2 Empirische Befunde bei Jugendlichen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung
Romuald Brunner und Franz Resch
Während die Borderline-Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter diagnostisch etabliert ist und sich auf empirische Forschungsergebnisse der letzten 20 Jahre stützen kann, liegen bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung im Jugendalter erst seit den vergangenen Jahren Forschungsergebnisse vor. Gründe für die verspätete wissenschaftliche Aufmerksamkeit können vielschichtig sein. Vorrangig erscheint die über Jahrzehnte hinweg bestehende Verunsicherung, ob diese Störung bereits im Jugendalter valide diagnostiziert werden kann und ob überhaupt die Vergabe von Persönlichkeitsstörungsdiagnosen vor dem Erreichen des Erwachsenenalters stattfinden sollte. Empirische Untersuchungen konnten jedoch belegen, dass die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung im Jugendalter ebenso reliabel und valide ist wie im Erwachsenenalter und die gleiche Stabilität in der Adoleszenz im Vergleich mit dem Erwachsenenalter besitzt (Chanen und Kaess 2012). Behandlungsleitlinien vieler Länder oder auch die Sektion 3 im DSM-5 und die in der Entwicklung befindlichen ICD-11-Leitlinien haben die Legitimation dieser Diagnose im Jugendalter übereinstimmend bestätigt.
Prävalenz und Verlauf
Eine epidemiologische Untersuchung, die das Jugendalter mit eingeschlossen hatte, weist auf einen kumulativen Anstieg der Prävalenz von 1,4% im Alter von 16 Jahren auf 3,2% im Alter von 22 Jahren hin (Johnson et al. 2008). Untersuchungen zur Prävalenz der Borderline-Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter nehmen eine Spannbreite von 0,7% bis 2,7% in der Allgemeinbevölkerung ein (Coid et al. 2006; Trull et al. 2010). Dabei zeigt sich eine geringfügige Dominanz des weiblichen Geschlechts (Torgersen et al. 2001). Im Gegensatz zu Untersuchungen in der Allgemeinbevölkerung besteht eine deutliche Verschiebung zugunsten des weiblichen Geschlechts in den klinischen Settings des Erwachsenen- wie auch des Jugendalters (Chanen et al. 2008; Grilo et al. 1996). Untersuchungen zum Langzeitverlauf von Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, die erstmalig im Jugendalter diagnostiziert wurden, liegen bislang nicht vor. Eine Langzeitkatamnese von Patienten im Erwachsenenalter wies auf eine hohe Remissionsrate (Zehn Jahre nach einer Erstbehandlung) der Borderline-Persönlichkeitsstörung hin (88%) (Gunderson et al. 2011). Jedoch bleibt ein substanzieller Anteil der Patienten psychiatrisch behandlungsbedürftig. Dabei weisen die meisten eine affektive Störung sowie weitere psychiatrische Auffälligkeiten auf, ohne jedoch das Vollbild einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu erreichen. Auch wird auf einen Symptom- bzw. Syndromshift hingewiesen, vor allem in Richtung von affektiven und substanzbezogenen Störungen. Nachuntersuchungen zeigen mit einer mittleren Katamnesedauer (6 Jahre) eine substanzielle Suizidrate von 4% (Skodol et al. 2002).
