Der Rhetorik- und Poetikexperte Plett[8] stellte bereits im Jahr 2001 fest, dass bei den bisherigen Methoden zur rhetorischen Analyse „vor allem der Einbezug interdisziplinärer Verfahren ein Desiderat [ist]“ (Plett 2001: 135), jedoch nahm sich kein Forscher diesem an.
Diese Arbeit unterstützt die Annahme, dass ein interdisziplinärer Ansatz nötig ist, der Theorien und Methoden aus unterschiedlichen Fachbereichen einbezieht, um rhetorische Fähigkeiten in seiner Ganzheit analysieren und bewerten zu können. Denn wie bereits deutlich wurden, ist der Erfolg von Rhetorik neben dem gesprochenen Wort auch von nonverbaler Kommunikation, der Beziehung zum Publikum und zahlreichen weiteren Faktoren abhängig, auf die nun im Hauptteil dieser Arbeit im Detail eingegangen werden soll.
Bislang wird Rhetorik überwiegend literarisch untersucht. Im Jahr 1978 schrieb Hellmut Geißner[9]: „Rhetorische Analyse [...] gibt es im strengen Sinn erst, seit es möglich ist, Gesprochenes in seiner Entstehungssituation mit Hilfe von Tonträgern als Gesprochenes zu fixieren. [...] Damit ist eine Möglichkeit gegeben, nicht nur die Rede, sondern auch das Reden [Hervorh. im Orig.; Anm. d. Verf.] zu beurteilen [...]. Vorausgesetzt ist, dass eine spezifische rhetorische Analyse angewendet wird, weil das Instrumentarium der geschichts- oder literaturwissenschaftlichen Analyse nicht alle Parameter dieser neuen Quellen trifft“ (Geißner 1978: 153). Während die technischen Möglichkeiten sich im 21. Jahrhundert dahingehend weiterentwickelt haben, dass Ton- und Videoaufnahmen im Internet im hervorragender Qualität massenhaft frei verfügbar sind, ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Rhetorikanalyse jedoch offensichtlich seit den 1970er Jahren stehen geblieben.
Zum gedanklichen Einstieg in das Thema bietet sich die Redepyramide von Pabst- Weinschenk (1995) an (Vgl. Pabst-Weinschenk 2010, Pabst-Weinschenk 2004: 16ff.)., da sie zahlreiche Kriterien rhetorischer Kommunikation und ihr Zusammenwirken anschaulich darstellt. Bei dieser Pyramide handelt es sich um ein didaktisches Synopse-Modell aus dem Bereich der Sprechbildung. Es umfasst drei Seiten: 1) Form und Präsentation, 2) Inhaltskonzept und 3) RednerPersönlichkeit. Zur ersten Seite - Form und Präsentation - zählt Pabst- Weinschenk alle sichtbaren und hörbaren Elemente der Rede. Sie bezeichnet diese Seite auch als rhetorische Oberfläche, weil ihr Modell auf der Annahme basiert, dass Körpersprache und der Klang des Sprechausdrucks für die Glaubwürdigkeit und Überzeugungsfähigkeit des Redners eine größere Rolle spielt als der Inhalt. Sie geht zudem davon aus, dass die Körpersprache das Fundament für Wortsprache ist: Sobald ein Redner Probleme bei der Formulierung seiner Gedanken hat oder Verständigungsprobleme mit dem Gesprächspartner auftreten, greife er automatisch auf Körpersprache zurück, indem er gestikuliert oder auf etwas zeigt. Gleichzeitig blockiere eine verkrampfte Haltung den Sprechfluss, sodass vermehrt Füllwörter und Sprechdenkgeräusche wie Äh oder Mh auftreten. Die Aspekte der rhetorischen Oberfläche sind somit größtenteils automatisierte Verhaltensweisen, die unbewusst ablaufen.
Die zweite Seite der Redepyramide umfasst das Inhaltskonzept der Rede. Darunter versteht Pabst-Weinschenk nicht nur die inhaltliche Vorbereitung der Rede, sondern die gesamte Kommunikationssituation. Sie empfiehlt, das Ziel der Rede an die Sprechsituation anzupassen und die Gliederung auf das gewünschte Ziel hin abzustimmen. Erst wenn der Aufbau der Rede fertig sei, könnten Details der Sprechoperation geklärt werden. Pabst-Weinschenk verweist bei der rhetorischen Tiefenstruktur auf das Organonmodell von Bühler (siehe 3.2, S. 39ff.), das von den drei Sprachfunktionen Darstellung, Ausdruck und Appell ausgeht. Damit will sie betonen, dass neben der inhaltlich-thematischen Gestaltung immer auch die Beziehung zu(m) Gesprächspartner(n) berücksichtigt werden muss.
