2. Kapitel
Das Gespräch mit meinem Sohn
Nachdem ich allein den gesamten Weg vom Fluss bis zur Lichtung Anastasias zurückgelegt hatte, ging ich zu den bekannten Plätzen mit dem Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Dieses Mal holte mich niemand ab und ich genoss es sogar, allein und ohne Begleitung durch die Taiga zu laufen.
Ich rief Anastasia nicht. Vielleicht hatte sie ja auch zu tun, wenn sie fertig war und merkte, dass ich kam, kam sie von selbst.
Als ich unseren Lieblingsplatz am Ufer des Sees erblickte, wo Anastasia und ich so oft gesessen hatten, wollte ich mich zunächst umziehen, bevor ich mich hinsetzte und mich von dem Weg erholte.
Ich holte aus dem Rucksack einen dunkelgrauen knitterfreien Anzug, einen dünnen weißen Pullover und neue Schuhe. Als ich meine Sachen für die Reise in die Taiga packte, wollte ich auch ein weißes Hemd mit Krawatte mitnehmen, wovon ich dann Abstand nahm, da das Hemd knittern würde und in der Taiga kann man es nirgends bügeln. Aber den Anzug hatte man mir im Geschäft so verpackt, dass er nicht knittern konnte.
Ich wollte vor meinem Sohn elegant und feierlich erscheinen, daher investierte ich viel Zeit und Kraft, um mein Äußeres zu planen.
Auch nahm ich einen mechanischen Rasierapparat mit und einen Spiegel. Ich lehnte den Spiegel an einen Baum, rasierte und kämmte mich. Dann setzte ich mich auf einen kleinen Hügel und suchte nach einem Block und einem Stift, um das, was ich mir auf dem Weg überlegt hatte, noch zum Plan des Treffens mit meinem Sohn hinzuzufügen.
Mein Sohn wird bald fünf Jahre. Natürlich kann er schon sprechen. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er noch ganz klein, er sprach noch nicht, aber jetzt wird er schon vieles begreifen. Wahrscheinlich plappert er von früh bis spät mit Anastasia und mit den Großvätern. Ich hatte mir fest vorgenommen, dass ich, sobald ich Anastasia sah, mit ihr darüber sprechen würde, wie ich das Treffen mit meinem Sohn geplant hatte und was ich ihm sagen wollte.
Ich hatte fünf Jahre lang sorgfältig die verschiedensten Systeme der Kindererziehung studiert und mir daraus das für meine Begriffe Beste und Verständlichste entnommen. Ich hatte die für mich notwendigen Schlüsse daraus gezogen, indem ich mich mit Pädagogen und Kinderpsychologen unterhalten hatte. Jetzt wollte ich, bevor ich mich mit meinem Sohn traf, den von mir erarbeiteten Plan und die Schlussfolgerungen, die ich getroffen hatte, mit Anastasia besprechen und gemeinsam mit ihr alles nochmals detailliert durchdenken. Anastasia könnte mir raten, welche ersten Worte ich an meinen Sohn richten und welche Haltung ich dabei einnehmen sollte. Die Haltung ist auch wichtig, hatte ich mir gesagt. Der Vater soll seinem Kind bedeutend erscheinen. Aber zunächst einmal sollte Anastasia mich ihm vorstellen.
In meinem Block stand als erster Punkt: „Anastasia stellt mich meinem Sohn vor.“
Sie sollte es mit einfachen Worten tun, etwa in der Art: „Hier, mein Sohn, vor dir steht dein leiblicher Vater.“
Sie sollte diese Worte sehr feierlich aussprechen, damit das Kind an ihrem Tonfall gleich die Bedeutung seines Vaters spürte und ihm zuhörte.
Plötzlich merkte ich, dass alles um mich herum verstummte, wie alles sich anspannte. Ich hatte keine Angst vor der plötzlich eingetretenen Stille. So war es immer vor dem Treffen mit Anastasia in der Taiga. Die Taiga erstarrte mit all ihren Bewohnern buchstäblich, zuhörend, zur Vorsicht mahnend und abschätzend: Bringt der Ankömmling ihrer Herrin etwa Unannehmlichkeiten? Wenn sich dann herausstellt, dass keine aggressiven Absichten vorliegen, wird alles wieder ruhig.
An der eingetretenen Stille erkannte ich, dass Anastasia hinter mir leise herankam. Sie war auch daran unschwer zu erkennen, dass mir etwas von hinten quasi den Rücken wärmte. Und mit einem wärmenden Blick konnte nur Anastasia schauen. Ich drehte mich nicht sofort nach ihr um. Ich blieb einige Zeit so sitzen und spürte die angenehme wohltuende Wärme. Dann drehte ich mich um und erblickte …
Vor mir stand barfüßig und fest mein kleiner Sohn im Gras. Er war gewachsen. Seine dunkelblonden Haare fielen in kleinen Löckchen bis auf die Schulter. Er trug ein kurzes Hemd aus Nesselstoff ohne Kragen. Er ähnelte Anastasia, vielleicht auch etwas mir, aber das sieht man nicht sofort. So wie ich mich umgedreht hatte, mich mit den Händen abstützend, so sah ich ihn an, auf allen Vieren und alles in der Welt vergessend. Und auch er schaute mich schweigend an mit Anastasias Blick. Ich hätte vielleicht vor Erstaunen lange nichts sagen können, aber er brach als Erster das Schweigen: „Ich grüße deine guten Gedanken, Papa!“
„Ja, ich grüße dich natürlich auch“, antwortete ich.
