Angst unterscheidet uns
Eltern freuen sich, wenn ihre Kinder täglich dazulernen und bedacht handeln. Wenn sie nicht achtlos auf die Straße laufen, nicht den heißen Herd anfassen oder sich gar in tiefes Wasser begeben. Die natürliche Ängstlichkeit von Kindern vor schnellen Fahrzeugen in ihrer Nähe, vor lauten Geräuschen und vor fremden Menschen beruhigt die Eltern in ihrer Sorge um das Kind. Eltern erleben dabei ein entlastendes Gefühl von Sicherheit und Zufriedenheit. Die Kehrseite von Ängsten ist jedoch, dass Kinder nachts nicht schlafen können, weil sie sich vor Dunkelheit fürchten, Tieren nicht zu nahe kommen wollen oder Angst vor Trennungen zeigen. Eltern fällt es manchmal schwer, damit umzugehen, wenn Angst das Kind im Alltag hemmt und einschränkt.
»Das bekommst du zurück, du Blödmann!« Max und Tim, beide sieben Jahre alt, bewerfen einander mit Sand, als Maxʼ Mutter sich einen Augenblick von ihnen abwendet. Dass sie das eigentlich nicht dürfen, wissen sie ganz genau und halten sich auch fast immer an diese Regel – aber eben nur fast immer. Vorausgegangen ist, dass Tim seinen Freund »Angsthase« genannt hat, weil Max die Mutprobe, auf den Apfelbaum zu klettern, verweigert hat. Nun bewirft er Tim vor Wut mit Sand.
Was passiert mir gerade? Tu ich das Richtige? Was sollte ich jetzt am besten machen? – Kinder begegnen schon früh in ihrem Leben Situationen, die Verunsicherungen bei ihnen auslösen. Zweifel und Ängste können schnell zu einem Gefühl der Bedrohung werden. Unbemerkt können sie sich in die Gedankenwelt einschleichen, sodass sich das Kind Sachen in seiner Fantasie ausmalt, die in der Realität gar nicht vorkommen. Plötzlich fühlt sich das Kind unsicher und weiß nicht mehr weiter. Es sucht dann schnell die Flucht. Entweder nach vorne durch einen Gegenangriff und mit starkem Willen und Durchsetzungsvermögen oder aber den Weg zurück, indem es sich zurückzieht und sich »unsichtbar« macht. Beides kann von Angst hervorgerufen sein.
Ulrike bekommt zu Hause Besuch von einer Arbeitskollegin. Ihr vier Monate alter Sohn Frederic liegt in der Wiege. Seine Mutter neigt sich leicht darüber und erzählt stolz von ihm. Ganz neugierig schaut er seine Mutter an, beobachtet ihr Gesicht und lauscht interessiert ihrer Stimme. Die Situation ist ruhig und entspannt. Ulrike geht in die Küche und kocht einen Tee für den Besuch. Währenddessen neigt sich die Arbeitskollegin über Frederics Wiege und lächelt ihn an. Doch plötzlich wird aus seinem Lächeln ein lautes Schreien – solche Reaktionen kannte Ulrike noch gar nicht von ihm.
Ängste machen sich auf unterschiedlichste Art und Weise bemerkbar. Manchmal kommen sie von einem auf den anderen Tag. Aber nicht jede Angst bleibt für immer. Die meisten Ängste kommen und gehen im Laufe der kindlichen Entwicklung. Die Neugier der Kinder kann aufkommende Ängste verschwinden lassen und das kindliche Potenzial wecken, sich selbstwirksam in der eigenen Welt zu bewegen. Manche Ängste dagegen sind jedoch stärker, sodass Kinder die Hilfe Erwachsener benötigen, um mit ihnen umgehen zu lernen.
Kein Kind gleicht dem anderen. Die dreijährige Fiona steht auf der Rutsche und traut sich nicht allein runterzurutschen. Traurig schaut sie die Rutsche hinab und verharrt oben auf dem Turm. Fiona wartet so lange dort oben, bis ihre Eltern kommen, sie herunterholen und trösten. Ihr fünfjähriger Bruder David hingegen wird wütend, wenn er sich unsicher fühlt. Er beginnt laut zu schreien und zu toben, um seine Angst zu verbergen. Damit erfährt er auf seine Weise die von ihm gewünschte Aufmerksamkeit. Die angstauslösende Situation ist für David besser einzuschätzen und kontrollierbar, wenn er Zuwendung durch seine Eltern erhält, die ihm Sicherheit bietet. Durch den Wutanfall wird ihm diese Zuwendung zuteil.
