Wege nach Westen
Die DDR liegt hinter ihm, Amerika noch vor ihm, als der Schauspieler Armin Mueller-Stahl in seinem Haus an der Ostsee in der Nähe von Lübeck Post aus Hollywood bekommt. »Leider hatte ich noch nicht Gelegenheit, Sie persönlich kennenzulernen«, schreibt unter dem Datum des 16. Oktober 1985 der berühmte Agent Paul Kohner, »hoffentlich können wir das in nicht allzu langer Zeit nachholen. […] Ich wüsste gerne, ob Sie irgendwelche Pläne haben, Amerika zu besuchen und nach Los Angeles zu kommen.«[1] Kohner, bekannt für seinen »guten Riecher«, glaubt, Mueller-Stahl würde gut nach Hollywood passen und wäre daher ein lohnendes Investment zu beiderseitigem Nutzen.
Schon als die Staats- und Parteioberen der DDR ihren lange gefeierten Star kaltgestellt und 1979/80 aus dem Land gedrängt hatten, träumte der am 17. Dezember 1930 im ostpreußischen Tilsit (heute: Sovetsk bei Kaliningrad/Königsberg) geborene Armin Mueller-Stahl von einer Karriere in Amerika. Er hatte im November 1976 eine Resolution von über hundert DDR-Schriftstellern, Schauspielern und bildenden Künstlern gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann unterzeichnet. Daraufhin bekam er fast nichts mehr zu tun, lebte isoliert mit seiner Frau Gabi und dem gemeinsamen Sohn Christian in seinem Haus in Berlin-Köpenick, von Stasispitzeln umzingelt. In der Not, seiner Verzweiflung und der scheinbaren Ausweglosigkeit der Situation griff er kühn nach den Sternen von Hollywood, wobei er »natürlich nicht wirklich damit gerechnet [hat], dort jemals einen Fuß ins Filmgeschäft setzen zu können«. Als es dann nur wenige Jahre später doch so kam, verblasste der neue Lebensmittelpunkt Bundesrepublik in den achtziger Jahren unversehens zu einer Zwischenstation auf dem Weg von den DEFA-Studios in Babelsberg zu den großen Studios in Kalifornien. Dabei hatte sich Mueller-Stahl nach ruhmreichen Theater- und Filmengagements in Ostdeutschland schon sehr bald in Westdeutschland die Startbedingungen für eine zweite Karriere erspielt, obschon er bereits über fünfzig Jahre alt war. Seine erste bedeutende Rolle nach der Übersiedlung von der eingemauerten DDR ins eingemauerte, aber freie Berlin bekam er in Rainer Werner Fassbinders Film Lola über die Wirtschaftswundergesellschaft im Nachkriegsdeutschland.
Weitere gute Rollen folgten. Dennoch fühlte sich Mueller-Stahl in Westdeutschland nicht recht heimisch und blieb ein eher misstrauisch beäugter Exot. Zum einen, weil er nicht wie sein ehemaliger DDR-Kollege Manfred Krug als Liebling Kreuzberg »Mainstream machen wollte«, wie er sagte. Zum anderen, weil er sich auch nicht wie Klausjürgen Wussow (Schwarzwaldklinik) in Fernsehserien für den Massengeschmack verschleißen lassen mochte. Sein Dilemma war ein wenig, dass die deutsche Filmindustrie es in jener Zeit nicht schaffte, gutes Kino für mehr als ein Minderheitenpublikum anzubieten. Als aber die beiden, mit ausländischen Regisseuren gedrehten deutschen Produktionen Oberst Redl (1984, Regie: István Szabó) und Bittere Ernte (1984, Regie: Agnieszka Holland), in denen Mueller-Stahl in Hauptrollen mitgewirkt hatte, 1986 überraschend und auch noch gleichzeitig für den Oscar nominiert wurden, war die Gelegenheit zum Sprung über den Atlantik plötzlich zum Greifen nahe. Nach dem lange zurückliegenden DDR-Film Jakob der Lügner (1974, Regie: Frank Beyer) waren es die zweite und dritte Oscar-Nominierung eines Films, in dem Mueller-Stahl mitgespielt hatte.
Das war der richtige Zeitpunkt, sich an den Brief aus Hollywood zu erinnern. »Da sind wir kurz entschlossen einfach rübergefahren.« Er, seine Frau Gabi und ihr Sohn Christian. Es war eine Reise mit ungewissem Ausgang, aber ganz nach Mueller-Stahls Selbstverständnis, das »Leben als Abenteuer« zu sehen. Die Star-Agentur Kohner nahm sich ihrer an. Als sie nach Deutschland zurückkamen, waren die Ersparnisse zwar aufgebraucht, aber dafür hatte Mueller-Stahl ein lukratives, von Kohner vermitteltes Angebot in der Tasche. In dem Siebenteiler Amerika für das US-Fernsehen stand er schon wenig später in einer Hauptrolle vor der Kamera – als siegreicher sowjetischer General Samanov, der Washington erobert.
