschaftlichen Seite der Phänomene dieses Landes, so wie es sich heute als äußerst problematischer Dreh- und Angelpunkt des Zusammenlebens zwischen den Menschen, den Kulturen, den Religionen, eben als Epizentrum des bedrohten Weltfriedens darstellt.
Das Heilige Land steht in den Nachrichten seit Jahrzehnten immer wieder im Mittelpunkt, auch wenn tatsächlich anderswo »quantitativ« weit größere Katastrophen geschehen. Es ist eine der zu behandelnden Fragen, was es eigentlich ist, das dieses besondere Interesse auslöst.
Und so schreibe ich im Folgenden über »das Besondere« in diesem Land, das in den Schicksalen der hier lebenden Menschen oft eine Tragik entfaltet, die dazu führt, dass viele Einwohner, egal welcher Volks- oder Religionszugehörigkeit, dieses »Besondere« gern eintauschen würden gegen die vermeintliche Normalität Norwegens, Kanadas oder Österreichs.
Ich möchte darüber schreiben, was das Leben im Heiligen Land an Schicksalsträchtigem zu bieten hat, wie wir versuchen können, die rätselhaften Biografien zu entschlüsseln, die uns hier begegnen, und die in Hieroglyphen geschrieben sind, die viele Zeitgenossen geneigt sind, einfach als tragisch hinzunehmen. Ich möchte darüber schreiben, wie die geschichtlichen Wege des Heiligen Landes bis heute mit unserem...