Einleitung
Meine Amtszeit als zehnter Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland dauerte vom 30. Juni 2010 bis zum 17. Februar 2012. Das sind 598 Tage, keine zwei Jahre. Die Amtszeit ist durch die 67 Tage am Schluss, als ich mich in einer von der Bild-Zeitung am 12. Dezember 2011 eröffneten, über zwei Monate dauernden Treibjagd zum Rücktritt gezwungen sah, in den Nebel gerückt. Nicht nur in der Wahrnehmung der Bürger hat sich seither ein Schatten über meine Präsidentschaft gelegt. Auch ich selber kann mich, wenn ich über meine Amtszeit nachdenke, nicht ohne weiteres von den Erinnerungen freimachen, die mit den entwürdigenden Umständen verbunden sind, die zu meinem Rücktritt geführt haben.
Nach 14-monatigen Ermittlungen wurde im April 2013 vor dem Landgericht Hannover Anklage gegen mich erhoben. Am 27. Februar 2014 erfolgte der Freispruch. Am 7. Mai 2014 erhielt ich die schriftliche Urteilsbegründung. Am Schluss der Hauptverhandlung appellierte der Vorsitzende Richter an die Vertreter der Medien und bat um Fairness: Ein Freispruch bedeute, dass der Beschuldigte «uneingeschränkt unschuldig» ist, ohne Wenn und Aber.
Als im Laufe der Ermittlungen alle Anschuldigungen in sich zusammenbrachen, entwickelten diejenigen Journalisten, die am eifrigsten meinen Rücktritt betrieben hatten, eine merkwürdige Rechtfertigungsstrategie. Nachdem auch der letzte verbliebene Vorwurf ausgeräumt war, hielten sie mir vor, mein Umgang mit den Vorwürfen sei unprofessionell gewesen. «Es bleibt eben immer etwas hängen», schrieb ein Redakteur des Berliner Tagesspiegels im Mai 2012, als die Berliner Staatsanwaltschaft mitteilte, es gebe keine Anhaltspunkte zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Trotzig, geradezu tollkühn fügte der Journalist hinzu: «Und in seinem Fall muss man wohl leider sagen: zu Recht!» Wer moralisch auf so hohem Ross sitzt, kann einen Freispruch nur als Fußnote begreifen.
Der Rücktritt war richtig, der Prozess ist falsch, entschied der Chefredakteur der Bild-Zeitung am Tag des Prozessbeginns. Unter der Überschrift «Bestraft genug!» war da zu lesen, ich stünde nur wegen der «Kleinlichkeit und Verbissenheit der Staatsanwälte» vor Gericht, die mit der Einleitung von Ermittlungen meinen Rücktritt ausgelöst und jetzt Angst hätten, keine Beweise liefern zu können. Statt sich auf juristische Kriterien zu beschränken, habe die Justiz «politisch gedacht und gehandelt» und deshalb das Verfahren eröffnet. Dabei sei die Sache politisch doch längst entschieden – und zwar, so hätte Kai Diekmann der Vollständigkeit halber vielleicht hinzufügen sollen, unter Einsatz sämtlicher Mittel und Möglichkeiten, die dem Springer-Verlag zur Verfügung standen. Wer bestimmt den Kurs in diesem Land, so schien der Chefredakteur in seinem Kommentar zu fragen: die Bild-Zeitung oder ein Richter am Landgericht Hannover?
Am Tag nach meinem Rücktritt hatte Kai Diekmann noch ganz anders argumentiert. Weil die Politik versagt habe, sei es «dem Staatsanwalt in Hannover umso höher anzurechnen, dass ER seine Pflicht getan hat und Ermittlungen eröffnet. Dieser Staatsanwalt rückt zurecht, was die Politik verrutschen ließ. Dass vor dem Gesetz alle gleich sind.» Auf derselben Seite fand sich unter der Überschrift «Das ist der mutige Staatsanwalt, der Wulff zu Fall brachte» ein ausführliches Porträt des «Top-Juristen». Zwei volle Doppelseiten widmete das Blatt meinem Rücktritt und dokumentierte voller Stolz noch einmal die eigenen Artikel: «So deckte Bild die Wulff-Affäre auf».
Mein Freispruch hat die mediale Vorverurteilung nicht aufwiegen können. Die Wiederherstellung meiner Ehre im staatsbürgerlichen Sinn ersetzt nicht den Verlust meiner Ehre als öffentliche Person. Das Wulff-Bashing begann am Tag nach meiner Nominierung für das Amt des Bundespräsidenten. Tausende haben seither ihre Ansicht über den Fall zehntausendfach verbreitet, und alle haben sich dabei ins rechte Licht zu rücken gewusst. Ich habe mich bisher nur vor Gericht geäußert. Jetzt lege ich meine Sicht der Dinge dar. Es ist eine Perspektive, die wichtig für das Verständnis des Ganzen ist.
«Glück gehabt» – so lautete lange Zeit mein Arbeitstitel für dieses Buch. Glück gehabt, diese Wendung entspricht meinem Seelenzustand. Dafür gibt es drei Gründe.
