Artgerecht essen
»Satt heißt nicht, dass keine Schokolade mehr reinpasst.«
Unbekannt
Artgerecht essen – was heißt das? Die einen sagen sofort: »Paleo-Ernährung!« Die anderen rufen: »Veganismus!« Die Dritten plädieren für gesunde Mischkost. Manche Vegetarier wechseln zur sogenannten Paleo-(»Steinzeit«-)Ernährung oder umgekehrt – und jeder denkt, er hätte jetzt die eine, richtige Nahrung gefunden. Das kann sogar in sich stimmen: Man hat die richtige für sich selbst gewählt – für den eigenen Körper, die eigenen Gewohnheiten, das eigene Leben.
Fakt ist aber: Die eine richtige »Diät« für alle gibt es nicht. Kann es auch nicht. Denn der Homo sapiens ist ein »Allesfresser« (Omnivore), der sich insbesondere deshalb so prima auf diesem Planeten ausbreiten konnte, weil Babys auf den warmen Inseln der Seychellen nach dem Stillen als Erstes Papaya aßen und gut vertrugen, aber im kalten nördlichen Alaska jahrhundertelang vor allem Fisch – und ihnen auch das gut bekommen ist.
Hinzu kommt, dass jeder Mensch möglicherweise anders aufs Essen reagiert. Wer was verträgt, ist individuell verschieden – so wie unsere Genetik auch mit darüber entscheidet, welche Medikamente bei uns gut wirken und welche nicht so sehr. Für uns heute ist also die Frage weniger, was absolut gesehen »richtig« ist, sondern was und wie wir essen wollen. Darüber hinaus dürfen wir nicht übersehen, dass Essen vor allem auch ein gemeinsames Ritual ist, das der Familie mehr bringt als nur die hinreichende Nährstoffzufuhr.
Wir leben in einer Zeit und in einer Region, in der theoretisch alle jederzeit genau das essen können, worauf sie gerade Lust haben. Das macht es uns zum Beispiel in Hinblick auf die Figur viel schwieriger als unseren Vorfahren, die nicht der Versuchung omnipräsenter industriell produzierter Agrarprodukte ausgesetzt waren. Denn darauf sind unser Gehirn und unser Stoffwechsel evolutionsbedingt nicht vorbereitet. Zucker und Salz waren immer wichtig, früher aber rar – also wollten wir davon möglichst viel. Und das große Verlangen danach haben wir auch noch heute, obwohl sie im Überfluss vorhanden sind. Das kann zu deren ungehemmtem Konsum verleiten, der sich dann schädlich auf uns auswirkt. Gerade wenn Eltern auf gesunde Ernährung pochen, kommt es da schnell zu Konflikten. Manchen Kindern kann man das Essen völlig frei geben, sie »springen« auf Salz und Zucker weniger stark an. Andere Kinder würden am liebsten ausschließlich Chips und Süßigkeiten essen, wenn wir nicht eingriffen. Die Fähigkeit zur Selbstregulation hängt beim Essen nicht unwesentlich vom individuellen Stoffwechsel ab und lässt sich nicht verallgemeinern.
Gerade beim Essen gilt also: Das, was wir wollen, ist häufig nicht das, was wir brauchen. Der Begriff »Gleichwürdigkeit« kennzeichnet eine Beziehung, in der die Wünsche und Belange des Kindes genauso ernst genommen werden wie die der Erwachsenen. Falls Gleichwürdigkeit bei Tisch aber so verstanden wird, dass die Lust der Kinder ausschlaggebend dafür ist, was es zu essen gibt, wird es schnell schwierig. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul schreibt in seinem Buch Essen kommen: »Wenn die Lust des Kindes ununterbrochen die Handlungen der Eltern bestimmt, so ist das weder Erziehung noch Einbeziehung, sondern Übertragung, weil die Erwachsenen die Führungsrolle auf das Kind übertragen.«2 Noch schlimmer wird es, wenn wir den Kindern immer geben, was sie verlangen, weil wir Konflikten aus dem Weg gehen wollen. Oder Angst haben, das Kind könnte verhungern, wenn es heute Mittag nichts isst. Genauso richtig ist es, dass wir natürlich auch das auf den Tisch bringen, was die Kinder sich wünschen. Es gilt, die Meinung der Kinder zu hören, sie am Entscheidungsprozess zu beteiligen und den gesunden Mittelweg zu finden zwischen den eigenen Erfahrungen und dem Input der Kinder. Dann können sich Kinder zu Teilnehmern am Gruppenprozess »Familie« entwickeln.
