DAS BUCH AUF DEM BODEN
Die Fotografie, die André Malraux in seinem Salon mit den ausgelegten Doppelseiten eines Bildbandes zeigt, ist eine geläufige Ikone der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts; weniger geläufig sind dagegen Format und Datum. Meist erscheint sie als Hochformat, und als Herstellungsjahr wird 1947 favorisiert, aber auch 1948 oder 1950 sind üblich. Diese Fotografie besitzt legendäre Züge also schon allein darin, dass sie sich einer korrekten Datierung gerne entzieht. Entsprechend vage bleiben dann auch die Bildunterschriften, die sich meist mit dem Hinweis begnügen, Malraux arbeite hier an seinem musée imaginaire, womit man nie ganz falsch, aber auch nie ganz richtig liegt.[1]
In ihrer Printkarriere hat diese Fotografie eine eher dekorative Rolle angenommen und ist durch viele Aufsätze und Bücher gewandert, ohne dort näher analysiert worden zu sein; manchmal schmückt sie sogar an prominenter Stelle einen Text, der überhaupt nicht auf sie eingeht.[2] Was aber soll die Funktion eines Bildzitats sein, wenn es im Text keine Rolle spielt? Es wird zur Bildungsbrosche, die sich Aufsätzen und Büchern anstecken lässt, um zu signalisieren, dass man die Idee des musée imaginaire wohl als bekannt voraussetzen darf, ohne eigens auf sie eingehen zu müssen. Markant ist manchmal aber auch das Fehlen dieser Fotografie. So geht Jean-François Lyotard in seiner ausführlichen Malraux-Biografie an keiner Stelle auf sie ein, was umso auffälliger ist, als er die enorme Bedeutung, die Malraux dem Fotoportrait beimaß, durchaus würdigt.[3] Das ist insgesamt eine unbefriedigende Diagnose, aus der die folgende Bildbetrachtung das Recht zu einer gewissen Ausführlichkeit und Genauigkeit ableitet.
Ein blendendes Bild
Hält man einen Abzug in Händen, der die quadratische Fotografie vollständig wiedergibt, lässt sich ein hoch auflösendes Bild von einer solchen Detailtreue bewundern, dass man als Aufnahmegerät eine Plattenkamera vermuten möchte. Es kann sich aber auch um eine 6 × 6-Kamera mit einem feinkörnigen Film gehandelt haben. Nahezu alle Abbildungen auf dem Boden sind zu identifizieren und damit auch das Buch, dem sie entstammen. Es ist der Tafelband Des Bas-reliefs aux grottes sacrées, der zweite Band der zweiten Buchtrilogie Malrauxs, die den Gesamttitel Le Musée imaginaire de la sculpture mondiale trug und zwischen 1952 und 1954 bei Gallimard erschien.
Laut Impressum ist er im Mai 1954 gedruckt worden; die Fotografie ihrerseits wurde von Maurice Jarnoux für eine Reportage der Illustrierten Paris Match angefertigt, die am 19. Juni 1954 erschienen ist.[4]Malraux hat sich demnach im Frühjahr 1954 mit den Doppelseiten seines aktuellen Buches für eine Illustriertengeschichte so souverän in Szene gesetzt, dass ihm die Kunstgeschichte dabei buchstäblich zu Füßen lag. Es gibt wohl kaum ein Portrait der Moderne, in dem die Heldenrolle des Kunsthistorikers so gelassen imperial, intellektuell kokett, zurückhaltend pompös und inszenatorisch raffiniert zur Geltung käme wie in dieser Fotografie. Auch wenn andere Kunsthistoriker versucht haben mögen, sich zu Kulturhelden zu stilisieren, ist es doch wohl keinem gelungen, sich so einprägsam und beiläufig zugleich zu präsentieren wie hier Malraux, der – wie mancher in dieser Hinsicht zu kurz gekommene Ordinarius grollen mag – das Fach noch nicht einmal studiert hatte!
Hier geht es aber nicht nur um die Heroisierung eines Kunstpublizisten, sondern auch um eine moderne Variante des Sammlerportraits. Die Sammlungsstücke sind zwar nur als reproduzierte Fotografien präsent, mit ihnen sind aber Bildwerke aus allen Kontinenten und aus drei Jahrtausenden versammelt – in einem selbstbewussten Zugriff auf das, was bis heute, wie problematisch auch immer, «Weltkunst» heißt. Dieser Zugriff gelang nur mit Hilfe der Fotografie, welche die Tradition der Museumssammlung zugleich aufgreift und aussetzt, indem sie die Lokalgebundenheit der Objekte in Reproduktionen aufhebt und diese untereinander beliebig kombinierbar macht – genau das war die Pointe des musée imaginaire. Die imaginäre Musealisierung besteht in einer mediengestützten Levitation, bei der die schwersten Steinskulpturen in eine Buchillustration verpflanzt werden können, sogar solche, die sich überhaupt nicht bewegen lassen, weil sie als Denkmäler oder Architekturschmuck ortsfest sind.