Erstens lebe ich in einem wunderbaren demokratischen Land, das heute überall in der Welt Anerkennung, ja Bewunderung findet. Dieses Land hat mir die Möglichkeit gegeben, aus einfachen Verhältnissen bis an die Spitze des Staates aufzusteigen. Weil ich dieses Land liebe und nie vergessen habe, welche Gestaltungsmöglichkeiten ich ihm verdanke, konnte ich es mit großer Überzeugung als Staatsoberhaupt nach innen und außen vertreten. Manches, was ich anpackte, war erfolgreich, manches wirkt über den Tag hinaus – und manches kam vielleicht zu früh.
Zweitens lebe ich in einem Rechtsstaat, und das bedeutet, dass ich bei allem, was mir widerfahren ist, am Ende einen fairen Prozess und ein gerechtes Urteil erwarten konnte.
Drittens habe ich in den mehr als zwei Jahren seit meinem Rücktritt die beglückende Erfahrung gemacht, was es heißt, in der Not wahre Freunde zu haben, die auch in den Momenten großer Verzweiflung für mich da waren.
«Glück gehabt» wäre jedoch ein sonderbarer Titel für ein Buch, in dem es vor allem und in erster Linie um eine Grenzerfahrung geht.
Eine 24-köpfige Ermittlergruppe des Landeskriminalamtes hat mein gesamtes Leben durchleuchtet. Bis in die Schulzeit reichten die Nachforschungen. Das Ergebnis ist niedergelegt auf 30.000 Seiten Hauptakten. Am Ende wurde Anklage erhoben wegen des Verdachts der Vorteilsannahme beim Münchner Oktoberfest 2008. Die Große Strafkammer am Landgericht Hannover setzte 22 Verhandlungstage an. Die Aufklärung der gegen mich erhobenen Vorwürfe dürfte insgesamt 4 bis 5 Millionen Euro gekostet haben. Der Ermittlungsaufwand entsprach sicher der allgemeinen Erwartung, stand aber schon bald in keinem Verhältnis mehr zu den Anschuldigungen.
Im Zuge der Ermittlungen gegen mich wurden Grundrechte eingeschränkt wie die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Fernmelde- und Postgeheimnis, das Bank- und Steuergeheimnis, die Verschwiegenheitspflicht – alles beiseite geschoben zum Zwecke der Wahrheitsfindung. Ich habe es akzeptiert. Aber was ich bis heute nicht akzeptieren kann, sind die Durchstechereien aus den Reihen der niedersächsischen Justiz. Mit der widerrechtlichen Veröffentlichung privatester Details aus laufenden Ermittlungen heraus suchte man mich in der Öffentlichkeit stets aufs Neue zu diffamieren.
Bei der Ermittlung einer Straftat gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Er wurde in meinem Fall ebenso wenig beachtet wie ein weiterer elementarer Grundsatz des Rechtsstaates, die Unschuldsvermutung. Beide Prinzipien waren zuvor bereits in Medien aufgehoben worden. Im Grunde musste die Staatsanwaltschaft zu der öffentlichen Hinrichtung meiner Person nur noch die erforderlichen Papiere nachreichen. Genau dies aber gelang nicht, weil das Gericht keine Schuld feststellen konnte. Im Kampf zwischen Medien und Politik geht es allerdings längst nicht mehr um die Feststellung von Schuld und Unschuld: Das Urteil ist gefällt, bevor der Prozess begonnen hat.
Verdruss und Abscheu über die medialen und juristischen Exzesse reichten weit in die Bevölkerung hinein. Viele Menschen haben gespürt, dass unter dem Mantel der journalistischen Aufklärungspflicht Regeln von Moral und Anstand massiv verletzt wurden. Die Brutalität, mit der ein von seiner eigenen Macht berauschter Sensationsjournalismus ungeniert freche Schlagzeilen produzierte, wirkte auf viele Bürger mit Recht befremdlich und abstoßend. Die vielen Solidaritätsbekundungen und aufmunternden Zuschriften, die ich aus allen Bevölkerungskreisen während der letzten zweieinhalb Jahre bekommen habe, erfüllen mich mit Dankbarkeit.
Wenn ich heute beim Einkaufen oder im Café von Bürgern angesprochen und gefragt werde, wie ich das alles bloß ausgehalten hätte, wundere ich mich bisweilen selbst. Ich verspüre in solchen Gesprächen grundsätzliche Sympathie und Zustimmung. Aber auch Verunsicherung. Viele Menschen können sich die Unverhältnismäßigkeit nicht erklären und fragen, welche Interessen es gab, mich noch über meinen Rücktritt hinaus so gnadenlos zu verfolgen. Personalisierung und Skandalisierung haben in meinem Fall ein Ausmaß erreicht, das bei vielen Bürgerinnen und Bürgern über die allgemeine Politik- und Medienverdrossenheit hinaus Zweifel an den Mechanismen der Demokratie genährt hat.
Vertreter der «vierten Gewalt», der Medien, pochten darauf, dass die Öffentlichkeit ein Recht habe, von Anfang bis Ende über alles informiert zu werden, über jede Kontobewegung und jede Essenseinladung. Die «Zurschaustellung» meines Privatlebens sei ihr «unangemessen, skandallüstern und übertrieben» erschienen, sagte später sogar die Vorsitzende von Transparency International, der weltweit tätigen Instanz zur Bekämpfung der Korruption, Edda Müller, im März 2014 und warnte vor «medialer Form von Lynchjustiz».
Mit diesem Buch möchte ich meinen Beitrag dazu leisten, dass wir das Verhältnis zwischen Medien und Politik neu justieren. Deshalb habe ich...