Der Originaleindruck: Mainz
Ich fragte mich, wie ich die Zeit verbringen sollte, heute und morgen, hier und dort, denn ich spürte jetzt einen unermeßlichen Strom von Zeit unbezwingbar wie die Luft. Man hat uns nun einmal von klein auf angewöhnt, statt uns der Zeit demütig zu ergeben, sie auf irgendeine Weise zu bewältigen. Plötzlich fiel mir der Auftrag meiner Lehrerin wieder ein, den Schulausflug sorgfältig zu beschreiben. Ich wollte gleich morgen oder noch heute abend, wenn meine Müdigkeit vergangen war, die befohlene Aufgabe machen.
Diese Worte beenden Anna Seghers’ einzige offen autobiographische Geschichte Der Ausflug der toten Mädchen, die Christa Wolf «eine der schönsten Erzählungen der modernen deutschen Literatur» genannt hat. Sie weisen auf einen Grundimpuls, der Leben und Schreiben der Autorin bestimmte: Seghers wollte sich ihrer Zeit nie demütig ergeben, sondern sie gestalten – als politische, engagierte Schriftstellerin. Die Rolle, die die erste Hälfte ihres Jahrhunderts für sie als Frau und deutsche Jüdin bereithielt, nämlich stilles Opfer der Geschichte zu werden, lehnte sie seit ihrer Jugend konsequent ab. Der Schlusssatz der Erzählung, der das Bedürfnis ausdrückt, sich beim Schreiben auf die befohlene Aufgabe zu berufen, deutet aber auch auf die tiefe Problematik im Engagement dieser Autorin.
Netty Reiling, so hieß Anna Seghers mit ihrem Mädchennamen, wurde am 19. November 1900 als einziges Kind einer wohlhabenden, kultivierten Familie in Mainz geboren. Der Vater Isidor Reiling (1868–1940) führte zusammen mit seinem Bruder eine Antiquitäten- und Kunsthandlung am Flachsmarkt 2, am Rande der Mainzer Altstadt. Nicht weit davon, in der Kaiserstraße 34 1/10, wohnten die Reilings. Die Mutter Hedwig, geborene Fuld (1880–1942), stammte aus einem alteingesessenen Frankfurter Haus. In der Erzählung Ausflug der toten Mädchen beschwört Anna Seghers – ein einziges Mal – das Bild und Schicksal dieser Frau, die Anfang März 1942 nach Polen deportiert wurde und dort umkam: Meine Mutter stand schon auf der kleinen mit Geranienkästen verzierten Veranda über der Straße … Wie jung sie doch aussah, die Mutter … Sie stand vergnügt und aufrecht da, bestimmt zu arbeitsreichem Familienleben, mit den gewöhnlichen Freuden und Lasten des Alltags, nicht zu einem qualvollen, grausamen Ende in einem abgelegenen Dorf, wohin sie von Hitler verbannt worden war.
Den von Heimweh verklärten, zur Fiktion verdichteten Erinnerungen an Eltern und Zuhause in der Erzählung stehen in Seghers’ spärlichen privaten Äußerungen nüchterne und kritische Bemerkungen gegenüber. Spät in ihrem Leben gestand sie, dass sie kein so gutes Verhältnis zur Mutter hatte. Dem Vater – er zeigte für mich mehr Verständnis als meine Mutter – fühlte sie sich näher. Die elterliche Etagenwohnung mit ihrer typischen bürgerlichen Wohnzimmeratmosphäre fand sie Fürchterlich! Und das Eingesperrtsein darin war mir so zuwider, daß der Drang in mir immer stärker wurde, so schnell wie möglich auszufliegen, wegzufliegen. Andererseits betonte sie einige Male die Freiheit, die ihr die Eltern gewährten. Wir liefen überall herum, in der alten kleinen Stadt, erinnerte sie sich. Wenn Seghers auch von sich sagte: Ich war ein fürchterliches Kind, ich machte meinen Eltern immerzu Probleme, so waren es doch nicht die Konflikte mit den Eltern, sondern es war ein tieferes Ungenügen, das sie das angenehme, aber beschränkte jüdisch-bürgerliche Leben zu Hause ablehnen ließ. Im Ausflug spricht die Ich-Erzählerin von einer jugendlichen Lust auf absonderliche ausschweifende Unternehmungen, und im Zusammenhang mit der frühen Dostojewski-Lektüre fallen verächtliche Worte über die eigenen bläßlich-kleinbürgerlichen Sippen, die zu keinem starken Gefühl, zu keinem starken Gefühlsausbruch fähig waren. Dass es Netty Reiling sehr ernst war mit ihrem Widerwillen und ihrem Wunsch auszubrechen, zeigen Werk und weiterer Weg von Anna Seghers. Dennoch scheinen die Beziehungen zu den Eltern im Großen und Ganzen gut gewesen und geblieben zu sein. Als Seghers 1933 aus Deutschland floh, halfen ihr die Eltern sehr wesentlich, blieben aber selbst in der angestammten Heimat. Im letzten Moment versuchte die Tochter noch, ihre Mutter zu retten, es war aber bereits zu spät.