„Entschuldige bitte, Papa.“
„Was soll ich entschuldigen?“
„Dass ich deine wichtigen Gedanken unterbrochen habe. Erst stand ich etwas weiter von dir weg, um nicht zu stören, aber ich wollte zu dir gehen und neben dir sein. Gestattest du, Papa, dass ich still neben dir sitze, bis du deine Gedankengänge zu Ende gebracht hast.“
„Ja. Gut. Natürlich, setz dich hin.“
Er kam schnell heran, setzte sich einen halben Meter von mir entfernt hin und verhielt sich still. Ich war so verdutzt, dass ich immer noch auf allen Vieren kniete, und als er sich setzte, dachte ich plötzlich: ’Ich muss eine Haltung einnehmen, die von tiefem Nachdenken zeugt, damit ich in der Zeit, in der ich meine wichtigen Gedanken, wie er meint, zu Ende bringe, überlege, wie ich mich weiter verhalten soll.‘
Ich nahm eine würdige Haltung ein und einige Zeit saßen wir nebeneinander und schwiegen. Dann wandte ich mich zu meinem kleinen Sohn, der sich neben mir ganz still verhielt, und fragte ihn:
„Nun, wie laufen deine Geschäfte?“
Er zuckte freudig zusammen, als er meine Stimme hörte, drehte sich zu mir und sah mir direkt in die Augen. Seinem Blick konnte ich entnehmen: Er bemühte sich, wusste aber nicht, wie er auf meine einfache Frage antworten sollte. Dann sagte er:
„Papa, ich kann auf deine Frage nicht antworten. Ich weiß nicht, wie die Geschäfte laufen. Hier läuft das Leben, Papa. Und es ist schön, das Leben.“
’Irgendwie muss ich das Gespräch fortsetzen‘, dachte ich, ’ich darf die Initiative jetzt nicht fallen lassen‘. Und so stellte ich noch eine Standardfrage:
„Und wie geht es dir? Hörst du auf deine Mama?“
Dieses Mal antwortete er sofort:
„Ich höre immer mit Freude zu, wenn Mama spricht. Und wenn meine Großväter etwas sagen, ist es für mich interessant zuzuhören. Ich erzähle ihnen auch und sie hören mir zu. Mama Anastasia meint, ich rede viel. Man solle mehr denken, sagt Mama Anastasia. Aber es denkt sich schnell bei mir, und sprechen möchte ich verschieden.“
„Wie meinst du das, verschieden?“
„Wie meine Großväter ein Wort nach dem anderen zusammensetzen, wie Mama und wie du, Papa.“
„Und woher weißt du, wie ich die Worte zusammensetze?“
„Mama hat es mir gezeigt. Es ist für mich sehr interessant, wenn Mama beginnt, mit deinen Worten zu sprechen.“
„Ja? Na so etwas … Nun, und wer willst du einmal werden?“
Wieder verstand er diese ganz gewöhnliche Frage nicht, die die Erwachsenen den Kindern so oft stellen, und er antwortete nach einer kurzen Pause:
„Nun, ich bin doch schon, Papa.“
„Ja, klar, du bist schon. Ich meinte, was du werden willst. Wenn du groß bist, was wirst du dann tun?“
„Ich werde du sein, Papa, wenn ich groß bin. Ich werde das zu Ende bringen, was du jetzt tust.“
„Woher weißt du, was ich tue?“
„Mama Anastasia hat es mir erzählt.“
„Was erzählt sie dir über mich?“
„Vieles. Mama Anastasia erzählt, was du für ein … wie heißt das Wort doch gleich … ach, ja – was für ein Held du bist, mein Papa.“
„Ein Held?“
„Ja, du hast es schwer. Mama möchte, dass du es leichter hättest, dass du unter den menschlichen Bedingungen ausruhen könntest, aber du gehst dahin, wo das Leben vielen Menschen schwer fällt. Du gehst deshalb, damit es auch dort schön wird. Es tat mir sehr leid, als ich erfuhr, dass es Menschen gibt, die nicht ihre eigene Lichtung haben, und dass man sie ständig in Schrecken versetzt und zwingt, so zu leben, wie sie es selber nicht wollen. Sie können ihre Nahrung nicht selbst nehmen. Sie müssen … ja, arbeiten, heißt das wohl. Sie müssen alles so...