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E-Book

Anerkennung und Teilhabe für entwicklungsgefährdete Kinder

Leitideen in der Interdisziplinären Frühförderung

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl290 Seiten
ISBN9783170285910
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis35,99 EUR
Anerkennung und Teilhabe sind als Leitbegriffe nicht nur richtungsweisend für die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen und Benachteiligung. Sie prägen auch sehr konkret in der Frühförderung die praktische Förderarbeit mit den Kindern, mit den Eltern und Familien, aber auch das professionelle Selbstverständnis der Fachkräfte. Teilhabe als aktives Beteiligtsein mit seiner rechtlichen Dimension bedarf der Ergänzung und Vertiefung durch die Leitidee der Anerkennung auf der Ebene der solidarischen Zuwendung und Wertschätzung. Der Band beleuchtet vor diesem Hintergrund die Aufgaben der Interdisziplinären Frühförderung in den Bereichen Kind/Familie/Lebenswelt neu, um soziale Ausschließungstendenzen für die Kinder und ihre Eltern zu reduzieren.

Professorin Dr. Lilith König und Professor Dr. Hans Weiß lehren an der Fakultät für Sonderpädagogik der PH Ludwigsburg.

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Leseprobe

Anerkennung und Teilhabe


Dieter Katzenbach


 

 

Der Begriff der Anerkennung hat in der pädagogischen Fachliteratur der letzten Jahre eine zunehmende Resonanz gefunden (Stojanov 2006; Dederich & Jantzen 2009; Prengel 2013). Es ist ja auch unmittelbar einsichtig, dass pädagogische Beziehungen auf wechselseitiger Anerkennung und Wertschätzung aufbauen sollten. Der pädagogische Diskurs über Anerkennung greift aktuelle sozialphilosophische Überlegungen auf und geht insofern über das Alltagsverständnis des Begriffs hinaus. Ich sehe den Gewinn, den die Pädagogik, insbesondere die Behindertenpädagogik, aus der Bezugnahme auf die Anerkennungstheorie ziehen kann, vor allem in drei Punkten:

•  Zunächst ist im Begriff der Anerkennung das die Pädagogik stets beschäftigende Verhältnis zwischen Individualität und Sozialität anthropologisch tief verankert: Es ist der Einzelne, der nach Anerkennung verlangt, die ihm nur die Anderen gewähren können.

•  Zudem dürfte der Begriff der Anerkennung geeignet sein, um die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung zu analysieren, die häufig durch ihr Gegenteil, das Vorenthalten von Anerkennung beziehungsweise durch die Erfahrung von Missachtung gekennzeichnet sein dürfte.

•  Und schließlich scheint mir der Begriff der Anerkennung gut geeignet zu sein, um das Verhältnis zweier für die Behindertenpädagogik zentraler Leitvorstellungen, nämlich die Orientierung an Selbstbestimmung einerseits und sozialer Teilhabe andererseits, präziser zu bestimmen, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe (vgl. Katzenbach 2004).

1          Teilhabe, soziale Integrität und Anerkennungsverhältnisse: die sozialphilosophischen Hintergründe


Der aktuelle Diskurs um den Begriff der Anerkennung geht unter anderem auf Beiträge des kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor (1992) zurück, der die Bedeutung von Anerkennung zunächst im Kontext des Multikulturalismus formulierte. Anerkennung ist für ihn mehr als nur ein Ausdruck von Höflichkeit, Anerkennung beantworte vielmehr »ein menschliches Grundbedürfnis« (Taylor 1992, 15), wohingegen Nicht-Anerkennung oder Verkennung eine Form der Unterdrückung darstelle und in ein falsches, deformiertes Dasein führe (ebd.).

Der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth greift diese Überlegung auf und spricht sogar von einem »Kampf um Anerkennung« (1992). Er will damit zum Ausdruck bringen, wie tief dieses Bedürfnis nach Anerkennung im Menschen verwurzelt ist. Konflikte zwischen Individuen, sozialen Gruppen oder auch zwischen Staaten seien nicht allein aus der Konkurrenz um knappe Güter wie Geld, Macht, Land etc. zu verstehen. Honneth hält dem die historische Beobachtung entgegen:

»Ohne die zusätzliche Empfindung verletzter Würde wäre die bloße Erfahrung wirtschaftlicher Not und politischer Abhängigkeit historisch nie zu einer Antriebskraft von praktischen Umsturzbewegungen geworden: der ökonomischen Entbehrung oder der sozialen Unterdrückung hatte stets das Gefühl hinzuzutreten, in dem Anspruch auf die Integrität der eigenen Person missachtet zu werden, bevor sie zum motivationalen Anlass von revolutionären Erhebungen werden konnten.« (Honneth 1990, 1052)

Honneth spricht von einer »neuen Grammatik sozialer Konflikte« (ebd.) und erklärt diese nicht über Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, sondern sieht den Kampf um Anerkennung als grundlegender an (vgl. hierzu die aufschlussreiche Kontroverse in Fraser & Honneth 2003).

2          Drei Formen der Anerkennung: Liebe, Recht und Solidarität


Für die Pädagogik besonders aufschlussreich ist es, dass Honneth den Begriff der Anerkennung noch einmal in drei elementare Formen differenziert, nämlich in 1. Liebe, 2. Recht und 3. Solidarität/Leistung.