Isidor Reiling gehörte zur «Israelitischen Religionsgemeinschaft», der orthodoxen Gruppe der rund 3000 Mainzer Juden, Hedwig Reiling war im Vorstand des jüdischen Frauenbunds. Berichten zufolge wurde Netty zunächst in den strengen Regeln und Gebräuchen der elterlichen Religion erzogen und trat erst 1932 mit Mann und Kindern aus der jüdischen Gemeinde aus. Anna Seghers selbst erwähnte diesen Aspekt ihrer Kindheit jedoch nie. Auch unter den vielen Stoffen und Motiven, die sie später in ihren Erzählungen und Romanen verwendet, spielen jüdische eine sehr geringe Rolle – mit einer bedeutenden Ausnahme, der im mexikanischen Exil verfassten Erzählung Post ins gelobte Land, auf die noch zurückzukommen ist.
Die dominante Religion ihres Kulturraums, das Christentum, beschäftigte Seghers, wie andere deutsche Juden der Zeit, wesentlich mehr. Die christliche Lehre mit ihrer Substanz von innerer Freiheit stellte ihrer Meinung nach Ansprüche an die Menschen und die menschliche Gemeinschaft, die allgemeine Gültigkeit besaßen. In ihrer Dostojewski-Studie schreibt sie im Anschluss an die christlichen Gedankengänge des russischen Dichters: Viele Menschen haben sich von den religiösen Bindungen gelöst, nicht weil sie ihre ethischen Forderungen für ungültig erklärten, sondern weil sie sich an neue, der Epoche erwachsene, erweiterte ethische Forderungen gebunden fühlen. Das galt auch für sie selbst: Die aus dem jüdischen Elternhaus übernommenen Werte gingen auf in den herrschenden christlichen und wurden dann zu sozialistischen erweitert. Der Sozialismus setzte die Aufgabe der christlichen Religion, Anwalt der Armen und Schwachen zu sein, fort und übernahm damit eine wichtige soziale Funktion der Religion. Aber auch für den Einzelnen wurde er Religionsersatz, da er dem Leben Sinn gab und Hingabe forderte. Christliche Symbolik, die Seghers in Mainz, in vielen Kunstwerken, mit denen ihr Vater handelte, und in der Literatur, die sie las, überall umgab, spielt in ihrem Werk eine bedeutende Rolle und unterstreicht diese Kontinuität.
Als kleines Kind, als ganz kleines Kind, bevor ich in die Schule ging, war ich oft krank, und dabei lernte ich verhältnismäßig früh lesen und dadurch auch schreiben. Und dann erfand ich, hauptsächlich weil ich allein war und mir eine Umwelt machen wollte, alle möglichen kleinen Geschichten, die ich mir vorerzählte. Dem Kind schon wurde Erzählen, eigenes und fremdes, zur Lebenshilfe, wobei die frühen Leseeindrücke auch später einflussreich blieben: Die Geschichten aus den ersten Kinderbüchern, die man mir schenkte, gefallen mir noch heute, bekannte Seghers und ließ in ihrer Erzählung Die Reisebegegnung Franz Kafka sagen, was für sie selbst zutraf: Ich liebe Grimms Märchen. Von ihrer Sprache lernte ich viel. Ich muß gestehen, den Sinn und den Rhythmus mancher Sätze habe ich mir angeeignet. Im selben Zusammenhang zitiert Kafka außerdem eine chassidische Legende. Obwohl Seghers sonst nie davon sprach, ist anzunehmen, dass solche Texte ebenfalls zur Kindheitslektüre gehörten und Spuren im Werk hinterließen, die noch zu untersuchen wären.
Anna Seghers blieb ihr ganzes Leben eine eifrige Leserin – mit sehr weitem und internationalem Horizont. Stets bestand sie darauf, dass ihr Literatur Beistand zum Leben bot. Auch in der schwersten und dunkelsten Zeit habe ihr ein Buch geholfen, erklärte sie. Manchmal half es mir, weil es mich nicht allein ließ in einer verwirrenden oder scheinbar lichtlosen Wirklichkeit, in die sich der Autor tiefer hinein gewagt hatte als mancher Freund. Manchmal riß mich ein Buch aus der Wirrnis in eine stürmische, aber klare Welt, die völlig anders als meine war.
Seit ich Buchstaben schreiben kann, schreibe ich. Die Mutter, die Literatur liebte, förderte diese Neigung ihrer Tochter. Veröffentlicht wurden natürlich meine schriftlichen Arbeiten viel, viel später, da gingen manche Fehlschläge sicherlich voraus … Aber schließlich und endlich, nachdem ich schon sicher manche Geschichte Freunden vorgelesen hatte und darüber mit ihnen gesprochen, mich gefreut, mich verkracht, wurden die ersten Arbeiten von mir veröffentlicht, erinnert sich Seghers an ihre Anfänge. Kontinuierlich schrieb sie weiter, auch unter den schwierigsten Bedingungen. In meiner Arbeit gab es keine Krisenzeiten. Im Gegenteil, die Arbeit half mir über schwere Zeiten hinweg, ich versuche allerorts zu schreiben, was ich mir vornahm.
Seghers ging bei ihrem gelassenen Vertrauen in die fortdauernde Möglichkeit und Notwendigkeit des Erzählens von einer Grundvorstellung aus, die auf dem großen Eindruck beruhte, den Märchen und Sagen auf sie gemacht hatten. Nicht...