Hamburger fragen Helmut Schmidt
Am 2. April 2014 veranstaltete die ZEIT zum Start ihrer neuen Hamburg-Seiten eine »lange Nacht« mit 22 Veranstaltungen an 14 besonderen Orten der Stadt. Im Deutschen Schauspielhaus unterhielt sich Chefredakteur Giovanni di Lorenzo mit Helmut Schmidt, genauer gesagt: Er stellte ihm Fragen, die zuvor von Lesern eingereicht worden waren.
Giovanni di Lorenzo Meine Damen und Herren, herzlich willkommen. Wir freuen uns riesig, in diesem Haus sein zu dürfen, wir freuen uns, dass Sie so zahlreich gekommen sind. Wir hätten dieses Haus zweimal voll ausbuchen können, wir hatten fast 3000 Anmeldungen. Ich habe gesehen, dass einige noch versucht haben, vor dem Eingang Karten zu finden. Überhaupt hat es für unsere Veranstaltungsreihe heute Abend an 14 verschiedenen Orten 10000 Anmeldungen gegeben. Es ist das erste Mal, dass wir das machen, und wir hoffen sehr, dass der Andrang allen eine Ermunterung ist, diese Reihe fortzusetzen.
Der eine oder andere von Ihnen weiß es, Helmut Schmidt und ich haben lange Übung im Fragen und Antworten, aber dieses Mal, heute Abend, geht es um Ihre Fragen. Wir haben dazu aufgerufen, uns Fragen einzusenden über Facebook, über unsere Website. Es sind erwartungsgemäß sehr viele Anfragen gekommen. Ich habe mir erlaubt, ein bisschen zu sortieren und zu bündeln.
Ich würde gerne beginnen, lieber Herr Schmidt, mit einer Frage unserer Leserin B.S., die wissen möchte – und die Frage haben in verschiedenen Variationen auch andere gestellt –, wann, lieber Herr Schmidt, waren Sie zum ersten Mal auf der Reeperbahn?
Schmidt Ich glaube mit 17 oder 18 Jahren, das muss also 1936 gewesen sein.
di Lorenzo Wussten Sie damals schon, was Sie taten?
Schmidt Ich wusste, was ich tat, und wusste, was ich nicht tun würde.
di Lorenzo Mehrere Leserinnen möchten gerne wissen, welches Erlebnis aus Ihrer Kindheit oder Jugend in Bezug auf Hamburg für Sie besonders eindrucksvoll war.
Schmidt Ich bin von meinem Vater als Schüler nach England geschickt worden und drei Wochen in Manchester zur Schule gegangen. Und auf der Rückfahrt kamen wir in einen dollen Sturm, das war im Jahre 1932, wenn ich das einigermaßen richtig erinnere.
di Lorenzo Das heißt, Sie waren 14?
Schmidt Ich wurde 14, ich war 13. Ich erinnere zwei Ereignisse. Es gab ein schlimmes Unwetter – in dem Vorschiff, in dem wir saßen, waren 40 Jungs, alle haben gekotzt –, aber gleichzeitig ging westlich von Fehmarn die Niobe unter; das war ein Segelschulschiff. Das haben wir erst zwei, drei Tage später in der Zeitung gelesen oder gehört. Und zugleich gab es in Altona, in Ottensen, eine Schießerei zwischen SA und Kommunisten. Diese beiden Ereignisse – der Untergang der Niobe, unsere eigene Seekrankheit und die Schießerei in Altona, ich glaube 17 Tote – haben sich mir tief eingeprägt.
di Lorenzo K.B., der offenbar ein leidenschaftlicher Fahrradfahrer ist, wüsste gerne, ob Sie früher Hamburg per Fahrrad erkundet haben. Und wenn ja, welches war Ihre Lieblingsstrecke?
Schmidt Ich habe Hamburg nicht per Fahrrad erkundet, sondern ich habe zu Hause gesessen und gelesen.
di Lorenzo Ganz viele möchten wissen, warum Sie sich für Langenhorn als Wohnort entschieden haben.
Schmidt Das war in einer Zeit, in der hatte kein Mensch in Hamburg eine eigene Wohnung. Zum Beispiel meine Frau und ich, wir waren als eine von vier Parteien Mieter ein und derselben Wohnung; vier Frauen in der Küche, es ging einigermaßen gut. Und in jenen Jahren wurde ich gefragt, willst du nicht bei uns für den Bundestag kandidieren? Und ich habe gedacht, das ist eine interessante Erfahrung, das machst du einmal. Und ich habe das getan und wurde gewählt. Und dann hat sich die damalige Baugenossenschaft, genannt Neue Heimat, an mich gewendet und hat gesagt, du musst doch in deinem Wahlkreis wohnen, du kannst doch nicht in Othmarschen bleiben mit vier Parteien in einer Wohnung.
di Lorenzo Und vier Frauen in der Küche.
Schmidt Ich musste in meinen Wahlkreis ziehen, und das war Langenhorn, Fuhlsbüttel, Barmbek, Eppendorf. Das war ein reiner Zufall, das muss 1961 gewesen sein, und seitdem wohnen wir in Langenhorn und fühlen uns ganz wohl.
di Lorenzo Welche Persönlichkeit der Hamburger Zeitgeschichte schätzen Sie am meisten?
