1.
«Weißt du, was du sahst?»
Das Wagner’sche «Musikdrama»
als permanente Herausforderung
Es gehört zu den Ironien rund um sein Werk, dass der Begriff des «Musikdramas», der gemeinhin eng mit diesem verbunden wird, gar nicht von Wagner stammt, sondern von seinem Zeitgenossen Theodor Mundt (1808–1861) – und dass Wagner selbst diesen Begriff später vehement ablehnte. Mundt hatte im Juni 1831 – da war Wagner gerade 18 und, nun ja, Student in Dresden – in den Leipziger Blättern für literarische Unterhaltung einen klugen Aufsatz veröffentlicht: «Ueber Oper, Drama und Melodrama in ihrem Verhältniß zu einander und zum Theater». Mit Rossini und seiner Kunst des virtuosen Gesangs, so Mundt, habe die Oper angefangen, das Drama «auf dem Theater zu verdrängen» und zu einer «Modekunst» zu werden. Infolgedessen würden viele Dramatiker zum vermeintlichen Erfolgsrezept musikalischer Begleitung greifen. Ergebnis dieses «Hülferuf(s) der vom Zeitgeschmack verlassenen dramatischen Dichtkunst» sei das Melodram, in dem die Musik leider immer «untergeordneter und bedeutungsloser angewendet» worden sei, so dass man unter einem Melodram gegenwärtig meist nur noch «ein raffinirtes Mordspectakelstück mit möglichstem Criminalschauder» verstehe. Obwohl die Oper «ihrer Natur nach als ein musikalisches Drama zu betrachten» sei, bedürfe es daher eines neuen Begriffes, mittels dessen sie sich von jener «Gattung von musikalischem Drama, in welchem die Musik nur als Intermezzo mitspielte» unterscheiden lasse. Mundt bezieht sich hier wohl auf die Gattung der Schauspielmusik, zur der etwa Beethovens Musik zu Goethes Egmont zählt. Diese unterscheide sich jedoch wesentlich «von der Oper als dem in der Einheit von Dichtkunst und Tonkunst gegründeten Musikdrama».
Die Oper in diesem umfassenden Sinne wieder auf die Höhe ihrer Möglichkeiten zu bringen, sei «ein ästhetisches Projekt», das «eine zukünftige Umgestaltung der Theaterkunst» erforderlich mache. Das wäre wohl Musik in Wagners Ohren gewesen, wenn er Mundts Text gekannt hätte – was vermutlich nicht der Fall war. Wagners Bühnenwerke als «Musikdramen» zu klassifizieren setzte sich nämlich erst mehr als dreißig Jahre später durch. Weshalb seine knappe Polemik aus dem Jahre 1872 (Über die Benennung ‹Musikdrama›) denn auch recht spitzfindig daherkommt, indem Wagner – grammatikalisch korrekt – mutmaßt, mit diesem Kompositum sei, wenn überhaupt etwas, so doch nur ein «Drama zum Zweck der Musik», ergo «das altgewohnte Opernlibretto» gemeint. Weshalb das ‹Musikdrama› am Ende nicht mehr sei als ein «bequemes Nest», das jedem «zum Ausbrüten seiner musikalischen Eier bereit liege».
Dabei hätte ein Blick in Mundts Text (der um den Begriff selbst übrigens kein großes Wesen macht) Wagner eine gewisse Nähe ihrer beider Überlegungen erkennen lassen können. Denn Mundt definiert das Drama durch seine «scharf und consequent durchgeführte Dialektik der Handlung». Dagegen bringe es die «lyrische Natur der Musik» mit sich, dass das Musikdrama «diese Handlung zu einem ganz andern Zwecke» auffasse, «nämlich um die der Handlung inwohnende Lyrik daraus hervorzubilden». Weshalb es in der Oper denn auch mehr um «das Phantasiren des Affects, die Musik der Leidenschaft, die Lyrik des Charakters, den in Töne aufgelösten Sinn der Handlung, als den Affect, die Leidenschaft, den Charakter und die Handlung selbst» gehe. Nichts anderes meinte Wagner im Kern, als er 1851 in der umfassendsten seiner ‹Reformschriften› – Oper und Drama – schrieb:
Vor dem dargestellten dramatischen Kunstwerke darf Nichts mehr dem kombinirenden Verstande aufzusuchen übrig bleiben: (…) Im Drama müssen wir Wissende werden durch das Gefühl. Der Verstand sagt uns: so ist es erst, wenn uns das Gefühl gesagt hat: so muß es sein. Dieß Gefühl wird sich aber nur durch sich selbst verständlich: es versteht keine andere Sprache, als seine eigene. (…) Eine Handlung kann daher nur dann im Drama erklärt werden, wenn sie dem Gefühle vollkommen gerechtfertigt wird, und die Aufgabe des dramatischen Dichters ist es somit, nicht Handlungen zu erfinden, sondern eine Handlung aus der Nothwendigkeit des Gefühles der Art zu verständlichen, daß wir der Hilfe des Verstandes zu ihrer Rechtfertigung gänzlich entbehren dürfen.