•  In der Anerkennungsform der Liebe geht es primär um emotionale Zuwendung oder, abstrakt gesprochen: um die gegenseitige Bestätigung und Anerkennung unserer Bedürfnisnatur und unserer wechselseitigen Abhängigkeit. Wichtig dabei ist, dass diese Form der Anerkennung an konkrete Personen in ihrer Einzigartigkeit gebunden ist, sich also auf Primärbeziehungen, wie Eltern-Kind-Verhältnisse, auf Freundschaften oder erotische Partnerschaften bezieht. Anders als etwa das Gebot der christlichen Nächstenliebe ist diese Anerkennungsform auf bestimmte Personen bezogen und kann nicht auf alle Menschen verallgemeinert werden. Geliebt werden wollen wir um unserer selbst willen, vorbehaltlos und auch nicht aufgrund besonderer Fähigkeiten oder Fertigkeiten.

•  Im Gegensatz dazu geht es bei der zweiten Anerkennungsform, dem Recht, um kognitive Achtung, in Honneths Worten: um die gleichberechtigte Teilnahme am Prozess diskursiver Willensbildung. Zentral ist hier, sich als Gleicher unter Gleichen zu erleben; das heißt, mit den gleichen Rechten und Pflichten ausgestattet zu sein, wie alle anderen Gesellschaftsmitglieder auch. Dies ist, anders als die Liebe, ein universelles Prinzip, das auf alle Personen Anwendung zu finden hat, egal, ob man mit ihnen bekannt ist oder nicht.

•  Als dritte Anerkennungsform nennt Honneth die Solidarität beziehungsweise die Leistung. Hier geht es um soziale Wertschätzung, um eine wechselseitige Anteilnahme an den je unterschiedlichen Lebenswegen, die mehr ist als ein schlichtes »leben und leben lassen«. Vielmehr geht es um die Würdigung des eigenen Beitrags zum Wohle der Gesellschaft auf der Basis eines geteilten Wertesystems und hier, im Unterschied zur Anerkennungsform der Liebe, um die Wertschätzung der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten.

Diesen drei Formen der Anerkennung entsprechen drei Formen der Missachtung: Der Liebe stellt Honneth die physische Demütigung als fundamentalste Art und Weise der Entwürdigung gegenüber; also Akte wie Folter, Vergewaltigung, Misshandlung oder Missbrauch. Dem Recht korrespondiert die Missachtungsform der Entrechtung und des sozialen Ausschlusses, also die Situation, nicht Gleicher unter Gleichen zu sein. Die der Solidarität korrespondierende Missachtungsform besteht in der individuellen oder kollektiven Entwertung der Lebensform. Honneth meint damit, dass die betroffenen Subjekte für ihre lebensgeschichtlich erworbenen Fähigkeiten keine soziale Wertschätzung erfahren. Die Anerkennungsform der Solidarität setzt ein gemeinsames Wertesystem voraus, um dessen Durchsetzung die gesellschaftlichen Gruppen permanent ringen – was nur als Dauerkonflikt denkbar ist; eben als Kampf um Anerkennung.

Die Möglichkeiten, Anerkennung zu erfahren und Missachtung zu entgehen, sind gesellschaftlich ungleich verteilt, sonst würde ja die Rede vom Kampf um Anerkennung gar keinen Sinn ergeben. Und es ist fast banal, zu konstatieren, dass die gegenwärtige Lebenssituation von Menschen mit Behinderung durch massiv reduzierte Anerkennungschancen und durch gehäufte Erfahrungen latenter oder auch offen geäußerter Missachtung gekennzeichnet ist. So kann etwa der massive Ausbau der pränataldiagnostischen Techniken zur Identifizierung und Auslöschung behinderten Lebens nur als Angriff auf die leibliche Integrität eines Menschen mit Behinderung gesehen werden. Es ist kein Leichtes, sich um seiner selbst willen geliebt zu fühlen, wenn es so einen Menschen wie mich eigentlich gar nicht geben sollte. Ebenso evident ist – bezogen auf die Anerkennungsform des Rechts –, dass die Lebenslage von Menschen mit Behinderung durch eingeschränkte Rechte und reduzierte soziale Teilhabechancen zu beschreiben ist; dies macht ja den Kern der Inklusionsdebatte aus. Schließlich erfahren Menschen mit Behinderung für ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten und ihren Beitrag zum Wohl der Gesellschaft häufig nur geringe Wertschätzung.

Und selbstverständlich ist auch das Aufwachsen unter den Bedingungen sozialer Benachteiligung von reduzierten Anerkennungschancen begleitet. Mehr noch: Die im Kontext sozialer Randständigkeit vorliegenden psychosozialen Risiken und damit häufig einhergehenden Entwicklungsverzögerungen lassen sich durchaus auch als Folge fehlender oder zumindest eingeschränkter Anerkennung verstehen. Wenn die primären Bezugspersonen aufgrund ihrer psychischen und sozialen Belastung und ihrer eigenen Bedürftigkeit nicht in der Lage sind, ihren Kindern ein Mindestmaß an konsistenter emotionaler Zuwendung zu geben, wächst sich dies zu einer Entwicklungserschwernis in der Anerkennungsdimension der Liebe aus. Auch wird es unter der Bedingung sozialer Randständigkeit äußerst schwierig sein, an die eigenen...

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