An der Idee eines musée imaginaire war zudem bestechend, dass sich der Reichtum der Kunst auf den Seiten eines Buches umfassender darstellen und ordnen ließ als in wirklichen Museen: In Fotografien kann man nebeneinander stellen und vergleichen, was ansonsten weltweit auf verschiedene Häuser verstreut ist. Der Triumph der beweglichen Fotografie über die Schwerfälligkeit der Bildwerke, den wir hier inszeniert sehen, war zugleich einer über die Kontingenz der Museumslandschaft. In Zeiten digitaler Bildspeicher, in denen viele Museen ihre Exponate ins Internet stellen, mag ein solcher Auftritt nicht mehr als besonders triumphal erscheinen. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts konnte Malraux sein musée imaginaire aber mit einem gewissen Recht als Paradigmenwechsel in der Tradition des Sammelns ausgeben – als einen Durchbruch des Geistigen im Umgang mit der materiellen Erscheinung des Kunstwerkes, als eine Intellektualisierung der Kunstwahrnehmung durch die Reproduktion. Auch wenn Malraux weder die Fotografie noch das Buch erfunden hatte, noch deren Kombination zum Bildband, vereinte seine Idee des imaginären Museums diese Elemente zu einer Erfolgsformel der Kunstvermittlung; das mit fotografischen Reproduktionen illustrierte Kunstbuch erhob er zum Zentralorgan des musée imaginaire.[5]
Wie das musée imaginaire die passende Formel für eine Apotheose der modernen Kunstpublizistik lieferte, stellte die Fotografie von Jarnoux die passende Ikone: Mit ihr konnte sich Malraux, im Alter von 53 Jahren, in seinem Salon als der prominenteste Kunsthistoriker seiner Zeit präsentieren. Dabei setzte er sich wie ein Autor in Szene, der gerade mit dem Layout seines jüngsten Buchprojektes beschäftigt ist. Auf den ersten Blick meint man jedenfalls, Zeuge einer Arbeitssituation zu sein, in der es um die Festlegung der Bildstrecke geht. Nimmt man aber das fertige Buch, dessen Druckseiten hier ausgelegt sind, zur Hand, bemerkt man, dass sich die Reihenfolge der Abbildungen auf dem Boden keineswegs mit der des Buches deckt. Auf dem Boden liegen sie in Bildnachbarschaften, in denen sie gedruckt wurden, und nicht in jenen, die sie erst bei der Bindung des Buches eingehen, wenn die gefalzten Doppelseiten bündig ineinander gelegt und geheftet worden sind. Offensichtlich hat Malraux die Druckseiten einem Aushänger entnommen, wie man in der Branche die schon in der richtigen Reihenfolge ineinander gelegten, aber noch nicht gebundenen Doppelseiten nennt.
Gut die Hälfte der Abbildungen des Buches ist hier zu sehen, die andere liegt mit dem Gesicht zum Boden. Rätselhaft ist jedoch, warum die Bildseiten für Malraux nur auf dem Kopf zu sehen waren. Zwar ist für ihn eine Lücke freigeräumt worden, als befände sich dort der Kommandoposten für fällige Layout-Entscheidungen; ein solcher Überblick ist aber nur von der Galerie möglich, deren Handlauf am rechten unteren Bildrand zu erkennen ist. Auch die enge Reihung der Doppelseiten spricht gegen eine Arbeitssituation: Jeder, der einmal die Bildstrecke für ein Buch ausgelegt hat, weiß, dass man so nicht arbeiten kann, denn es fehlt jener Abstand zwischen den Bilderreihen, der es erlauben würde, sich unter ihnen zu bewegen und Konstellationen zu prüfen oder sogar abzuändern.
Um die Festlegung einer Bildstrecke kann es hier also nicht gegangen sein; das Arrangement der Buchseiten ist vielmehr auf den Fotografen und damit auf den späteren Betrachter hin inszeniert worden. Da man die Aussparung zu Füßen Malrauxs nicht als Kommandostellung für eine Layoutprobe betrachten kann, erscheint der zackige Halbkreis nun wie ein optischer Sockel, wie eine wohnliche Variante in der Ikonografie des Heroischen. In solchen und anderen Details verrät sich das Konstruierte dieser Arbeitssituation: Hier wird nicht gearbeitet, sondern Arbeit repräsentiert – diese Aufnahme ist nicht nur eine großartige Fotografie, sie ist zugleich ein blendendes Bild.
Zimmerreise
Hat man die Fotografie von Jarnoux als Inszenierung durchschaut, gerät der gesamte Raum in Verdacht, ein Bühnenbild zu sein, und lädt zu einer genaueren Betrachtung ein. Beginnt man damit am oberen Bildrand, so sind dort zwei übereinander gestaffelte Buchreihen zu sehen, welche die Fensterbank und die Abdeckung über dem Heizkörper in Beschlag nehmen. Die obere Reihe lässt sich als Auswahl aus der Bibliothèque de la Pléiade identifizieren. Die Reihe wurde seit 1930 bei Gallimard verlegt; drei Jahre nach dieser Fotografie, 1957, sind auch Malrauxs frühe Romane der späten 1920er und 1930er Jahre in sie aufgenommen worden. Als Kanon der Weltliteratur, mit einem Schwerpunkt in der französischen Nationalliteratur, lässt sich die Pléiade übrigens auch als...