Pabst-Weinschenk hebt hervor, dass die einzelnen Seite der Redepyramide nicht einzeln betrachtet werden dürfen, da sie sich wechselseitig beeinflussen: Während die Präsentationsform die Wirkung des Inhalts bedingt, hat auch der Inhalt Auswirkungen auf die Art der Präsentation. Gleichzeitig komme durch die ersten beiden Seiten die dritte Seite der Pyramide - die Redner-Persönlichkeit - implizit zum Ausdruck. Der Zuhörer könne somit anhand der rhetorischen Oberfläche und Tiefenstruktur auf die persönliche Haltung des Redners und auf seine Absichten schließen. Betrachtet man der Rhetorikanalyse hingegen nur einen Aspekt, beispielsweise die äußere Form, so handelt es sich um eine reine Analyse der Präsentationstechnik. Die Redepyramide vertritt jedoch auch den hier verfolgten Ansatz, der Rhetorik als komplexes, wechselseitig bedingtes Konstrukt betrachtet. Pabst-Weinschenk fasst die Wechselwirkungen folgendermaßen zusammen: „Das konkret-beobachtbare Verhalten (Seite 1) repräsentiert die durch die Kommunikationsbiografie geprägte Sprecher-Persönlichkeit (Seite 3) und ihre bewussten Entscheidungen für bestimmte Strukturen auf der Ebene der Tiefenstruktur (Seite 2)“ (Pabst-Weinschenk 2010) (Vgl. Pabst-Weinschenk 2010, Pabst-Weinschenk 2004: 16ff.).
Die Redepyramide bietet damit einen guten Überblick über die nötigen Faktoren bei der ganzheitlichen Analyse von Rhetorik. Leider enthält sie aber keine Möglichkeiten oder Ansätze, wie sich diese einzelnen Faktoren messen und bewerten lassen. Dieser Frage widmet sich diese Arbeit im weiteren Verlauf. Sie ist unterteilt in vier Bereiche: Die sprachliche Wirkung der Rede (Linguistische Analyse), die Überzeugungsfähigkeit der Rede (Argumentationsanalyse), die Funktionen der Rede (Kommunikationsmodelle) und ihre persuasive Wirkung ([Sozial-]Psychologische Ansätze)[10].
Im Folgenden werden diese vier Fachbereiche jeweils kurz vorgestellt, bevor einzelne Modelle oder Theorie aus den jeweiligen Bereichen beschrieben werden. Am Ende jedes Kapitels wird reflektiert, inwiefern die beschriebene Theorie respektive Methode für die Messbarkeit rhetorischer Kommunikationskompetenz eingesetzt werden kann. Die ausgewählten Methoden und Theorien stellen lediglich einen Überblick dar und erheben deshalb keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit.
Der Begriff Linguistik ist vom lateinischen Wort 'Lingua' abgeleitet, was Sprache bedeutet. Linguistik ist demnach die Wissenschaft von der menschlichen Sprache und ihren Gesetzmäßigkeiten. Eine sprachwissenschaftliche Analyse zielt darauf ab, Absichten eines Textes oder von Sprache im Allgemeinen aufzuspüren. Gesprächsanalyse, Semantik, Syntax und Pragmatik sind - neben vielen weiteren - Teilbereiche der Allgemeinen Linguistik, die im weiteren Verlauf näher beschrieben werden sollen (Vgl. Nünning/Zierold 2011: 43, Stocker 1976: 235ff., 348ff., 424ff.).
Aus der Analyse gesprochener Äußerungen können zahlreiche Informationen entnommen werden: Über den Inhalt und die außersprachlichen Wissensbestände einer Gesellschaft (sprachbezogene Informationen), über die emotionale Spannung des Sprechers und seiner Beziehung zu(m) Gesprächspartner(n) (paralingual-situationsbezogene Informationen) sowie über den Redner, seine Herkunft und seinen Charakter (personenbezogene Informationen) (Vgl. Pabst- Weinschenk 2004: 32). Deshalb sollte die Linguistik bei jeder Rhetorikanalyse beachtet werden.
Die Gesprächsanalyse (kurz: GA) befasst sich mit gesprochener, meist dialogischer Sprache. Sie will Erkenntnisse darüber gewinnen, wie Menschen Gespräche führen. Die Methodik der GA ist bislang eher wenig entwickelt, was unter anderem auf ihr Empirieverständnis zurückzuführen ist: Die GA bedient sich den Prinzipien der qualitativen Sozialforschung. Ihr Forschungsgegenstand ist die natürliche menschliche Kommunikation und damit stets subjekt- und situationsbezogen. Dieser Gegenstand liegt vollständig nie offen, sondern muss immer durch Interpretation erschlossen werden. Die Forschungsfrage ist - im Gegensatz zur deduktiven Methodik - nicht Ausgangspunkt, sondern Ziel der Forschung (Theoriegenerierung). Die Forscher haben bei der GA zudem den Anspruch, möglichst offen vorzugehen. Deshalb legen sie ihre Hypothesen nicht apriorisch fest, sondern passen sie im Laufe des Forschungsprozesses ständig an den Untersuchungsgegenstand an. Sie verwenden zudem keine standardisierten Methoden, damit sie eine höchstmögliche Flexibilität gewährleisten können und keine relevanten Phänomene übersehen. Deshalb ist die GA ein weitestgehend offenes Feld, das kein methodisches Vorgehen festschreibt. Damit dennoch aussagekräftige Ergebnisse entstehen können, muss das Untersuchungsmaterial als Arbeitsgrundlage der GA, also das Transkript, möglichst naturalistisch und intersubjektiv nachvollziehbar sein. „Unter «Transkription» versteht man die Verschriftlichung von akustischen oder audiovisuellen (AV) Gesprächsprotokollen nach festgelegten Notationsregeln“ (Deppermann 2008: 39). Dabei ist wichtig, das Gespräch in seiner Mündlichkeit genau so niederzuschreiben, wie es tatsächlich stattgefunden hat - das heißt sämtliche Laute, Interjektionen, Pausen, Betonungen aber auch Versprecher und Überlappungen oder die Lautstärke in das Transkript mit einfließen zu...