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Argumentationstheorie zur Einführung

AutorJosef Kopperschmidt
VerlagJunius Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783960600015
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Nicht immer und nicht überall geht es rational zu. In der Regel sind Menschen weit mehr an ihren Meinungen als an deren argumentativem Legitimationsnachweis interessiert. Das Argumentieren ist nämlich eine viel zu anstrengende Sache, als dass man sie betreiben würde, wenn man nicht müsste. In diesem Sinne verfolgt Josef Kopperschmidt mit seiner Einführung das Ziel, Respekt vor einer gesellschaftlichen Kulturleistung zu wecken, die Gewalt durch »die sanfte Gewalt der Vernunft« (Brecht) zu ersetzen versucht, um so das gesellschaftliche Zusammenleben zu zivilisieren.

Josef Kopperschmidt ist emeritierter Professor für Sprach- und Kommunikationstheorie an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach.

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Leseprobe

1. Zum Interesse an Argumentation: Was kann man von einer Argumentationstheorie erwarten?


Dass es heute ein breit gestreutes Interesse an Argumentation gibt, dürfte weithin unstrittig sein.1 Deshalb soll dieses Interesse im folgenden Einleitungskapitel auch nur beispielhaft belegt und etwas systematisiert werden, um dann der wichtigeren Frage nachzugehen, nämlich wie dieses aktuelle Interesse an Argumentation eigentlich erklärbar ist und wie es sich in die Geschichte argumentationstheoretischer Reflexionstradition einordnen lässt.

Natürlich muss man nicht so direkt auf den Markt schielen wie Gerry Spence, dessen Argumentationsanleitung How To Argue And Win Every Time (1995; deutsch: Argumentiere und gewinne, 1997) bereits im Titel mit einem reißerischen Gebrauchswertversprechen für sich wirbt. Doch ohne jede Berücksichtigung verwendungspraktischer Erwartungen dürften es heute selbst argumentationstheoretische Glanzstücke (wie etwa die Argumentationstopik, s. Kap. 6) schwer haben, in der einschlägigen Ratgeberliteratur auch nur Erwähnung zu finden.2 Das ist freilich kein Grund zum Lamentieren; denn auch historisch verdankt sich das Interesse an Argumentation weniger der uneigennützigen Suche nach methodischer Wahrheitssicherung als dem durch und durch pragmatischen Bedürfnis nach sozialer Selbstbehauptung.3 Dieses Interesse wurde sozioevolutionär in gleichem Maße dringlich, wie andere als kommunikative Strategien sozialer Selbstbehauptung gesellschaftlich delegitimiert oder gar institutionell ausgeschlossen wurden. Und eines der sowohl strategisch effizientesten wie gesellschaftlich akzeptiertesten, weil »sanftesten« Mittel solcher sozialen Selbstbehauptung durch Kommunikation war und ist fraglos das Argumentieren. (H-EA, 12)

So jedenfalls hat es die Rhetorik immer gesehen, die sich seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. für die verschiedenen kommunikativen Strategien sozialer Selbstbehauptung allgemein und argumentativer im Besonderen theoretisch interessiert hat und die daher nicht nur in die Genealogie der modernen Argumentationstheorie gehört, sondern deren historische Mutterdisziplin darstellt. Dass argumentieren lernen siegen lernen heiße, dieses marktorientierte Credo eines Gerry Spence hätte jedenfalls die antiken Rhetoriker so wenig irritiert wie die Sophisten, für die – anders als für Platon und seine Anhänger – Theoriearbeit in der sozialen Praxis von Nutzen sein sollte. Deshalb scheuten sich die Sophisten auch nicht, Wissen und Redenkönnen als lehrbare, also käufliche Güter zu behandeln. Es war Habermas, der seinerzeit den Begriff »Interesse« theoretisch wieder hoffähig gemacht hat, indem er ihm in der Tradition Nietzsches nicht erst im Verwendungszusammenhang von Erkenntnis, sondern bereits in deren Konstitutionszusammenhang einen Platz zugewiesen hat. (H-TW, 146 ff.; H-EI) Seitdem dürfte es weniger provokativ sein, auch der Theoriearbeit ein praktisches Interesse zuzubilligen, in dem sich das Interesse an Theorie in ein »erkenntnisleitendes Interesse« der Theorie transformiert.

Dieses praktische Erkenntnisinteresse der Argumentationstheorie ist freilich bloß die explizite Anerkennung ihres Involviertseins in Praxis, wie es für alle sozialwissenschaftlichen Erkenntnisinteressen typisch und spezifisch ist. Sie können sich nämlich ihre Erkenntnisobjekte nicht aus einer distanzierten Beobachterperspektive theoretisch zugänglich machen, weil Sinn-Ereignisse – anders als sinnfreie Geschehnisse – ohne sinnverstehende Vorleistungen sich schlechterdings jedem Zugang entziehen. Auf die Argumentationstheorie angewandt, meint dieser intrinsische Praxisbezug: Argumentationstheorie ist nicht möglich ohne eine (zumindest virtuelle) Teilnahme an der Argumentationspraxis, deren Theorie sie sein will.

