Vorwort
Die Bedeutung des Anderswo
WENN ICH MICH ALS KIND DANACH sehnte, von zu Hause wegzugehen, möglichst weit weg, stellte ich mir eine Flucht vor. Ich malte mir aus, wie mein kleines Ich allein aus dem Haus rannte. Das Wort »Reisen« gehörte damals noch nicht zu meinem Wortschatz, ebenso wenig wie »Verwandlung«, obwohl das mein unausgesprochener, anhaltender Wunsch war. Ich wollte an einem fernen Ort ein neues Ich finden, und neue Dinge, mit denen ich mich auseinandersetzen musste. Ich vertraute auf die Bedeutung des Anderswo. Anderswo war der Ort, wo ich sein wollte. Da ich zu jung zum Reisen war, las ich über das Anderswo und erträumte mir meine Freiheit. Bücher waren meine Straße. Und dann, als ich alt genug war, wurden die Straßen, die ich bereiste, zur fixen Idee meiner eigenen Bücher. Und ich erkannte, dass die leidenschaftlichsten Reisenden schon immer leidenschaftliche Leser und Autoren waren. Und so kam es zu diesem Buch.
Der Wunsch zu reisen scheint typisch menschlich: das Bedürfnis, sich fortzubewegen, seine Neugier zu befriedigen oder Ängste zu beschwichtigen, die eigenen Lebensumstände zu verändern, ein Fremder zu sein, Freundschaften zu schließen, eine exotische Landschaft zu erleben, das Unbekannte zu riskieren, Zeuge der tragischen oder komischen Konsequenzen zu werden, wenn man geradezu besessen ist von dem Gedanken, dass zwischen Menschen im Grunde nur geringe Unterschiede bestehen. Tschechow sagte einmal: »Wer die Einsamkeit fürchtet, sollte nicht heiraten.« Ich würde sagen: Wer die Einsamkeit fürchtet, sollte nicht reisen. Reiseliteratur schildert nicht zuletzt, wie Menschen mit der Einsamkeit umgehen. Das ist manchmal verstörend, häufiger bereichernd, gelegentlich ungewöhnlich spirituell.
Seit ich reise, wird mir immer wieder die Frage gestellt: »Was ist Ihr Lieblingsreisebuch?« Eine ärgerliche Frage. Was soll man darauf antworten? Ich bin seit fast fünfzig Jahren auf Reisen und schreibe seit über vierzig Jahren darüber. Eins der ersten Bücher, das mein Vater mir als Kind vor dem Einschlafen vorlas, war Donn Fendler: Lost on a Mountain in Maine. Es beruht auf einer wahren Begebenheit in den dreißiger Jahren und beschreibt, wie ein Zwölfjähriger acht Tage lang auf dem Mount Katahdin überlebte. Es war hart für Donn, doch er fand allein den Weg aus den Wäldern Maines zurück in die Zivilisation. Ich lernte aus dem Buch viel über das Überleben in der Wildnis, darunter auch die einfache Grundregel: »Folge einem Fluss oder Bach immer in Richtung der Strömung.« Seitdem habe ich viele Reisebücher gelesen, bin auf jedem Kontinent mit Ausnahme der Antarktis gereist und habe insgesamt acht Bücher und Hunderte Essays über meine Reisen verfasst. Und immer wieder hat mich die Vorstellung inspiriert, wie es der kleine Donn allein den hohen Berg hinunter schafft.
Reisegeschichten sind die ältesten Geschichten der Welt, sie sind das, was der Wanderer nach seiner Heimkehr am Lagerfeuer erzählt. »Stellt euch vor, was ich gesehen habe!« Nachrichten aus der großen, weiten Welt, das Ungewöhnliche, das Fremde, das Schockierende, Geschichten von wilden Tieren oder anderen Völkern. »Sie sind genau wie wir!«, oder: »Sie sind ganz anders als wir!« Die Erzählung des Reisenden hat immer etwas von einem Forschungsbericht. Reisegeschichten bilden aber zugleich den Ursprung unserer erzählenden Literatur, in dem Maße, wie der Reisende die wahren Erlebnisse mit Übertreibungen oder erfundenen Details ausschmückt. So entstand der erste moderne Roman der englischen Literatur. Daniel Defoe stützte sich bei seinem Robinson Crusoe auf die tatsächlichen Erlebnisse des Schiffbrüchigen Alexander Selkirk, allerdings erweiterte er die Geschichte und machte aus Selkirks viereinhalb Jahren auf einer abgelegenen Pazifikinsel achtundzwanzig Jahre auf einer Insel in der Karibik. Außerdem erfand er Freitag und die Kannibalen und auch sonst allerlei Tropisch-Exotisches.