Das ist etwas umständlich formuliert, aber im Grunde leicht zu verstehen. Nach Tolstois unübertroffen knappem Diktum ist Musik «Stenographie der Gefühle». Am Verstand vorbei – modern gesprochen: über unser vegetatives Nervensystem – löst Musik unmittelbare affektive Reaktionen aus. Auch für Wagner ist es vor allem die Musik, die das im Drama Dargestellte – Handlung, Konflikte, Motive der Protagonisten – dem Zuschauer zur sinnlichen Gewissheit bringt. Hinzutreten dann sämtliche anderen auf die Sinne wirkenden Bühnenkünste: etwa Ausdruck, Bewegung, Kostüm oder Szenerie. Und nur der Affekt, der in die Richtung seines intendierten Gehaltes gelenkt wird, kann dann im Nachgang auch wieder zur rationalen Reflexion des «Dramas» und seiner Gehalte drängen.
Die zentrale Differenz zur (barocken) musikalischen Rhetorik und der dahinter stehenden Affektenlehre liegt denn auch nicht in der grundsätzlichen Suprematie des musikalisch ausgedrückten Gefühls, sondern in zwei anderen Punkten: Erstens darin, dass Wagners Musik sich einer rhetorischen (und das heißt: rationalen) Aufschlüsselung im Sinne halbwegs verbindlicher Relationen zwischen musikalischen Figuren und bestimmten Affekten verweigert. Und zweitens darin, dass Wagner die Ansprache des Gefühls hauptsächlich dem Orchester – wohlgemerkt: einem Orchester, dem er eine völlig neue Fülle an Klangfarben und -schattierungen entlockt – überantwortet, weniger seinem tendenziell deklamatorischen Gesang.
Aber auch für Wagner kann allein das Gefühl «zur Theilnahme fesseln», wie er in Oper und Drama darlegt. Im «vollendetsten Kunstwerke» teile dessen Schöpfer seine Absicht «durch Verwendung aller künstlerischen Ausdrucksfähigkeiten des Menschen (…) an die unmittelbarsten Empfängnißorgane des Gefühles, die Sinne», mit. Musik, Handlung und Szene müssten dabei eine «sympathetische Wirkung» hervorbringen. Anders gesagt: Vor das Verstehen setzen Musik und szenische Darstellung eine rational nicht steuerbare Identifikation mit dem Dargestellten. Der Zuschauer wird aus seinen Vorurteilen, aus seinem Alltagsstandpunkt, aus seinem bloßen Meinen über Liebe, Macht, Verrat, Gier – oder was immer sonst im Drama verhandelt wird – herausgerissen und in die ihm zunächst fremde Perspektive des Bühnengeschehens hineingezogen. Wagners ästhetisches Programm: Verfremdung durch Empathie, Erzeugung von Empathie durch kalkulierte Überwältigung. In des Meisters sperriger Syntax:
Aus diesem Mitgefühle gelangt er ebenso unwillkürlich zum Verständnisse seines eigenen individuellen Wesens, wie er an den Gegenständen und Gegensätzen seines Fühlens und Handelns (…) auch das Wesen dieser Gegensätze erkennen lernte, und zwar dadurch, daß er, durch lebhafte Sympathie für sein eigenes Bild aus sich herausversetzt, zur unwillkürlichen Theilnahme an dem Fühlen und Handeln auch seiner Gegensätze hingerissen, zur Anerkennung und Gerechtigkeit gegen diese, die nicht mehr seiner Befangenheit im wirklichen Handeln gegenüberstehen, bestimmt wird.
Doch Wagner zielt letztlich nicht auf die willenlose Hingabe seines Publikums, sondern auf dessen geistige Mobilisierung. Wir sollen uns in der Begegnung mit einem Werk mit unserer Lebenswirklichkeit auseinandersetzen. Und zu dieser zunächst individuellen Lebenswirklichkeit gehören untrennbar deren gesellschaftliche, politische oder ökonomische Rahmenbedingungen. Wenige Komponisten waren so dezidiert politische Künstler wie Richard Wagner. Das schließt das unauslöschliche Schandmal seines Antisemitismus ebenso ein wie irrlichternde Wandlungen seines Weltbildes oder einen immer wieder aufkeimenden Hang zum Opportunismus gegenüber mächtigen Geldgebern. Doch im Grunde seines Herzens blieb Wagner zeitlebens der utopische Anarchist der 1848er Jahre. In seinem Denken, vor allem aber in seiner Kunst sägte er konsequent kritisch an den tragenden Säulen der bürgerlichen Welt: Staat und Macht, Eigentum, Religion, Ehe und Familie. Vor allem der Politikwissenschaftler Udo Bermbach hat das in mehreren seiner Bücher schlüssig dargelegt.
Doch ob man Wagner nun «links» oder «rechts» wendet – der größte Irrtum wäre stets, aus seinen Schriften, gar aus seinen Werken ein «Programm» herauslesen zu wollen. Wagner war kein systematischer Denker, eher ein «synkretistischer Grübler» (Jochen Hörisch), der unterschiedlichste, bisweilen sogar diametral gegensätzliche Quellen...