Prolog
Am 6. September 2003 kam es in Sand in Taufers zu einem außergewöhnlichen Einsatz der Feuerwehr. Es brannte kein Haus und keine Scheune, und es war auch kein Hochwasser in einen Keller geflossen. Eigentlich war überhaupt nichts passiert. Und dennoch rückte gegen 18 Uhr die Feuerwehr aus.
Nicht weil es meine Heimat ist, ich da geboren bin und dort immer noch lebe – das Tauferer Ahrntal zählt sicher zu den schönsten Tälern Südtirols. Vom Pustertal zweigt es bei Bruneck nach Norden hin ab, bildet bei Sand in Taufers die Seitenäste des Mühlwalder Tals, des Reintals und des Weißenbachtals, bevor es bald hinter Sand einen Bogen nach Nordosten macht. Die Vielfalt der Möglichkeiten scheint schier unerschöpflich. Tal- und Almwanderungen, kleine und große Bergbesteigungen, Rafting, Mountainbiking, Skitouren im Winter, Eisfallklettern, alpiner Skilauf, Langlauf – all das und noch viel mehr hat das Tauferer Ahrntal zu einer viel und gern besuchten Gegend gemacht.
Hochfeiler (3510m), Weißzint (3371m), Großer Möseler (3478m), Schwarzenstein (3368m), Keilbachspitze (3093m), Wollbachspitze (3210m), Napfspitze (3143m), Rauhkofel (3252m) – wie an einer Perlenschnur aufgezogen, reihen sich im Norden die vergletscherten Dreitausender der Zillertaler Alpen zu einer spektakulären Kulisse aneinander. Nach Osten hin bildet die nicht minder spannende Rieserferner-Gruppe mit dem Hochgall (3435m), dem Wildgall (3272m) und dem Magerstein (3372m) ein mächtiges Bollwerk. Da ist es kein Wunder, daß der Drang nach Bewegung fast schon zwanghaft wird.
Ein wenig hat es aber doch gebrannt an diesem 6. September 2003. Und das hing eben mit dem Drang nach Bewegung zusammen.
Augenblick: Tauferer Ahrntal und die Gipfel der Zillertaler Alpen
24 Stunden zählt ein Tag. Davon sind in der Regel acht Stunden der Arbeit vorbehalten, acht Stunden der Freizeit und acht Stunden dem Schlaf. Irgendwann im Laufe eines Tages wird der Mensch einfach müde, dann braucht der Körper Ruhe und eine Pause. Doch was passiert, wenn der Körper 24 Stunden in Bewegung gehalten wird? Was ist, wenn der Mensch 24 Stunden ununterbrochen gefordert wird? Was, wenn während einer 24stündigen Bergtour die Müdigkeit übermächtig wird? Wenn die Beine nicht mehr wollen und der Kopf immer wieder sagt: Aufhören, ich kann nicht mehr? Eine Grenzerfahrung, ohne Zweifel. Aber auch eines der ganz besonderen Erlebnisse in der rauhen Welt der Berge. 24 Stunden gehen, rauf und runter, wieder rauf und wieder runter, unterbrochen nur von ein paar kurzen Rastpausen, das ist die Überwindung des scheinbar Unmöglichen.
Für mich war das immer schon eine besondere Herausforderung. Ich wollte wissen, was kann mein Körper innerhalb von 24 Stunden leisten? Was ist möglich binnen eines Tages und einer Nacht? Spätestens an dieser Stelle mag man die berechtigte Frage stellen: Ja, hat denn der Mensch nichts Besseres zu tun? Natürlich macht es keinen wirklichen Sinn, innerhalb 24 Stunden alle vier Grate des Matterhorns zu besteigen. Und auch nicht, durch die Nordwand des Ortler zu klettern, dann mit dem Rad von Sulden zu den Drei Zinnen in den Dolomiten zu fahren und in der Nacht durch die Nordwand der Großen Zinne zu steigen. Ich bin vielleicht auch nicht unbedingt ein Gewinn für die Menschheit, weil ich in 24 Stunden auf den Mount Everest gestapft und dann mit Ski wieder hinuntergefahren bin. Das alles war in erster Linie ein Gewinn für mich selbst. Nutzlos, aber ein intensives Erlebnis. Weil ich der Grenze dessen, was ich zu leisten imstande bin, dadurch so nahe gekommen bin.
