Pseudostrapazen
Manche in Amerika angesiedelte Reiseberichte haben ein gewisses Maß an Erfolg, weil sie erschreckende, gefährliche und riskante Abenteuer vortäuschen, in denen es angeblich um Leben oder Tod geht. Dieses pseudoheldenhafte Genre wurde möglicherweise von Henry David Thoreau begründet, der – obgleich zweifelsohne ein genialer Literat – sich nach seinem Harvard-Abschluss von den Eltern aushalten ließ und die meiste Zeit im Haus der Familie verbrachte. Zeit seines Lebens (er starb im Alter von nur vierundvierzig Jahren) hatte er gesundheitliche Probleme. Insofern war es keine Übertreibung, als er 1843 in seinem Tagebuch festhielt, dass er ein kränkliches Nervenbündel sei, das wie ein welkes Blatt zwischen Zeit und Ewigkeit hinge.
Damals war er sechsundzwanzig und litt an chronischer Bronchitis, Stimmungsschwankungen und widerholten Schüben der Schlafkrankheit. Obwohl er ein Loblied auf die Natur sang und das Wandern pries, war er alles andere als ein »Naturbursche«. Bekanntermaßen wagte er im Alter von achtundzwanzig Jahren ein Experiment mit der Abgeschiedenheit und baute sich in Massachusetts am Seeufer des Walden Pond eine Blockhütte. In diesem Zusammenhang wird er häufig als Einsiedler beschrieben, der ein einsames Leben in der Wildnis führte. In Wahrheit war er jedoch nur gut anderthalb Meilen von seiner Mutter entfernt, die ihm Essen brachte und seine Kleidung wusch. Wenn er nicht gerade las oder schrieb, vertrieb er sich die Zeit mit Freunden und Bekannten beim Heidelbeersuchen.
Am Walden Pond las Thoreau unter anderem Taïpi von Hermann Melville. In dieser farbenfrohen Beschreibung Hawaiis und einer Fahrt mit einem Walfänger im Pazifik desertiert Melville gemeinsam mit einem Kameraden von diesem Schiff, und die beiden finden anschließend Zuflucht auf den abgelegenen Marquesa-Inseln. Dort erlebt er eine idyllische Romanze mit einer grazilen Inselschönheit: »Fayaweh und ich lagen im Boot, die zarte Schöne setzte von Zeit zu Zeit die Pfeife an die Lippen und blies die milden Tabakwölkchen von sich, die ihr frischer Atem noch duftender machte …«
Thoreau – zwei Jahre älter als Melville – konnte nicht wissen, dass der Autor sein Inselerlebnis arg glorifiziert hatte und keineswegs vier Monate, sondern lediglich vier Wochen auf den Marquesas gewesen war. Doch Melville fand mit diesem Buch großen Anklang, und das ausgelassene Abenteuer in diesem fernen, unverdorbenen und fremden Winkel der Welt (mit Kannibalen, Wassernymphen und Nacktheit) beeindruckte auch den zölibatär lebenden und unter Bronchitis leidenden Mann am Walden Pond zutiefst. Zumal er einige Jahre zuvor von der einzigen Frau, die er je liebte, zurückgewiesen worden war. Nach einem Jahr in Einsamkeit drohte ihm endgültig die Decke auf den Kopf zu fallen.
Zum Teil als Antwort auf Taïpi und aus dem leidenschaftlichen Wunsch heraus, ein eigenes Abenteuer in der Wildnis zu erleben, über das er dann ebenfalls schreiben konnte, begab sich Thoreau auf eine umständliche Reise nach Maine. Mit dem Zug fuhr er zuerst nach Boston, dann weiter nach Portland, dann mit dem Dampfer den Penobscot River hinauf nach Bangor, wo er auf einen Vetter und zwei Holzhändler traf. Die vier reisten zusammen mit einer wackeligen Postkutsche ins Landesinnere nach Mattawamkeag. Von dort aus ging es mit dem Kanu noch etwa fünfundzwanzig Meilen weiter bis zum North Twin Lake. Thoreau war begeistert von den dortigen Wäldern, die er als wild und undurchdringlich beschrieb, wie sie wohl auch die ersten Siedler erlebt haben mussten. Eine vergleichbare Wildnis hatte er noch nicht erlebt.
Er war überwältigt von der Natur. Endlich hatte er etwas gefunden, das ähnlich wild, ursprünglich und voller Gefahren war wie Melvilles Marquesas. Die kleine Gruppe wanderte durch den Wald bis an die unteren Hänge des Mount Kathadin. Thoreau bestieg diesen Berg allein, wobei er sich – so sagt er – wie Prometheus fühlte. Die Besteigung des Kathadin inspirierte ihn zu einer hinreißenden Beschreibung über die Schönheiten der Natur.
»Die Natur war hier etwas Wildes und Ehrfurchtgebietendes, und doch schön. Ich sah mit Staunen auf den Boden, über den ich schritt, betrachtete die Formen und Gestalten und den Stoff, auf den die Kräfte hier gewirkt hatten. Das war die Erde aus den alten Erzählungen, geschaffen aus dem Chaos und der Nacht. Dies war niemandes Garten, sondern ungezähmte Natur. Es war weder Rasen noch Wiese oder Weide, nicht Wald und Flur, nicht Acker, nicht Brachland. Es war die junge, natürliche Oberfläche des Planeten Erde, gemacht für die Ewigkeit …«
Diese kleine Spritztour, auf der vier Männer hauptsächlich durch den Wald wanderten, dauerte ganze zwei Wochen. Thoreau machte daraus in Die Wildnis von Maine eine ausgedehnte Forschungsreise. Später behauptete er, die Natur dort sei ursprünglicher und schwerer zugänglich gewesen als alles, was Melville auf den entlegenen Marquesas-Inseln erlebt habe. Und er redete sich ein, dass die Sache sehr strapaziös gewesen sei.
