EINFÜHRUNG
von P. Hermann Geißler FSO
Direktor des Internationalen Zentrums der
Newman-Freunde in Rom
John Henry Newman (1801–1890) gehört zweifellos zu den bedeutendsten christlichen Denkern der Moderne. Benedikt XVI., der ihn am 19. September 2010 zur Ehre der Altäre erhob, sprach immer wieder von seiner prophetischen Bedeutung für unsere Zeit. «Warum wurde er seliggesprochen? Was hat er uns zu sagen?», so fragte der emeritierte Papst in seinem Jahresrückblick am 20. Dezember 2010. Als Antwort verwies er auf die «drei Bekehrungen Newmans», von denen wir alle «zu lernen haben, weil sie Schritte eines geistigen Weges sind, der uns alle angeht». Zudem erwähnte er die entscheidende Rolle des Gewissens: «Der Weg der Bekehrungen Newmans ist ein Weg des Gewissens – nicht der sich behauptenden Subjektivität, sondern gerade umgekehrt des Gehorsams gegenüber der Wahrheit, die sich ihm Schritt um Schritt öffnete.»
In der Apologia pro Vita Sua geht es genau um diese beiden grundlegenden Aspekte: Newman legt darin seinen Weg des Gewissens dar und erzählt mit großer Wahrhaftigkeit, wie Gott ihn durch tief gehende Bekehrungen, durch die Begegnung mit Menschen und durch die Auseinandersetzung mit den Zeichen der Zeit in seinem Glauben und Denken geformt, zum Reformer des Anglikanismus gemacht und schließlich (1845) in den Hafen der katholischen Kirche geführt hat. Zum besseren Verständnis mag es hilfreich sein, zuerst kurz auf die Entstehungsgeschichte der Apologia einzugehen, die Newman selbst im Vorwort ausführlich darlegt. In einem zweiten Schritt versuchen wir, den roten Faden seines inneren Weges aufzuzeigen und so den Zugang zur Lektüre des Buches zu erleichtern. Abschließend verweisen wir auf die Aktualität dieses Klassikers der modernen Weltliteratur1.
Die Entstehungsgeschichte
Im Jahr 1864 schien Newman beinahe vergessen. Seit seiner Konversion zur katholischen Kirche waren fast zwanzig Jahre vergangen. Die Mehrzahl der Anglikaner hielt ihn für einen Verräter und dachte, er sei zu einer korrupten Kirche übergetreten, die den wahren Glauben verleugne und mit der Sache des Antichristen verbunden sei. So stark waren damals die Vorurteile gegenüber der Kirche Roms, von der sich England 1529 unter König Heinrich VIII. wegen seines Ehestreites mit dem Papst getrennt hatte. In der Öffentlichkeit zweifelten viele an Newmans persönlicher Rechtschaffenheit. Sie verstanden nicht, wie ein solch intelligenter Mann die englische Staatskirche verlassen und sich einer kleinen Gruppe anschließen konnte, die am Rande der Gesellschaft stand und trotz der 1829 erfolgten politischen Emanzipation weitgehend verachtet und verkannt wurde. In der katholischen Kirche hatte Newman zwar den inneren Frieden gefunden, aber seine genialen Ideen und Unternehmungen wurden meist nicht richtig verstanden: Sein großartiges Projekt einer katholischen Universität in Dublin endete mit einem erbärmlichen Misserfolg. Seine prophetischen Überlegungen über das Zeugnis der Gläubigen in Lehrfragen wurden missverstanden und sogar mit dem Vorwurf der Häresie bedacht. Das von ihm gegründete Oratorium in Birmingham lebte in Spannung mit dem Haus in London und schien dem Ende nahe zu sein. Newman musste zur Kenntnis nehmen, dass sein Leben als Katholik scheinbar fruchtlos blieb. In sein Tagebuch schrieb er die erschütternden Worte: «Wie war doch mein Leben einsam und kümmerlich, seit ich katholisch geworden bin. Hier ist der Gegensatz: Als Protestant empfand ich meine Religion kümmerlich, aber nicht mein Leben; und nun, als Katholik, ist mein Leben kümmerlich, aber nicht meine Religion» (Selbstbiographie, Schwabenverlag, Stuttgart 1959, S. 331). Newman befand sich damals in einer der schwierigsten Phasen seines Lebens. Er litt sehr unter seiner misslichen Lage und dachte im Ernst, bald sterben zu müssen. Dies sollte sich aber binnen weniger Monate schlagartig ändern.