Wenn andere darüber staunen oder mit Interesse jenen zuhören, die im Meer unendlich tief tauchen, durch glühende Wüsten gehen, mit dem Segelboot um die Welt schippern, mit dem Heißluftballon sonstwohin fahren oder eben an einem Berg etwas nicht Alltägliches leisten, dann ist dies wohl nichts anderes als der Versuch, die eigene Sehnsucht durch derlei Erzählungen ein wenig zu stillen. Und weil ich es in meinem Beruf als Bergführer so oft spüren und fühlen kann, wie die Menschen förmlich danach lechzen, sich selbst kennenzulernen, die eigenen Grenzen zu suchen, einmal einen ganz neuen Blickwinkel zu finden, habe ich mir gesagt, nimm andere mit hinaus – 24 Stunden lang.
Über eine Landkarte gebeugt, haben wir mit ein paar Freunden, allesamt Berg- und Wanderführer, eine Tour zusammengestellt, die uns zu den schönsten Aussichtspunkten, Almen und Seitentälern des Tauferer Ahrntals führen und dem Alpenhauptkamm ganz nahe kommen sollte. Daß am Ende die Feuerwehr kommen würde, ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand.
Am 5. September, kurz vor 18 Uhr, starteten am Neves-Stausee in Lappach, ganz hinten beim Talschluß von Mühlwald, über 40 wildentschlossene Wanderer in der Absicht, durchzustehen, was wir da ausgeheckt hatten. Der Himmel war von milchigen Wolken verhangen. Nach den mörderischen Temperaturen des Jahrhundertsommers hatte es etwas abgekühlt. Wir erreichten nach zwei Stunden die Edelrauthütte und spazierten über den Neveser Höhenweg in die Dunkelheit hinein, Richtung Chemnitzer Hütte. Mitternacht. Zu dieser Stunde Nudeln zu essen ist vielleicht ein wenig gewöhnungsbedürftig, und doch blieb kaum etwas übrig. Der berühmte Kellerbauerweg führte uns zum Speikboden. 7 Uhr in der Früh. Wir eilten hinunter zur Mittelstation und ließen uns von dort nach Prettau im hinteren Ahrntal bringen. Müde Augen, müde Glieder. Beim Aufstieg durch das endlos lange Hasental hinauf auf den kleinen Gipfel der Weißen Wand glaubten viele, das sei die Grenze des Machbaren. Gegen 13 Uhr erreichten wir die Durra-Alm. Jetzt war ein Ende abzusehen. Über die Lobiser Schupfen erreichten wir mein Heimatdorf Ahornach. Zu unseren Füßen, knapp 500 Höhenmeter tiefer, Sand in Taufers und der Tauferer Boden. Rund 3000 Höhenmeter im Auf- und Abstieg, drei Höhenwege, drei bekannte Berghütten, drei wunderschöne Almen und die Marathondistanz von über 50 Kilometern steckten in den Knochen der Teilnehmer. 6. September, kurz vor 17 Uhr. Jetzt war es nur noch ein Katzensprung, und fast alle waren noch dabei, nur ein paar wenige hatten aufgegeben.
Eine Stunde später rückte in Sand die Feuerwehr aus. Mit einem historischen Löschfahrzeug und einer gewaltigen Handpumpe.