Doch was macht man als Eltern da bloß? Gibt es »den richtigen Weg« im Umgang mit Kinderängsten? Und wenn ja, wo führt er lang? Kinder beschreiten in ihren Entwicklungsphasen einen weiten und manchmal unendlich erscheinenden Weg. Mal sind sie neugierig, mutig und testen all ihre (körperlichen) Grenzen aus. Dann kommen sie an Scheitelpunkte, an denen sie mit neuen Gefühlen und Erlebnissen konfrontiert sind, die Angst und Unbehagen bei ihnen auslösen. Hier sind besonders die Eltern und Erzieher gefragt. Sie sind die jenigen, die die Kinder unterstützen und ihnen Halt geben können im Umgang mit Ängsten.
Schnell setzen sich Eltern unter Druck und übernehmen für alles, was passiert, die Verantwortung: Was haben wir bloß falsch gemacht? Warum verhält sich Lukas so anders als Lena? Warum ausgerechnet unser Kind? Kriegen wir das wieder »zurückgebogen«? Was haben wir als Eltern nur versäumt zu unternehmen? Ist Lukas wegen mir so ängstlich, weil ich ihn zu sehr beschütze? – Solche Fragen stellen sich viele Eltern, die an die Grenze der Überforderung stoßen, weil ihre Kinder wie aus dem Nichts Ängste zeigen. Verstärkt wird das Unbehagen der Eltern, wenn sie aus dem erzieherischen Umfeld und dem Bekanntenkreis auf das Verhalten ihres Kindes angesprochen werden.
Angst wirkt wie Sand im Getriebe. Es dauert nicht lange, da bittet die Lehrerin von Jan seine Eltern um ein Gespräch, weil sie sich Sorgen um den Zehnjährigen macht. Mit seinem stillen Wesen und schüchternen Verhalten geht er in seiner Klasse mit insgesamt 28 Kindern unter und kann dabei nicht effektiv gefördert werden. Als »Problemkind« spürt er die Blicke der Eltern und Lehrer, die permanent auf ihn gerichtet sind. Das macht es Jan nicht leichter, mit stressigen Situationen umzugehen und Selbstvertrauen aufzubauen.
Heutzutage herrscht ein hoher Druck in allen Bereichen des Lebens, effektiv zu sein. Deshalb zeugt es von ehrlichem Interesse am Kind, wenn verantwortliche oder beobachtende Menschen auf ängstliche Kinder aufmerksam machen. An der Seite von Erwachsenen findet das Kind den nötigen Rückhalt und die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu sammeln und persönliche Stärken auszuprägen.
Wie unterschiedlich wir Menschen sind, zeigt sich gerade in unseren Ängsten, die hinter lauten Wutausbrüchen ebenso verborgen sein können wie in kompliziertem Vermeidungsverhalten. Aber alle Gefühle in uns verdienen es, wahrgenommen zu werden. Nur wenn wir uns mit unseren Gefühlen auseinandersetzen, können wir lernen, angemessen mit ihnen umzugehen. Auch wenn dies nicht einfach ist, wird sich die Mühe am Ende lohnen. Ob Erwachsene oder Kinder, wir alle werden fröhlicher und leistungsfähiger, sobald wir aufhören, über unsere Ängste hinwegzuleben.
Angst treibt uns an
Doch was genau benötigen ängstliche Kinder dafür? Alle Umgebungen, in denen sie aufwachsen, stellen Anforderungen an sie, die im Laufe der Jahre mehr und mehr werden. Nicht nur weil die Kinder älter werden, sondern weil die Gesellschaft immer stärker von Zeitdruck und Leistungsanspruch geprägt wird.
Kinder sollen möglichst immer gute Ergebnisse erzielen, ob in der Schule oder im Sportverein. Aber das schaffen sie nicht alleine. Kinder brauchen Vorbilder, die ihnen Orientierung bieten. Ein unfreiwilliges Verdrängen der kindlichen Bedürfnisse und ein Gefühl, fremdbestimmt zu sein, gilt es zu verhindern. Ohne die nötige Lebenserfahrung können Kinder unmöglich wissen, wie sie die vielen Anforderungen bewältigen sollen. Sie brauchen Erwachsene, die sie unterstützen.
Manche Eltern reden Kinderängste klein oder versuchen, ihnen auf verschiedene Weise abzuhelfen. Doch das schürt neue Unsicherheiten. Eine Akzeptanz der Angst und Unterstützung im Umgang mit der Angst sind der bessere Weg. Die Sicherheit und der Rückhalt, sich immer an die Eltern wenden zu können und stets auf Interesse zu stoßen, ist für Kinder die wichtigste Orientierung im Umgang mit Ängsten. So öffnen sie sich den eigenen Gefühlen, lernen sie kennen und aktiv damit umzugehen.
Die vierjährige Eva verspürt Angst, wenn sie allein in ihrem Bett liegt und das Kinderzimmer schon dunkel ist. Die Zeit bis zum Einschlafen kommt ihr qualvoll vor, weil sich ihre Gedanken um Monster und Ungeheuer drehen....