1 Wertigkeit von Arbeit
1.1 Organisationsformen der Arbeit in der modernen Industriegesellschaft
In der Arbeitspsychologie wird »Arbeit« verstanden als ein Grundaspekt menschlicher Lebenswirklichkeit, eine zielgerichtete, zweckrationale Tätigkeit, die der Daseinsvorsorge und Schaffung optimaler Lebensverhältnisse dient. Arbeit ist aufgabenbezogen und mit gesellschaftlichem Sinngehalt versehen. Es handelt sich um einen vermittelnden Prozess zwischen Mensch und Umwelt, der sich in eingreifenden und verändernden Tätigkeiten äußert (Giese 1927; Rohmert 1972; Fürstenberg 1975; Schmale 1983).
Für die Ausübung der beruflichen Tätigkeit verwendet der erwachsene Mensch einen Großteil seines Tages. Daher macht der Arbeitsplatz schon zeitlich einen großen Teil seiner sozialen Umwelt aus. Die Art der Tätigkeit trägt zum Ansehen in der Gesellschaft und zur finanziellen Sicherheit bei. Arbeit ist ein wesentlicher Teil der Selbstverwirklichung eines Menschen, bestimmend für sein Selbstbild und seine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten, die beeinflusst werden sowohl von den materiellen und organisationalen Arbeitsbedingungen als auch von den Mitarbeitern. Zudem beeinflusst die Arbeitssituation auch viele andere Lebensbereiche der Person. Zufrieden zu sein mit der Arbeitssituation ist mitentscheidend für die generell erlebte Lebenszufriedenheit (Schumacher et al. 1995).
Im Laufe der Jahrhunderte, aber speziell auch in den letzten Jahrzehnten vollzogen und vollziehen sich zahlreiche Wandlungsprozesse in der Arbeitswelt. Eine Wandlung betrifft die mit dem industriellen Fortschritt einhergehende Veränderung der Arbeit von der Hand- zur Kopf-, zur Dienstleistungs- und seit neuestem zur computerisiert-kontrollierten Arbeit.
Je nach Art der Arbeit verändern sich auch die Anforderungen und Freiheitsgrade für die Arbeitstätigen bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten: Standen früher überwiegend körperlich fordernde Arbeiten im Vordergrund, bei denen sozioemotionale und kognitive Fähigkeiten nachrangig waren (z. B. beim Heu-Rechen auf dem Feld), erforderten Arbeitsplätze seit der Mechanisierung mehr kognitive Leistungen (z. B. Konzentration als Kranführer), oder Schnelligkeit bei der Ausführung sehr spezialisierter Handlungsabläufe (z. B. Einscannen von Waren an der Supermarktkasse). Mit Zunahme von Arbeitsfeldern im Dienstleistungssektor traten zunehmend soziale Kompetenzen und sogenannte Soft Skills in den Vordergrund.
Die moderne Arbeitswelt erfordert in den meisten Berufen hohe Anpassungsleistungen, Flexibilität und Multitaskingfähigkeiten der arbeitenden Menschen. So muss eine »einfache« Verkäuferin im Supermarkt sich jederzeit flexibel in ständig wechselnden Situationen adäquat verhalten. Sie muss freundlich mit genervten Kunden umgehen, kompetent Auskünfte über die Waren geben, Waren heben und einsortieren, kassieren und das passende Geld herausgeben, aufpassen, dass keine Waren gestohlen werden, und dies ggf. als Alleinbesetzung und Alleinverantwortliche ihrer Schicht in einer Filiale, mit der prinzipiell jederzeitigen Möglichkeit eines Raubüberfalls. Eine besondere Belastung der modernen Arbeitsbedingungen stellt die Kontrolle der Arbeitsleistung im Rahmen von Qualitätssicherung, Zielvorgaben oder Benchmarking dar, die häufig auch noch computergestützt online erfolgt. So werden heute selbst Verkäuferinnen an der Supermarktkasse permanent per Computer überwacht, wie viele Waren sie pro Minute über den Scanner ziehen. Verkäuferinnen in Boutiquen erhalten am Abend eine Rückmeldung, wie viele Kunden den Laden betreten haben und wie viele Käufe getätigt worden sind. Putzfrauen in Hotels bekommen Minutenvorgaben pro Zimmer. Schreibkräften wird die Zahl der Anschläge vorgerechnet usw. Bei vielen Arbeitsplätzen gibt es regelmäßig anonyme Kontrollen des Arbeitsverhaltens durch Supervisoren, wenn nicht gleich eine Dauerüberwachung per Videokamera erfolgt.
Die Frage ist, welche Voraussetzungen eine Person mitbringen muss, um diese Rahmenbedingungen oder Anforderungen erfüllen zu können, und dies umso mehr, als eine einfache angelernte Tätigkeit als Verkäuferin als Standard für den »allgemeinen Arbeitsmarkt« angesehen werden kann, d. h. grundsätzlich von jedermann zu erbringen sein sollte.