Schuhe – Socken – Haut, das bedeutet auch: Wärme – Feuchtigkeit – Reibung. 24 Stunden lang, fast unaufhörlich, hatten diese unheilvollen Komponenten ihre Arbeit verrichtet. Erst eine rote Stelle, dann eine kleine Entzündung und schließlich folgerichtig die unvermeidliche Blase an der Ferse oder den Fußzehen. Kaum jemand, der verschont geblieben wäre. Im Garten hinter dem Naturparkhaus Rieserferner hatten ein paar fleißige Helfer alte, hölzerne Waschzuber aufgestellt. Fast oberschenkelhoch und im Umfang so groß, daß man mit angezogenen Beinen darin hätte sitzen können. Das Abflußloch war mit einem Holzpfropfen verschlossen. Nun hagelte es knappe Kommandos.
»Absitzen!«
»An die Pumpe!«
»Wasser marsch!«
Die wackeren Feuerwehrmänner pumpten, was die alte Pumpe hergab. Und aus dem Schlauch spritzte das eiskalte Wasser direkt in die Zuber. Raus aus den Bergschuhen, weg mit den qualmenden Socken und hinein in das erfrischende Naß. Denn ein wenig hat es schon gebrannt an diesem 6. September 2003, kurz vor 18 Uhr. Gut zu wissen, wie schnell in Sand in Taufers die Feuerwehr zur Stelle ist, wenn man sie braucht. Nach und nach stiegen wir alle in die Tröge und kühlten die Füße, derweil das erste schäumende Bier durch die ausgetrockneten Kehlen rann.
Wenn es stimmt, daß Träume dazu da sind, nicht nur geträumt, sondern auch verwirklicht zu werden, dann hatten viele an diesem Tag einen Traum gelebt. Einmal so weit gehen, wie die Füße tragen. Ganz nah an die Leistungsgrenze herankommen. Und am Ende vielleicht erkennen, daß ein wenig immer noch gegangen wäre. Es war für mich vor allem an den großen Bergen der Welt, wo die Schinderei so hart sein kann, immer wieder interessant, daß im vermeintlichen Zustand totaler Erschöpfung der Körper doch noch etwas hergibt.
Als die Feuerwehr wieder abrückte, war es über Sand in Taufers schon wieder Nacht geworden. Ich wurde nachdenklich. Einen kurzen Moment lang durchzuckte mich der Gedanke, was denn wäre, wenn man zweimal 24 Stunden an einem Stück ... Ich verwarf den Gedanken. Verwarf ihn wohl vor allem deswegen, weil ich ja weiß, daß es möglich ist.
Die Suche nach Grenzen ist ein scheinbar endloses Spiel. Eine Spirale, ein Perpetuum mobile. Der Anfang nicht mehr nachzuvollziehen, ein Ende nicht absehbar. Je länger die Suche dauert, um so mehr bekommt der Mensch ein Gefühl für sich selbst und weiß auf einmal, wie nahe er der Grenze in bestimmten Situationen gekommen ist oder wie weit er noch davon entfernt war. Die Grenzsituationen in meinem Bergsteigerleben waren nicht immer gewollt. Beileibe nicht. Ich habe es mir nicht ausgesucht, daß mir bei einer Solokletterei an der Kleinen Zinne in den Dolomiten die Sohle meines Schuhs brach, es entsprach nicht meiner Absicht, daß bei der Skiabfahrt am Nanga Parbat unter meinem Ski ein Schneebrett abging, daß von einem winzigen Haken in der Nordwand des Peitlerkofels mein Überleben abhing, daß mir am dritthöchsten Berg der Erde die Fußzehen erfroren sind. Viele dieser Situationen hätte ich in diesen Sekunden oder Stunden lieber nicht erlebt. Eine Flasche rubinroter Brunello wäre mir manches Mal lieber gewesen. Ich bin den Weg, den ich bis heute hinter mir habe, nicht gegangen um der Geschichten willen. Ich habe das Abenteuer, aber nicht blind die Gefahr gesucht, die Herausforderung, nicht den Tod, den...