Als theoretisch zugänglich gemachte aber bleibt Argumentationspraxis schwerlich, was sie war, weder individuell noch kollektiv. Sie verändert sich tendenziell in dem Maße, wie sie ihre eigene Praxis reflexiv einholt. Solch reflexive Selbsteinholung der Praxis ist aber nicht nur affirmativ instrumentalisierbar, sondern kann auch kritisch handhabbar sein. Das bedeutet: Die Argumentationspraxis muss durch ihre theoretisch angeleitete Selbstaufklärung nicht notwendig bloß strategisch effizienter werden; die Argumentationspraxis kann auch durch Verbreitung und Vertiefung argumentativer Kompetenzen ihre sektoralen Anwendungsgrenzen verschieben, und sie kann darüber hinaus das argumentative Anspruchsniveau und Rationalitätsprofil diskursiver Auseinandersetzung dadurch erhöhen, dass sie sich ihrer eigenen Prozesslogik, Voraussetzungshaftigkeit und normativen Infrastruktur reflexiv bewusst wird. Solch kritischen Ambitionen kann sich freilich eine Argumentationstheorie nur dann erfolgreich andienen, wenn sie sich als Theorie ihre Eigenständigkeit gegenüber der Praxis zu bewahren vermag und der Praxis – statt ihr bloß die eigene Melodie nachzusingen – auch als kritische Instanz entgegenzutreten wagt, indem sie Praxis an deren impliziten Selbstansprüchen regulativ misst. Die erkennbar dialektische Beziehung zwischen Theorie und Praxis der Argumentation legt es nahe, Argumentationstheorie weder als eine bloß reproduktive noch bloß spekulative, sondern als rekonstruktive Theorie zu definieren4: Argumentationstheorie rekonstruiert so gesehen eine (wahrscheinlich transkulturelle und ubiquitäre) vortheoretische Praxis (H-EA, 60 f.) bzw. argumentationspraktische Kompetenz, die in dem Maße nicht unverändert bleiben dürfte, wie sich tendenziell die Chance ihres reflexiven Vollzugs bzw. ihrer reflexiven Beanspruchung erweitert.

Je nach dem Kontextualisierungsgrad der Argumentationspraxis, die für die Rekonstruktionsarbeit gewählt wird, lassen sich Argumentationstheorien wie folgt unterscheiden: Allgemein sollen Argumentationstheorien heißen, die sich 1. für die elementare Funktion des Argumentierens im Kontext sozialen Zusammenlebens interessieren sowie für die Fragen allgemeiner Art, nämlich: wie argumentiert wird, was Argumentieren erfolgreich macht, welches Prinzip dem Argumentieren zugrunde liegt und was es als vernünftig ausweist (Kap. 2 bis 4), die sich 2. für die komplexen Voraussetzungen interessieren, die erfüllt sein müssen, damit überhaupt argumentiert werden kann, sowie für die verschiedenen Typologisierungen, nach denen sich Argumente ordnen lassen (Kap. 5 und 6), die sich 3. für die Chancen der bereichsspezifischen Konkretionen ihrer allgemeinen Fragestellungen interessieren sowie Konzepte fördern, die der Erweiterung argumentativer Kompetenzen dienen bzw. der Methodisierung von Analyse und Kritik faktischer Argumentationen (Kap. 7), und die sich 4. sowohl für die soziale Macht interessieren, die Argumentierenkönnen auch darstellt, wie für die normativen Implikationen des Argumentierens und für die Chance, sie als eigensinnige Ressource von Normen zu nutzen (Kap. 8).

Erkennbar listet dieser Interessenkatalog einer allgemeinen Argumentationstheorie genau die Themen auf, an denen sich auch die Gliederung der einzelnen Kapitel auf den folgenden Seiten orientiert. Daran ist ablesbar, dass die hier vorgelegte Einführung nur eine Einführung in die allgemeine Argumentationstheorie sein kann und will. Von ihr lassen sich Argumentationstheorien unterscheiden, die sektoral heißen sollen, weil sie die o.g. Fragen mit Blick auf bestimmte Praxisbereiche des Argumentierens spezifizieren und konkretisieren. Ein besonders attraktiver Praxisbereich ist natürlich wegen der zentralen Rolle, die das Argumentieren in ihm schon immer spielte, die forensische Praxis; entsprechend hochgradig elaboriert ist heute unter den sektoralen Argumentationstheorien auch die juristische Argumentation.5 Obwohl sich sektorale Argumentationstheorien auch »angewandte« nennen ließen, sei dieser Begriff hier für solche Theorien reserviert, die das argumentationstheoretische Wissen so aufbereiten, dass es in Form von Argumentationsdidaktiken für die explizite Verbesserung argumentativer Fähigkeiten bzw. in Form von Analysemodellen für die Methodisierung der Argumentationsanalyse bzw. -kritik genutzt werden kann.

Schließlich wären neben den bisher genannten Theorien, die alle das Interesse an einer systematischen Rekonstruktion von Argumentationspraxis verbindet, noch Theorien zu erwähnen, die sich mit Argumentationsforschung unter historischem Interesse beschäftigen. Historisch kann das Interesse sowohl mit Blick auf die Geschichtlichkeit argumentativer Plausibilitätsressourcen und argumentativer Muster sein wie mit Blick auf die geschichtliche Verortung des argumentationstheoretischen Interesses selbst.

Wie aber erklärt sich das aktuelle theoretische Interesse an dem Thema »Argumentation«, das nicht nur zu einer disziplinär breit gestreuten Theoriearbeit und einer entsprechenden Vielzahl sektoraler Argumentationstheorien geführt hat6, sondern auch die Entwicklung einer eigenen, ebenso interdisziplinär organisierten wie philosophisch ambitionierten Argumentationsforschung ermöglicht hat,...

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