Kapitel eins
… in dem erzählt wird, warum Ariella ein ungewöhnliches Mädchen war
… und was es heisst, einen Traum zu jagen
1987 – 2001 Der Schmerz durchfuhr den kleinen Körper wie ein lauter Schrei. Auf einmal war er da, ohne Vorwarnung; er nistete sich ein, einer Plage gleich.
Die Turnerin hatte den Schmerz ebenso wenig kommen sehen wie das Missgeschick, das ihm vorausgegangen war. Die Möglichkeit, zu versagen, hatte keinen Platz gehabt in ihren Vorstellungen. Aus ihrem Gesicht sprach Leid, aber sie weinte nicht.
Millionen Augenpaare waren auf sie gerichtet. Die Augenpaare der Kampfrichter, Trainer und Teamkolleginnen, die Augenpaare der Zuschauer in der Halle und vor den Fernsehern auf der ganzen Welt.
Die Turnerin war 142 Zentimeter gross und 37 Kilo schwer, klein und leicht. Sie hatte die Landung verpatzt und sich den linken Fuss verknackst, und daher kam der Schmerz.
Das war beim ersten Versuch gewesen.
Und nun nahm sie tatsächlich noch ein zweites Mal Anlauf, 75 Fuss oder 22,86 Meter bis zum Pferdsprung, dem Gerät, auf das sie spezialisiert war, 75 Fuss oder 22,86 Meter – eine Unendlichkeit in diesem Augenblick. Jeder gewöhnliche Mensch hätte den Wettkampf unter diesen Umständen abgebrochen. Aber die Turnerin war kein gewöhnlicher Mensch, und es war kein gewöhnlicher Wettkampf. Es war der Team-Wettkampf bei den Olympischen Spielen. Es ging um Gold.
Um alles also.
Kein Wunder, dass es für die Turnerin nicht infrage kam aufzugeben. Sie hatte das Warnsignal gehört nach diesem Missgeschick, das sie ereilt hatte, aber sie ignorierte es. Vierzehn Schritte bis zum Pferdsprung, sieben mit dem linken Bein, sieben mit dem rechten. Sieben Mal knallte sie den linken Fuss in den Boden, sieben Mal Pein. Ein achtes Mal beim beidbeinigen Absprung vor dem Pferdsprung, ein neuntes Mal bei der Landung.
Neun Mal Pein.
Aber sie schrie nicht auf, höchstens innerlich. Sie riss sich zusammen.
Auf einem Bein, auf dem rechten, humpelte sie eine halbe Drehung um die eigene Achse, in Richtung des Kampfgerichts, und lächelte gequält; und noch ehe das Ergebnis feststand, 9,712 von 10 möglichen Punkten, fiel sie in die Knie und in sich zusammen. Auf den Knien krabbelte sie von der Matte, ein Häufchen Elend, und später liess sie sich auf den Armen ihres Trainers aufs Podest tragen.
Gold für das Häufchen Elend, das sich überwunden hatte.
Gold für die verletzte Turnerin, den Fuss in eine Schiene gelegt und einbandagiert, und ihre sechs Kolleginnen. Wieder versuchte sie zu lächeln, und der Trainer fuhr ihr durch die Haare. Es sah aus, als zwinge sie sich nur seinetwegen zu einem halbwegs fröhlichen Ausdruck.
Erleichterung machte sich breit, aber nicht nur im Publikum in der Halle in Atlanta, USA, sondern auch in der Schweiz, im Wohnzimmer eines Einfamilienhauses im Luzerner Haldenquartier, grosses Grundstück, prächtige Aussicht auf den Vierwaldstättersee, ein kleines Paradies.
Aber Ariella hatte nur Augen für den Fernseher.
Hatte nur Augen für die sieben Amerikanerinnen, «The Magnificent Seven», wie die Medien sie später tauften, und die unterlegenen Russinnen.
Hatte nur Augen für die verletzte amerikanische Turnerin, Kerri Strug.
Ariella war hingerissen. Nicht von der Qual, natürlich nicht, aber von dem Kampf, den Kerri Strug mit ihrem Körper geführt hatte. Ariella fühlte sich, als erfahre sie das Leid der Turnerin am eigenen Leib.
Es war Sommer 1996. Sie war knapp neun Jahre alt – aber so jung sie auch war, sie hatte bereits eine Ahnung, was es bedeuten konnte, die Schmerzen einer Turnerin zu empfinden. Sie war ein ungewöhnliches Mädchen, sie trainierte jede Woche viele Stunden und galt im Land als eine der besten Turnerinnen ihres Jahrgangs. Aber in diesem Moment sass sie auf dem Sofa in einem behütenden Berg aus Kissen und Decken und staunte einfach, zu welcher Leistung die kleinen Körper imstande waren.
Zügellose Energie, totale Aufopferung.
Ariella wusste nicht, dass sie selbst einmal in einem solchen Körper stecken würde, in einem Körper, der Frau sein wollte, aber Mädchen bleiben musste. In einem dieser Körper, die das professionelle Turnen forderte. Doch sie wusste, dass sie sich nichts lieber wünschte. Der Fernseher hatte einen Traum transportiert, und Ariella hatte ihn eingefangen. Es war der Traum von der Olympiateilnahme. Vielleicht hätte sie sich gegen den Traum, dem sie sich von da an immer ungestümer hingab, gewehrt, wenn sie geahnt hätte, was er ihr antun würde.