Schmidt Max Brauer.
di Lorenzo Den Namen kennen wahrscheinlich die meisten in Hamburg, aber Sie müssen ein bisschen erklären, was er der Stadt Gutes getan hat.
Schmidt Das Beste, was er der Stadt beigebracht hat, war sein Optimismus. Er kam als Amerikaner wieder, war amerikanischer Staatsbürger geworden, und wir haben ihm – das war bei Planten un Blomen – zugerufen, er soll hier bleiben, das war damals noch gar nicht sicher. Das muss 1946 gewesen sein. Max, hierbleiben! Ich habe auch mit gebrüllt. Und das hat er gemacht und hat dann kandidiert zur Bürgerschaft. Er wurde gewählt. Er ist derjenige, der den Hamburgern Optimismus gepredigt hat. Und er hat auch ein paar gute Sachen zustande gebracht. Wenn Sie heute den Harvestehuder Weg langgehen, den hat es damals nicht gegeben, den hat Max Brauer geschaffen. Er hat die Villenbesitzer davon überzeugt, dass sie ihre Gärten hergeben müssen.
di Lorenzo Haben Sie ihn auch persönlich kennengelernt?
Schmidt Ja. Und ich war ganz stolz darauf – als Sozi duzte man sich damals –, zu ihm »Max« sagen zu dürfen.
di Lorenzo Gibt es einen bestimmten Hamburger Typus, Kaufleute oder Reeder, der Ihnen am Herzen liegt? Sie können auch andere Gruppen nennen.
Schmidt Einen meiner beiden Großväter habe ich überhaupt nicht kennengelernt, der andere Großvater war ein Adoptivgroßvater, ein sehr einfacher Mann, in Hamburg heißen diese Leute Schauerleute. Er war am Sandtorkai, hat sich mit dem Ent- und Beladen von Schiffen beschäftigt. Und er musste morgens zu Fuß von Barmbek zum Hafen marschieren. Wenn er Glück hatte, wurde er eingeteilt zur Arbeit, und dann kam er abends mit der Heuer nach Hause. Wenn er Pech hatte, wurde er nicht eingeteilt, dann ging er gleich in die Kneipe, und wenn er dann nach Hause kam, war er unleidlich. Sonntags war es anders, sonntags kriegten wir, wenn wir den Opa besuchten, all die guten Sachen vorgesetzt, Sardinen, Apfelsinen, Bananen – da hatte er »einen Sack fallen lassen«. Das war damals eine Art Deputat, das war so. Er war ein einfacher Mann, aber nicht unbedingt liebenswert. Seine Frau, Oma Schmidt, das war eine wunderbare Frau, die stammte aus Siethwende im Kreis Pinneberg, wenn ich das richtig erinnere, sie habe ich in guter Erinnerung. Was hatten Sie gefragt?
di Lorenzo Ich finde, die Antwort passt sehr gut zu meiner Frage, die lautete: Gibt es einen bestimmten Typus in Hamburg, den Sie besonders schätzen?
Schmidt Eigentlich nicht. Eigentlich sind mir die Hamburger insgesamt ans Herz gewachsen, besonders aber die Industriearbeiter; von denen gibt es relativ wenige in Hamburg, die meisten Arbeiter sind in Wirklichkeit Angestellte.
di Lorenzo Weil Sie von Ihren Großeltern gerade gesprochen haben, haben Sie eigentlich Ihren jüdischen Großvater jemals kennengelernt?
Schmidt Nein.
di Lorenzo S.W. hat uns eine Frage geschickt, die ihn eindeutig als ZEIT-Leser ausweist: »Sehr geehrter Herr Schmidt, Gräfin Dönhoff schrieb einmal, Sie hätten eine heimliche Leidenschaft, die Ornithologie. Wenn Sie den Brahmsee oder die Außenalster sehen, was bedeuten Ihnen Haubentaucher, Kormoran und Stockente?«
Schmidt Das sind für mich Haustiere. Aber ich kenne sehr viel mehr Vögel. An den Brahmsee beispielsweise kommen Wissenschaftler aus Kiel, die sich mit Ornithologie oder mit Biologie beschäftigen; sie haben inzwischen auf unserem Grundstück über dreißig verschiedene Vogelarten kennengelernt. Ich weiß zum Beispiel von einem Eisvogel, den die Engländer Kingfisher nennen, der lebt versteckt abseits der Straße von Nortorf nach Rendsburg. Ich weiß genau, wo das ist, aber ich werde das nicht verraten.
di Lorenzo Gibt es denn noch den von Ihnen und Loki angelegten kleinen Urwald am Brahmsee?
Schmidt Den gibt es noch. Aber wir haben ihn nicht angelegt, sondern wir haben eine Brache sich selbst überlassen. Das war schlechter Boden dort, Sandboden, dort wuchs nichts richtig; der Landwirt ließ die Brache liegen, und wir haben sie ihm abgekauft. Wir haben nicht gewässert, nicht gedüngt, wir haben nichts gepflanzt, wir haben nur abgewartet. Inzwischen sind die Bäume 16 Meter hoch, einige noch ein bisschen mehr. Und mitten in diesem sogenannten Urwald gibt es auch eine Eierpflaume,...