Bei der Beurteilung von Arbeitsplatzanforderungen können drei unterschiedliche Referenzen zugrunde gelegt werden, d. h. (a) der konkrete Arbeitsplatz, (b) der konkrete Beruf bzw. das allgemeine Berufsfeld und (c) der allgemeine Arbeitsmarkt. Bezogen auf den aktuellen Arbeitsplatz ist zu präzisieren, was der Betreffende konkret an Tätigkeiten ausübt. Generelle Berufsbezeichnungen wie bspw. »Krankenschwester« sind nicht geeignet, berufliche Anforderungen hinreichend abzubilden. Eine Krankenschwester kann je nach Einsatzort verschiedenste Tätigkeiten ausüben: Als Pflegedienstleitung übt sie bspw. überwiegend am Schreibtisch organisatorische und planerische Tätigkeiten aus und hat selbst wenig Patientenkontakte. Im Blutspendedienst muss sie zügig die Patienten nach einem festen Muster abfertigen, wobei sie ohne besondere kommunikative und empathische Leistungen auskommen kann. In einer psychiatrischen Akutstation führt sie möglicherweise Gruppentherapien durch, stellt Medikamente, hält regelmäßige Kontakte zu allen Patienten und benötigt die Fähigkeit, mit deren emotionalen Auslenkungen professionell umzugehen. In einem Pflegeheim muss sie zusätzlich auch noch schwer heben können. Diese Vielfalt an potentiellen Tätigkeiten eines Menschen mit einer bestimmten Berufsqualifikation, hier bspw. Krankenschwester, beschreibt das berufsbezogene Anforderungsprofil. Es umfasst alles, was jemandem mit der gegebenen Ausbildung übertragen werden kann.
Der allgemeine Arbeitsmarkt umfasst alle Tätigkeiten, die einem Arbeitssuchenden zumutbar sind. Vom Grundsatz her kann ein Arbeitssuchender vom Arbeitsamt auf jeden beliebigen Arbeitsplatz verwiesen werden. Es gibt keine speziellen Tätigkeitsbeschreibungen und kein spezifisches Fähigkeitsprofil, die die Anforderungen auf dem »allgemeinen Arbeitsmarkt« charakterisieren. Dementsprechend kommen alle Anlerntätigkeiten in Frage wie z. B. eine »einfache« Verkaufstätigkeit, eine Arbeit als Reinigungskraft, eine Anstellung in einem Holund Bringedienst oder in einer Registratur. Es können also auch alle denkbaren Fähigkeiten für »Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt« bedeutsam sein. Als Modell für den allgemeinen Arbeitsmarkt kann man sich ein Hotel vorstellen. Dort gibt es Gartenarbeiter, Reinigungskräfte, Handwerker, Kellner, Empfangsdamen, Büromitarbeiter, Verwaltungsangestellte und Manger, d. h. Berufe mit unterschiedlichen mentalen Anforderungen, so dass für Menschen mit unterschiedlichsten persönlichen Voraussetzungen, d. h. in der Terminologie der ICF »Personfaktoren« (WHO 2001), auf ihnen mögliche und zumutbare Tätigkeiten verwiesen werden können.
1.2 Gesellschaftliche Arbeitsethik
Die Bedeutung von »Arbeit« im Lebenskonzept wie auch die Einstellung eines Berufstätigen zu seiner Tätigkeit hängen sowohl vom kulturell-gesellschaftlichen als auch individuellen Hintergrund und der Arbeitsethik ab. Unterschiedliche Gesellschaften, Gesellschaftsphilosophien und Religionen lassen sich auch durch ihre Aussagen zu Wettbewerbsorientierung, Leistungsstreben und Arbeitsethik beschreiben und unterscheiden (Furnham et al. 1994).
Arbeitsethik bedeutet auf der gesellschaftlichen Ebene allgemeingültige Normen und Maximen der arbeitsbezogenen Lebensführung im Zusammenhang mit der Verantwortung für Andere. Im Laufe der Geschichte, von der Antike über das Mittelalter bis heute, gab es viele Wandlungen im Verhältnis der Menschen zur Arbeit: Im antiken Griechenland war körperliche Arbeit eher verpönt. Das Philosophieren dagegen war hochgeschätzt und setzte Muße voraus. Die einzige Philosophie der Antike, in der die Arbeit gepriesen wurde, war der Stoizismus. Im Mittelalter wurde Arbeit bis zur Reformation weitgehend als Mühsal und Strafe aufgefasst. Der Kirchenvater Augustinus betont bspw., dass im Paradies »lobenswerte Arbeit nicht mühselig« sei (Drobner 2000), während die Strafe in der Hölle in ewiger Arbeit bestünde.
Im Gegensatz dazu ist die protestantische Arbeitsethik (Weber 1904) gekennzeichnet durch die Vorstellung von Arbeit als Pflicht, die nicht in Frage gestellt wird, d. h. fast als eine Art der Erfüllung eines göttlichen Auftrags. Die Arbeit bildet den Mittelpunkt des Lebens, um den herum sich der Mensch Freizeit gestaltet. Diametral zur katholisch-vorreformatorischen Auffassung erklärte der reformierte Geistliche Johann Kaspar Lavater im 18. Jahrhundert, selbst im Himmel könnten Menschen ohne eine Beschäftigung...