Komorbidität
Wie im Erwachsenenalter besteht eine große Heterogenität im Erscheinungsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung, die durch das Vorliegen komorbider Störungen weiter verstärkt wird und eine Etablierung effektiver Therapiemaßnahmen erschwert. Während auf wissenschaftlicher Basis im Erwachsenenalter Subtypisierungen vorgenommen wurden, stehen solche Untersuchungen bei Jugendlichen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung noch aus. Innerhalb des Spektrums der erfüllten Diagnosekriterien einer Borderline-Persönlichkeitsstörung dominieren im Jugendalter das Kriterium 4 (Impulsivität), Kriterium 5 (Selbstschädigende Verhaltensweisen) und Kriterium 6 (Affektive Instabilität) (Kaess et al. 2013). Somit steht die affektive und behaviorale Dysregulation neben dem Selbstschädigungsverhalten im Zentrum dieser Störung. Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigen sowohl im Jugend- als auch im Erwachsenenalter im Vergleich mit anderen Persönlichkeitsstörungen oder umschriebenen psychiatrischen Störungen (Achse I-Störungen) eine exzessive Inanspruchnahme sämtlicher psychiatrischer Settings sowie eine Vorgeschichte mit Gebrauch aller Arten von Psychopharmaka (Bender et al. 2001). Im Vergleich mit einer Gruppe von jugendlichen Patienten mit anderen Persönlichkeitsstörungsdiagnosen zeigen Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung häufiger Achse-I-Diagnosen sowie häufigere zusätzliche Persönlichkeitsstörungsdiagnosen (Chanen et al. 2007; Kaess et al. 2013). Nach einer neueren Studie (Ha et al. 2014) weisen jugendliche Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung durchschnittlich 2–3 Achse-I-Diagnosen auf im Vergleich zu jugendlichen Patienten mit anderweitigen psychiatrischen Störungen. Sie unterscheiden sich somit auch im Hinblick der Symptombelastung, die wesentlich den Schweregrad der psychosozialen Funktionseinschränkungen mit bedingen. Die häufigsten komorbid auftretenden Diagnosen sind depressive Störungen, Essstörungen, dissoziative und posttraumatische Störungen sowie Substanzmissbrauchsstörungen (Feenstra et al. 2012). Im Bereich der Achse-II-Störungen zeigen Untersuchungen auch bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung im Jugendalter eine gehäufte Koinzidenz mit Persönlichkeitsstörungsdiagnosen primär aus dem Cluster C gefolgt von der paranoiden Persönlichkeitsstörung aus dem Cluster A (Kaess et al. 2013). Die Schwere und Komplexität dieser psychiatrischen Erkrankung legt nahe, dass die Schwierigkeiten, ein adäquates Behandlungsangebot zu etablieren, erheblich sind und eine therapeutische Herausforderung bilden.
Neurobiologie
Während neurobiologische Aspekte bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter vermehrt Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen in den letzten 15 Jahren waren, stehen grundlagenwissenschaftliche Untersuchungen bei Jugendlichen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erst am Anfang. Die bisher nur wenigen vorliegenden Studien (Goodman et al. 2013) beziehen sich insbesondere auf neuropsychologische und bildgebende Untersuchungen. Grundsätzlich erscheinen Untersuchungen am Beginn der Manifestation der Borderline-Persönlichkeitsstörung besonders wertvoll, da Behandlungseffekte und Chronifizierungseffekte, die ihren Niederschlag auch z. B. in morphologischen Prozessen oder Veränderungen der Stressantwortsysteme finden könnten, besonders relevant sind, um biologische Vulnerabilitäten identifizieren zu können (Brunner et al. 2010).
Genetik
Den genetischen Faktoren in der Genese der Borderline-Persönlichkeitsstörung wird bisher nur ein moderater Einfluss zugeschrieben (Kaess et al. 2014). Doch ergaben sich Hinweise, dass bestimmte Temperamentsfaktoren wie negative Emotionalität, Impulsivität und Introversion im Sinne einer genetischen Vulnerabilität die Entstehung oder die Entwicklung einer Borderline-Erkrankung begünstigen könnten (Kendler et al. 2008). Dem Temperamentsmodell Cloningers (1987) folgend, konnte eine Temperamentskonstellation bei Jugendlichen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gefunden werden (Kaess et al. 2013), die auch als prototypisch für die Borderline-Störung im Erwachsenenalter angesehen wird (Barnow et al. 2007; Cloninger 1987). Dieses Profil wird im Zusammenhang mit einem sogenannten Approach-Arousal-Konflikt in Verbindung gebracht, der für die von einer Borderline-Störung betroffenen Patienten als charakteristisch angesehen wird. Grundlage der unterschiedlichen Temperamentsausprägungen stellt nach Cloninger und Kollegen (1994) die unterschiedliche Balance bzw. Prädominanz einzelner Neurotransmittersysteme dar (Serotonin, Dopamin, Noradrenalin). So könnte beispielweise eine veränderte Synthese einer dieser biogenen Amine zur Ausgestaltung von Temperamentsfaktoren beitragen, wobei diese wiederum die Basis für eine spezifische Reagibilität auf Belastung und Ausformung einer Psychopathologie darstellen könnte. Die klinisch auffällige Koinzidenz von ausgeprägten externalen Symptomen und internalisierten Symptomen ist bei Jugendlichen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung charakteristisch und könnte Ausdruck der unterliegenden Temperamentsfaktoren (bzw. der Temperamentskonstellation) und weiterer assoziierter biologischer Faktoren sein (Kaess et al. 2013).
Eine genetische Studie bei Patienten mit einer Borderline-Störung im Erwachsenenalter ergab Hinweise auf eine bedeutsame Gene-Umwelt-Interaktion, sodass Individuen mit einem »sensitiven Genotyp« ein größeres Risiko besitzen, unter belastenden Umweltbedingungen eine Borderline-Persönlichkeitsstörung zu entwickeln (Kendler et al. 2008). Eine Studie fand...