Aber sie lechzte nach Geschichten, wie sie die Zeitungen am Tag darauf erzählten, auch die Zeitungen in der Schweiz. Von einem hollywoodreifen Drama war die Rede, das sich im Georgia Dome in Atlanta abgespielt habe, vor 32 048 mehrheitlich amerikanischen Zuschauerinnen und Zuschauern, vor dicken Vätern in grünen Poloshirts und braunen Kakihosen, vor dünnen Müttern in weiten Blusen und kurzen Jeans, der Saum ausgefranst. Weil Ariella Schulferien hatte, hatte sie viel Zeit, sich in die Berichterstattung zu vertiefen, so gut es in ihrem Alter eben ging. Sie mochte es, wenn sie Bilder von Turnerinnen in der Zeitung sah, die ihre Eltern abonniert hatten. Aber noch mehr mochte sie es, die Zeitung bis zu den Resultatspalten durchzublättern. Dort stand:
Turnen. Mannschaften Frauen, Final-Kür: 1. USA (Borden, Phelps, Chow, Miller, Dawes, Moceanu, Strug) 389,225 Punkte. 2. Russland (Kusnetsowa, Liapina, Groschewa, Chorkina, Dolgopolowa, Kochetkowa, Galiewa) 388,404. 3. Rumänien (Loaies, Tugurlan, Gogean, Marinescu, Milosovici, Amanar) 388,246. 4. China 385,867. 5. Ukraine 385,841. 6. Weissrussland 381,263. 7. Spanien 378,081. 8. Frankreich 377,715. 9. Ungarn 377,464. 10. Australien 375,415. 11. Griechenland 371,291. 12. Japan 367,062.
Ariella sass beim Frühstück, den Kopf über die Zeitung gebeugt. Ihr gefiel die Schlichtheit, mit der sich ein Sportereignis nur anhand von Zahlen, Namen und Stichworten beschreiben liess, diese totale Abwesenheit von Firlefanz. Sie studierte die Rangliste rauf und runter, in einer für ein Mädchen mit ihrer Lebendigkeit wirklich erstaunlichen Gemütsruhe, und machte zwei Feststellungen.
Erstens: Die Schweiz war nicht im Final vertreten gewesen. Die einzige Schweizerin, die überhaupt zur Mehrkampf-Qualifikation angetreten war, hatte Platz 59 bei 104 Teilnehmerinnen belegt.
Und zweitens: So weit weg ihr die Olympischen Spiele auch schienen und so wenig der Georgia Dome in Atlanta mit den Turnhallen in Luzern gemein hatte, die sie kannte – heruntergebrochen auf eine Rangliste in den Resultatspalten der Zeitung sah die fremde Welt wie die ihre aus.
Turnen. Kunstturnerinnentag in Basel. Die Resultate des BTV Luzern. Niveau 1: 2. Ariella Kaeslin 33,9. 7. Flavia Crameri 31,95. 13. Joy Studer 30,10. 21. Caroline Lustenberger 26,6. – Niveau 2: 1. Tabea Bürkli 36,9. 4. Lena Rüfer 34,95. 7. Melanie Schüwig 34,35. 8. Sara Bachmann 34,20. – Niveau 3: 5. Nina Bachmann 34,1. 8. Fabienne Meier 33,55.
So hatte es im Frühling davor, am 21. März 1995, auf der Frontseite des Regionalsportbundes der Luzerner Neusten Nachrichten gestanden. Ariellas Mutter hatte die Notiz herausgerissen und zu den anderen gelegt. Die Zeitungsausschnitte lagen in einer Kiste auf dem Boden in Ariellas Zimmer. Und bald sollten an der Wand über der Kiste Medaillen hängen, festgezurrt an einer Stange, Medaillen mit rot-weissen und Medaillen mit blau-weissen Bändeln, rechteckige Medaillen und runde, grosse und kleine, goldene und silberne und bronzene. Doch schon damals, als sie gerade erst vier oder fünf Medaillen gewonnen hatte, bedeutete Ariella die einzelne Medaille wenig. Sie empfand die Medaillen als etwas, das aus der Vergangenheit berichtete.
Im Sport zählt nur, was in der Zukunft liegt.
Ariella wollte als Turnerin zu den Olympischen Spielen. Dieser Traum verlangte von ihr, dass sie sich auf die Zukunft konzentrierte. Der Traum mochte aus dem Nichts über sie hereingebrochen sein, aber es war nicht so, dass sie sich überrumpelt vorgekommen wäre. Es war eher so, dass sie auf den Traum gewartet hatte – ohne genau zu wissen, was er enthalten würde. Denn Ariella war Turnerin, seit sie sich entsinnen konnte. Sie war zur Turnerin geboren.
Sie war fünf Monate alt, als sie ihre ersten Stehversuche wagte. Und sie war acht Monate alt, als sie ihre ersten Schritte ging.
Sie begann gleichzeitig wie andere Kinder oder nur unmerklich später zu reden, aber viel früher als andere Kinder zu laufen. Ihr Körper wollte, was der Kopf noch gar nicht nachzuvollziehen fähig war.
Weil ihr Vater, ein Zahnarzt, ganztags arbeitete, kümmerte sich die meiste Zeit ihre Mutter um sie, eine Pädagogin, die ihren Job bald kündigte und Hausfrau wurde. Der Vater hiess Rolf, die Mutter Heidi.
Es fiel der Mutter nicht schwer zu erkennen, dass Ariella ein Bewegungstalent war. Niemandem wäre das schwergefallen. Ariella kletterte in der Küche auf die Ablage und im Esszimmer auf die Anrichte, und sie hievte sich im Wohnzimmer auf die Rückenlehne des Sofas. Wenn sie zu Boden fiel, lachte sie vor Aufregung. Sie verhielt sich, als gehörte die Welt, die sie gerade aufspürte, ihr. Sie erkundete sie mit einem Eifer, dass es für alle, die ihr zusahen, eine Freude war – selbst für ihre Mutter, die sich zuerst Sorgen machte, aber...