Der Erzähler will seine Zuhörer mit einer fesselnden Geschichte in seinen Bann schlagen und ihre Augen zum Leuchten bringen. Ich stelle mir einen Reiseautor manchmal vor wie den Geist von Hamlets Vater im ersten Akt des Dramas:
So höb’ ich eine Kunde an, von der
Das kleinste Wort die Seele dir zermalmte,
Dein junges Blut erstarrte, deine Augen
Wie Stern’ aus ihren Kreisen schießen machte,
Dir die verworrnen krausen Locken trennte,
Und sträubte jedes einzle Haar empor.
Nun, für gewöhnlich sind Reisegeschichten aber wohl eher anekdotisch, amüsant, lehrreich, absurd, prahlerisch, komisch-heldenhaft. Nur gelegentlich auch haarsträubend. Manchmal warnen sie die Neugierigen. Und nicht selten wirken sie seltsam vertraut. Im besten Fall sind sie Beispiele für das Menschlich-Allzumenschliche in unserem Leben.
Das Reisen hat sich in den letzten Jahren stark verändert, nicht nur weil man heutzutage fast jeden Punkt der Erde in relativ kurzer Zeit erreichen kann, sondern auch aufgrund der neuen Medien. Wir sind global vernetzt. Das Internet vermittelt uns den Eindruck, dass wir alles bereits wissen. Es verleitet auch zu der irrigen Annahme, dass man ohne körperliche Anstrengung reisen könne. Doch immer noch sind viele Teile der Welt wenig bekannt, und es lohnt die Mühe, sich fernab der ausgetretenen Pfade zu bewegen. Ich selbst habe noch eine Zeit erlebt, in der viele Orte dem Reisenden das aufregende Gefühl gaben, ein Kolumbus oder ein Robinson Crusoe zu sein.
Unterwegs an abgelegenen oder von der Welt abgeschnittenen Orten habe ich viel über die Welt und mich selbst gelernt: das Gefühl des Fremdseins, die Freude und Befreiung beim Reisen, die Wahrheit des Reisens und die Erkenntnis, dass Einsamkeit – die zu Hause eine Zumutung gewesen wäre – zum Reisen dazugehört. Denn beim Reisen »ergibt das Fremdsein einen Sinn«, wie Philip Larkin in seinem Gedicht »The Importance of Elsewhere« sagt.
Reisen im Traum war für Sigmund Freud ein Symbol des Todes. Dass eine Reise – der Aufbruch ins Ungewisse – riskant, ja sogar fatal sein kann, war für Freud eine naheliegende Schlussfolgerung, denn er selbst litt unter einer schweren Reisephobie. Er hatte so große Angst, einen Zug zu verpassen, dass er immer zwei Stunden zu früh am Bahnhof war, und wenn der Zug endlich einfuhr, reagierte er geradezu panisch. In seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse heißt es daher: »Das Sterben wird im Traum durch Abreisen, Mit-der-Eisenbahn-Fahren ersetzt.«
Das empfinde ich anders. Ich verbinde mit Zugreisen meine glücklichsten Reisetage. Manche Reisen sind mühsam und auch anstrengend, aber in gewisser Weise ist jede Reise eine mentale Herausforderung, und selbst unter schwierigsten Bedingungen halten Reisen ihre Momente der Erleuchtung bereit.
Die Freuden des Reisens sind das Thema dieser Anthologie. Die Freuden und auch die Leiden, die in der Erinnerung ja immer nostalgisch verklärt erscheinen. Diese Ambivalenz betrifft auch die Reiseliteratur selbst. Als ich die hier zitierten Bücher noch einmal las, stellte ich fest, wie antiquiert vieles wirkt. Die Dramatik und Romantik einer vergangenen Zeit! Und doch ist vieles, was uns heute so altmodisch erscheint, noch gar nicht so lange her.
Dieses Buch ist eine Blütenlese von Beobachtungen und Erkenntnissen, die ich in vielen Jahren des Reisens, des Lesens und des Schreibens sammeln konnte. Es ist gedacht als Leitfaden, Ratgeber, Sammelsurium, Vademekum und Lektüreliste. Und weil die Reise immer auch eine Metapher für das Leben als solches ist, sind viele Bemerkungen der Autorinnen und Autoren, die die Eindrücke ihrer Reise festhielten, nicht selten auch philosophischer Natur. Eine Zen-Weisheit besagt: »Du kannst den Weg nicht gehen, bevor du nicht zum Weg geworden bist.« In diesem Sinne hoffe ich, dass eine Anthologie zum Thema Reisen auch etwas darüber aussagt, wie wir leben und wie wir denken.
Die Buchtitel des Autors werden wie folgt abgekürzt:
APE | Der alte Patagonien-Express |
KBS | The Kingdom by the Sea |
SWS | Sunrise with Seamonsters |
DCA | Das chinesische Abenteuer |
TEE | To the Ends of the Earth |
GIO | Die glücklichen Inseln Ozeaniens |
AGM | An den Gestaden des Mittelmeeres |