Das war der Start in seine dritte Karriere – mit knapp sechzig Jahren. Weitere Rollenangebote in den USA folgten. Plötzlich bekam Armin Mueller-Stahl die Chance, das zu werden, was er immer sein wollte: ein Weltbürger – mit Wohnsitz an der deutschen Ostseeküste und in Los Angeles am Pazifik. In den USA machte er schließlich, wie er bis heute findet, einige seiner besten Filme, zum Beispiel Music Box (1989, Regie: Constantin Costa-Gavras), Avalon (1990, Regie: Barry Levinson), Night on Earth (1991, Regie: Jim Jarmusch, Musik: Tom Waits) oder Local Color (2006, Regie: George Gallo). Avalon und Night on Earth erlangten in Amerika sogar Kultstatus. 1997 wurde Mueller-Stahl in der Rolle des Pianisten-Vaters Peter Helfgott in Shine (Regie: Scott Hicks) für den Oscar nominiert. Er ging schon auf die achtzig zu, als er schließlich an der Seite von Tom Hanks in dem Blockbuster Illuminati (Regie: Ron Howard) als Kardinal Strauss eine der Hauptrollen spielte und zur Höchstform auflief. Nach Shine wurde er sogar in den großen, gleichwohl illustren Kreis der Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences berufen, die alljährlich die Oscars verleiht.
Mit Mitte achtzig jedoch überrascht er im Gespräch mit einem »Geständnis«: »Um ehrlich zu sein: Ich habe in meinem ganzen Leben keinen Film gemacht, der mich so gepackt und interessiert hätte, wie der französische Film Kinder des Olymp von Marcel Carné. Den habe ich hintereinander drei-, vier-, fünfmal gesehen. Der Regisseur François Truffaut hat einmal gesagt: Ich hätte meine ganzen Filme nicht gemacht, hätte ich nur Kinder des Olymp machen können. Und ich sage: Ich hätte auch gern alle Filme nicht gemacht, hätte ich nur den machen dürfen. In der Rolle des Frédérick Lemaître oder noch mehr als Baptiste Deburau. Aber die waren so grandios gespielt von Pierre Brasseur und Jean-Louis Barrault, ob ich das so gut hingekriegt hätte … – obwohl ich eine große pantomimische Begabung hatte. Ich habe ja immer nur diese ernsten Figuren hier gespielt, wie Thomas Mann. Den Debureau hätte ich für mein Leben gerne als Pantomime gespielt, alles dafür weggeschmissen. Bloß: Der Jean-Louis Barrault war darin so grandios. Unvergessen.« Es hätte sich die Chance allerdings nie ergeben, denn dieser Film über die auf einer wahren Geschichte beruhende Liebe von drei (im Film: vier) Männern zu einer Frau in der Zeit um 1830 kam bereits 1945 heraus, die Dreharbeiten hatten noch während der deutschen Besatzung Frankreichs begonnen. Mueller-Stahl kommt auf das Thema, als er und seine Frau davon schwärmen, wie sehr sie die von ihnen gerade gelesene Biographie von Klaus Harpprecht über die berühmte französische Schauspielerin Arletty gefesselt habe.[2] Sie war in der Rolle der Garance der Star jenes Films. Sie selbst kam übrigens wegen einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung zu dem deutschen Luftwaffenoffizier (und späteren Schriftsteller und Mitinitiator der Gruppe 47) Hans-Jürgen Soehring zeitweilig als Kollaborateurin in Haft. Mueller-Stahl hat den Kindern des Olymp, einem der großen Klassiker der Filmgeschichte, mit einem 2009 realisierten Gemäldezyklus sein eigenes kleines Denkmal gesetzt.
In einem ZEIT-Interview wurde Mueller-Stahl einmal gefragt, was der Motor seines Erfolges gewesen sei, und er antwortete: »Ich hatte einfach Angst vor dem Scheitern. Aus mir hätte so leicht eine tragische Figur werden können: Im Osten früher einmal erfolgreich, aber im Westen hat er es nicht geschafft. Ich habe mich selbst unter Druck gesetzt: Wenn ich schon hier bin, muss ich ja was machen. Das hat dazu geführt, dass ich eigentlich ein sehr gehetztes Leben geführt habe.«[3]
Lange ist schon bekannt, dass der Schauspieler seit frühester Jugend Violine spielt, ursprünglich Musik studiert hat und die einzige ständige Begleiterin durchs Leben außer seiner Ehefrau Gabriele die Geige war und ist. Man weiß auch, dass er Lebenserfahrungen und Gedanken in Form von Romanen, Tagebüchern, Gedichten und Liedern einfühlsam zu Papier bringen kann. Weniger bekannt war über lange Zeit hingegen, dass Armin Mueller-Stahl malt, dass ihm Zeichenstifte, Pinsel und Farben mindestens so wichtig und vertraut sind wie der Geigenkasten: »Zeichnen ist für mich wie Schauspielern und Schauspielern ist wie Zeichnen. Mein Leben lang habe ich Haltungen beobachtet und übertragen. Auf der...