Warum schrieb Newman die Apologia? Woher kam der «Stimulus», der «Ruf», ohne den er nichts zu schreiben pflegte? In jener Zeit veröffentlichte Charles Kingsley, ein bekannter Romancier und Professor für Geschichte an der Universität Cambridge, in der Zeitschrift MacMillan’s Magazine eine Rezension über das durch James Anthony Froude verfasste Buch Geschichte von England. In dieser Rezension standen die Worte: «Wahrheit um ihrer selbst willen ist nie eine Tugend des römischen Klerus gewesen. P. Newman belehrt uns, dass sie das nicht zu sein brauche und im Allgemeinen nicht einmal sein solle, dass List die Waffe sei, welche der Himmel den Heiligen gebe, um der rohen, bösen Macht der gottlosen Welt zu widerstehen. Ob seine Auffassung eine korrekte Wiedergabe der kirchlichen Lehre ist oder nicht, bleibt gleichgültig. Historisch richtig ist sie auf alle Fälle» (S. 41). Newman antwortete mit der Rückfrage an Kingsley, womit er denn seine schwerwiegende Behauptung beweisen wolle. Dieser verwies auf einige Textstellen aus einer Predigt, die Newman jedoch als missverstanden und falsch interpretiert ausweisen konnte. Kingsley zeigte sich hierauf bereit, Newmans eigene Erklärung als Beweis anzunehmen, wollte seinen Vorwurf aber nicht zurücknehmen. Daraufhin entschloss sich Newman, den ganzen Briefwechsel mit Kingsley als Flugschrift zu veröffentlichen, und ging eindeutig als Sieger aus diesem geistigen Ringkampf hervor.
Doch Kingsley gab sich nicht geschlagen: Er verfasste ein umfangreiches Pamphlet, in dem er seine Anschuldigungen gegen Newman und die katholischen Priester verschärfte: Man könne Newman nicht trauen, weil sein Leben unehrlich gewesen sei. Er habe schon als Anglikaner heimlich eine katholische Bewegung angeführt. Er rechtfertige sich durch schlangenhafte List in Anwendung «römischer» Moralprinzipien, gemäß denen alles erlaubt sei, was ins eigene Konzept passe. Das Pamphlet, das am Palmsonntag 1864 erschien, trug den Titel: «Was ist Dr. Newmans wahre Meinung?»
Seit mehr als zwanzig Jahren war Newman mit öffentlichen Anschuldigungen und Verdächtigungen konfrontiert. Bisher hatte er sich nicht gegen solche Angriffe gewehrt, sondern sie im Geist der Buße ertragen. Er «überließ ihre Widerlegung der Zukunft, wenn persönliche Gefühle nicht mehr im Wege stehen würden und Schriftstücke ans Licht kämen, die einstweilen in Schränken eingeschlossen oder im Land verstreut waren» (S. 40). Die Vorwürfe, die jetzt gegen ihn erhoben wurden, waren jedoch anderer Art: Nun ging es nicht mehr bloß um seine Person, sondern um den ganzen katholischen Klerus. Deshalb drängte ihn sein Gewissen, rasch und entschieden zu handeln: «Selbst wenn ich es mit meiner Pflicht gegenüber meinem guten Namen für vereinbar gehalten hätte, solch eine vollständige Infragestellung meiner Moral ohne Antwort zu lassen, so hätte mir dies die Pflicht gegen meine Mitbrüder in der katholischen Priesterschaft verboten. Sie waren durch die frechen und eigensinnigen Angriffe dieses Schriftstellers vom ersten Wort der Zeitschrift bis zur letzten Seite der Schmähschrift mitbetroffen. Es war klar, meine Selbstverteidigung trug nicht mehr rein persönlichen Charakter – ich sollte meine bescheidenen Dienste einer heiligen Sache weihen. Ich erhob Protest im Namen einer großen Gemeinschaft von Menschen mit untadeligem Charakter, voll ehrlicher religiöser Gesinnung und zarten Ehrgefühls, die in dieser Welt ihren Platz und ihre Rechte haben, obwohl sie Diener der unsichtbaren Welt sind. Sie wurden […] von meinem Gegner nicht nur in meiner Person, sondern unmittelbar und ausdrücklich in ihrer eigenen angegriffen. Darum machte ich mich sofort an die Niederschrift der Apologia pro Vita Sua» (S. 44).
Von Mitte April bis Mitte Juni 1864 arbeitete Newman fast ohne Unterbrechung an diesem Werk. Der Band XXI seiner Letters and Diaries enthält ergreifende Briefe, die zeigen, wie sehr ihn diese Aufgabe in Beschlag nahm. Er arbeitete «von morgens bis abends», auch «während der Mahlzeiten», oft sechzehn Stunden am Tag. Aber nicht nur die Pflicht zum raschen Weiterkommen und die äußere Anstrengung des Schreibens, Verbesserns und Korrigierens lasteten auf ihm. Er wurde auch in die inneren Kämpfe seiner Lebensgeschichte zurückversetzt, sodass er in einem Brief gestand: «Mir kamen beständig die Tränen […]» (LD XXI, S. 103, 107). Ausgehend von vielen Dokumenten, die er aufbewahrt hatte, aufgrund der guten Zusammenarbeit zahlreicher Freunde sowie dank seines guten Gedächtnisses gelang es ihm, in kürzester Zeit die Geschichte seiner religiösen Überzeugungen im Detail zu rekonstruieren und auf Papier zu bringen. Acht Wochen lang erschien jeden Donnerstag ein Kapitel dieser Geschichte als Flugschrift. Mit einigen Kürzungen und Verbesserungen wurden die verschiedenen Teile dann zusammengefügt und als Buch herausgegeben.
Die Apologia ist eine Autobiografie besonderer Art, die...