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Die Lebensbewegung: Lebensstil in jedem Phänomen
An drei kurzen Fallvignetten soll gezeigt werden, wie nach Adler der Lebensstil in jedem Phänomen zu finden ist. Diese Beispiele sind wie die Träume und Kindheitserinnerungen Modelle des Lebensstils. »Wir lernten in jeder seelischen Bewegung zugleich Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Endziel, gleichzeitig auch die frühkindliche Situation des Betreffenden an der Geburtsstätte seiner Persönlichkeit erblicken« (Adler, 1926m/2010, S. 273).
2.1 Erste kurze Fallvignette
Bei jedem Begriff wird das Phänomen aufgesucht, das durch den Begriff bezeichnet wird. Im folgenden Beispiel steht hierfür der Begriff des Gegenwartsmoments.
In einem der »mikroanalytischen Interviews« von Daniel Stern (2005, S. 35) wird deutlich, dass der Gegenwartsmoment nicht nur, wie Stern meint, frühere und künftige Muster in sich vereint, sondern dass er den Lebensstil des Interviewpartners mit Namen GS in einer wunderbar anschaulichen Weise darstellt. Im Folgenden ein Auszug aus dem Interview:
GS berichtet dem Interviewer, der mit I abgekürzt wird, von zwei Gegenwartsmomenten, die an diesem Vormittag eine besondere Bedeutung für ihn gehabt hätten:
GS | »Ich habe also die Kühlschranktür geöffnet, so« (er macht eine Handbewegung, um zu zeigen, wie er die Tür öffnete). |
I | »Warum haben Sie mir gezeigt, wie Sie die Tür öffneten? Hat es damit eine besondere Bewandtnis?« |
GS | »Oh ja, allerdings. Die Tür ist nicht ganz in Ordnung. Wenn man sie zu vorsichtig öffnet, fällt sie von selbst wieder zu. Und wenn man sie allzu ruckartig öffnet, schwingt sie weit auf und schlägt gegen den Schrank, der neben dem Kühlschrank steht. Deshalb muss ich sie auf eine ganz spezielle Weise öffnen, nicht zu sacht und nicht zu energisch. Nur dann bleibt sie an einem bestimmten Punkt offen stehen. Das mache ich ganz bewusst, weil es für mich eine Art Spiel ist, das volle Aufmerksamkeit verlangt.« Pause. »Danach habe ich vermutlich zuerst den Orangensaft herausgenommen. Ich erinnere mich nicht mehr daran, aber das tue ich ganz automatisch. Ich muss mit dem Orangensaft zum Tisch gegangen sein und mir auf dem Weg dorthin noch ein Glas geholt haben.« »Das nächste, woran ich mich bewusst erinnere, ist, dass ich Saft ins Glas gegossen habe.« |
GS | »Ich mache es normalerweise so, dass ich das Glas möglichst voll gieße, aber nicht ganz voll. Es soll voll sein, aber es darf nichts überschwappen, wenn ich es zum Mund führe. Darauf muss ich beim Eingießen ganz bewusst achten.« Schweigen »Es ist eine Art Spiel.« |
Nach Auffassung von Stern (2005) konkretisieren beide Momente dasselbe Thema, die Suche nach der Balance zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Außerdem erzählt GS, dass er am Vorabend versuchte, den Diskussionsteil seiner Dissertation abzuschließen. Das Schwierige daran war, dass er sich nicht entscheiden konnte, wie stark er seine Ergebnisse und Schlussfolgerungen zuspitzen sollte. GS deutet dies selbst: »Ich teste den Spielraum zwischen Zuviel und Zuwenig. Ich gehe an die Grenzen. Das fasziniert mich und ist für mich wichtig.«
Nach Daniel Stern ist der Gegenwartsmoment ein holistisches Ereignis, eine Gestalt. Er »organisiert Sequenzen oder Gruppen kleiner, wahrnehmbarer Einheiten (wie Noten oder Phoneme), die wir registrieren, ohne es zu bemerken, zu Einheiten einer höheren Ordnung« (ebd., S. 53). Von einem distanzierten Standpunkt aus lässt sich die Episode »in einzelne Bestandteile zerlegen: Affekte, Kognitionen und eine Aufeinanderfolge von Aktionen, Wahrnehmungen und Empfindungen. Jede einzelne dieser Komponenten kann isoliert, für sich betrachtet werden. Unmittelbare Erfahrungen aber, Erfahrungen, die wir in der Ersten Person machen, können nicht auf diese Weise zerlegt werden; sie werden als ein Ganzes empfunden« (ebd., S. 53).