Pseudostrapazen dieser Art wurden alsbald fester Bestandteil amerikanischer Reiseliteratur, der sich bis zum heutigen Tag erhalten hat. Henry James muss man zugutehalten, dass er sich in den Beschreibungen seiner langen Zugreisen von Boston nach San Diego nie über Unannehmlichkeiten beschwert hat. Er erwähnt lediglich die an ein Nadelkissen erinnernde Silhouette New Yorks, monierte die optische Hässlichkeit mancher Städte und die Enge in den Reisebussen und war hinterher froh, wieder in London zu sein.
Charles Dickens fand es als Engländer gänzlich unmöglich, in den USA zu leben. Die Erinnerungen an seine USA-Reise hielt er in den Aufzeichnungen aus Amerika fest. Diese Einschätzung von Dickens teilen vier weitere aus England stammende Reisende, die in Amerika mit dem Bus unterwegs waren.
Das Gebäude der Hafenverwaltung von New York City sei ein furchteinflößender Ort, an dem man sich vollkommen alleingelassen fühle, klagt die erfolgreiche und ansonsten unerschrockene Ethel Mann in in ihrem Buch American Journey (1967) über den Beginn ihrer Busreise, und sie schreibt, man müsse der Versuchung widerstehen, sich niederzusetzen und in Tränen auszubrechen.
Mary Day Winn berichtet in The Macadam Trail: Ten Thousand Miles by Motor Coach (1931) von den Strapazen, die sie erlitt, als in Arizona ein bewaffneter Mann ihren Luxusreisebus stoppte. Beim Anblick seiner Pistole habe ein übertrieben geschminktes Mädchen auf dem Platz direkt hinter dem Fahrer schrill gekreischt. Doch statt die Passagiere auszurauben, verlangt der Mann lediglich, sechs von den Frauen im Bus zu küssen. Ehe er die verängstigten Fahrgäste schließlich verlässt, erklärt er noch, dass er es keinen Tag länger ausgehalten hätte, ohne ein hübsches Mädel zu küssen.
Ungemach bereitet es dem englischen Schriftsteller Ernest Young in San Antonio, Texas, dass er so früh aufstehen muss, um den Bus zu seiner North American Excursion (1947) zu erreichen. Darin berichtet er über eine Tagesreise von vierhundertdreißig Meilen, was in etwa der Strecke von der schottischen Grenze bis nach Land’s End in Cornwall entspricht. Dazu habe er erneut sehr zeitig aufstehen müssen, was ihm nicht sonderlich behagte. Ein überhastetes Frühstück in einer kleinen Hütte an der Straße, während es draußen verregnet und neblig war, erschien ihm nicht als der ideale Beginn einer so langen Reise.
James Morris schreibt in seinem Buch Coast to Coast (1965) von Menschen verschiedenster Abstammung, die nach Amerika kamen, um reich zu werden, und dort geblieben seien und nun ein Leben führten wie verwahrloste Tiere. Weiter berichtet er, dass unter solch prekären Umständen Rassenvorurteile entstünden, deren Auswirkungen man häufig in Form von Pöbeleien und Rempeleien im Bus oder auf der Straße beobachten könne – wenn etwa ein betrunkener Schwarzer die Weißen verfluchte, während er sich auf seinen Platz fallen ließ, oder ein Weißer sich rücksichtslos seinen Weg durch eine Gruppe von schwarzen Frauen bahnte.
Obwohl das Buch von Morris ansonsten warmherzig und wohlwollend geschrieben ist, enthält es doch auch immer wieder von Furcht geprägte Betrachtungen. So stellt er beispielsweise fest, dass eine gewisse Brutalität im amerikanischen Alltag stets präsent sei. Außerdem berichtet er von Stürmen, Hochwasser, dem reißenden Rio Grande und starken Böen (die er als Taifun bezeichnet) in Vicksburg, Mississippi. »Gewalt lauert überall.«
Selbst die Zusammenkünfte ehrbarer Geschäftsleute wirken auf ihn »rüde«, ja sogar die Versammlungen einschlägiger Wohltätigkeitsvereine. Dabei war die Reise, die Morris unternahm, gänzlich harmlos und von Wildnis meilenweit entfernt. Trotzdem notiert er, dass die Leute ihn mit impertinenten Fragen bedrängt hätten.
Viele Jahre später wurde durch Geschlechtsumwandlung aus dem James eine Jan. Jan erwarb eine Eigentumswohnung in New York, einer Stadt, auf die sie schon bald ein Loblied sang.
Dazu muss gesagt werden, dass niemand von diesen Reisenden einen Berg bestiegen, sich durch dichten Wald gekämpft oder zu Fuß eine Wüste durchquert hat. Vielmehr waren sie allesamt komfortabel per Bus oder Auto auf intakten Straßen unterwegs. Doch mit ihren heillosen Übertreibungen sind sie keineswegs allein. Viele amerikanische Autoren ergehen sich in Pseudostrapazen und stellen das Unterwegssein auf den Straßen Amerikas als höchst beschwerlich dar. In seinem Buch Die Reise mit Charley beschreibt John...