Auch für Adler ist der Lebensstil, die Gestalt dieser Lebensbewegung, ein holistisches Ereignis (Adler, 1933/2008, S. 53 mit Bezug auf Smuts, J. C., 1926). Der Unterschied liegt nur darin, dass Adler auf die zielgerichtete Bewegung achten würde. GS möchte, dass die Kühlschranktür so weit wie möglich offen bleibt, ohne an den Schrank zu stoßen. Auch will er so viel Orangensaft wie möglich trinken und füllt das Glas so, dass der Saft gerade nicht überschwappt. Er will das Zuspitzen seiner Schlussfolgerungen so weit wie möglich treiben, ohne den Bezug zu den tatsächlichen Ergebnissen zu verlieren. Man könnte sagen, er will die Fülle des Lebens; dabei ist seine Bewegung spielerisch; das bedeutet, dass er sein Können-Wollen flexibel den äußeren und inneren Möglichkeiten anpassen kann.
2.2 Zweite kurze Fallvignette
In einem Traum hat der Patient Angst, beim Klettern von einer Felswand abzustürzen. Für ihn bedeute ein Absturz, dass er selbst nicht seinen Ansprüchen entspreche und seine Existenz gefährde. Patient: »Es geht nicht nur um meine eigenen Ansprüche, sondern noch mehr um die Erwartungen anderer. Beim Handballspiel muss ich gut sein, damit ich von meiner Mannschaft akzeptiert werde. Manchmal wird mir dies zu viel, immer den Erwartungen entsprechen zu müssen, und in mir regt sich ein massiver Widerstand dagegen. Aber als wir bei einem Spiel drei Tore zurück waren, schoss ich in einer Minute vier Tore und wir siegten.« Der Patient deutet diese Episode entsprechend seinem Lebensstil, wie wir ihn bisher verstanden haben. Für den ersten Teil dieser Episode mag dies auch zutreffen. Der Patient spürte den Druck der Erwartungen, vielleicht auch seine Ängste davor, von der Gruppe fallen gelassen zu werden, wenn er den Erwartungen nicht entspricht. Gleichzeitig spürte er seinen Widerstand gegen die (realen und projizierten) Erwartungen der Gruppe als verinnerlichter mütterlicher Figur. »Aber« – so leitet er den folgenden Satz ein, das heißt, all dies spielte vermutlich keine Rolle mehr, als die Mannschaft beim Spiel drei Tore zurück war. Er könnte plötzlich die Notwendigkeit gespürt haben, seiner Mannschaft zum Sieg zu verhelfen. Es war ein eigener Entschluss aus seinem Gemeinschaftsgefühl heraus.
In der erzählten Episode taucht nicht nur die Gestalt seines Lebensstils auf, sondern auch das Gemeinschaftsgefühl. Sowohl der Lebensstil wie auch das Gemeinschaftsgefühl sind in jedem Phänomen präsent, auch wenn wir es oft nicht erkennen. Das Gemeinschaftsgefühl kann unerkannt bleiben, vor allem dann, wenn unsere Aufmerksamkeit auf das gerichtet ist, was bisher erkannt worden ist, das heißt »gewusst« wird. Vor diesem Wissen warnt Bion und legt uns nahe, vor jeder Sitzung alles zu vergessen, was wir vermeintlich wussten und jeden Wunsch sein zu lassen, etwa eine gute Therapeutin sein zu wollen. Es wird eben keine beständige objektive Wahrheit, sondern eine dem Erleben im Augenblick der Sitzung aufscheinende subjektive innere Wahrheit formuliert.
2.3 Dritte kurze Fallvignette
In den ersten Wochen der Therapie saß die Patientin dem Fenster und mir gegenüber. Immer wieder ließ sie ihren Blick sekundenschnell vom Fenster zu mir und zurück zum Fenster hinauswandern. Mir wurde schwindelig, als hätte ich keine feste Bodenhaftung mehr. Mit der Zeit verstand ich meine Reaktion: Ich hatte das Lebensgefühl der Patientin gespürt: einerseits keine Bodenhaftung, nicht wirklich präsent; andererseits das Ziel ihrer Sehnsucht im Blick in die Ferne. Zwischen diesen Polen, Abwesenheit und Sehnsucht, spannte sich das Leben der Patientin.
Die mangelnde Bodenhaftung weist auf die innere Notlage hin, ihr Blick in die Ferne könnte eine Rettungsmaßnahme sein, der Versuch einer Bewältigung ihrer Notlage. Die Vermeidung des direkten Anblickens könnte signalisieren, dass die Patientin fürchtet, eine reale Beziehung sei unerträglich. Was damit gemeint ist, wird verständlich, wenn die Entwicklung der Patientin in den ersten Lebensjahren kurz skizziert wird, denn »die kindliche Erfahrung ist oft, wenn auch nicht immer, der relevante Bezugsrahmen […], der diese [heutigen] Erfahrungen in neuem Licht erscheinen lässt, sodass sie plötzlich verstanden und integriert werden können«...