Juul schreibt weiter: »Diese Entwicklung findet nur dann statt, wenn sie [die Kinder] in verantwortlichen Erwachsenen seriöse Gegenüber finden, die bereit sind, sie ernst zu nehmen, ohne ihnen notwendigerweise recht zu geben.« Ach weißt du, Jesper – wenn ich ein müdes Kindergartenkind abends um sechs nicht dazu kriege, meinen Möhrensalat lecker zu finden (und weiß, dass es eine unruhige Nacht wird, wenn es jetzt nicht isst), werde ich den Ratschlag mit den seriösen Gegenübern getrost ignorieren und Pfannkuchen backen. Aber in anderen Momenten ist es gut, mich daran zu erinnern, dass es mein Job ist, diese Entwicklung zu ermöglichen!
Artgerecht essen – so geht’s
Artgerecht zu essen heißt vor allem, die Produkte nach regionalen und saisonalen Kriterien zu wählen, auf Vielfalt zu achten, möglichst Wildwachsendes zu essen und die Mahlzeiten gemeinsam einzunehmen.
Steaks aus Argentinien, Amarant aus Indien, Bananen aus Costa Rica – wir können fest davon ausgehen, dass das sehr neu in der Menschheitsgeschichte ist: Wir essen Lebensmittel, die es bei uns normalerweise gar nicht gibt, die aus einer völlig anderen Klimazone stammen als der, in der wir heimisch sind. Ob es sich für den Körper wirklich negativ auswirkt – die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) sagt zum Beispiel, dass Bananen im Winter kontraproduktiv sind, weil Südfrüchte den Körper thermisch kühlen –, ist nicht ohne Weiteres nachweisbar. Was aber als gesichert gelten darf: Für den Planeten ist es ungesund. Die Transportwege unseres Essens summieren sich nach einer US-amerikanischen Studie auf bis zu 11 Prozent des sogenannten ökologischen Fußabdrucks unserer Nahrung.3
Essen für den Planeten
Was wir essen, hat einen direkten Einfluss auf unseren Planeten und das Klima. Wenn wir lediglich einen Tag in der Woche weniger Fleisch oder Milchprodukte essen, sparen wir noch mehr Kohlendioxid (CO2) ein, als wenn wir zu unserem Steak nur noch Kohl vom Bauern um die Ecke kaufen. Die bereits zitierte Studie4 aus den USA zeigte, dass eine völlig »lokale« Ernährungsweise die Schadstoffemissionen (CO2 und andere beim Transport entstehende Schadstoffe) von etwa 1600 Transportkilometern pro Jahr und Mensch einspart. Wenn wir einmal die Woche, statt rotes Fleisch und Milchprodukte zu verzehren, umsteigen auf Huhn, Eier, Fisch oder vegetarisches Essen, dann reduzieren wir die Emissionen so, als wäre unser Essen 1860 Kilometer pro Jahr weniger unterwegs. Wer sich völlig von rotem Fleisch und Milchprodukten fernhält, spart das Äquivalent von 13000 Kilometern Transportwegen im Jahr. Das kommt daher, dass rotes Fleisch nicht nur als fertiges Produkt herumkutschiert wird, sondern weil schon bei der Produktion enorme Transportwege anfallen.
Erdbeeren im Winter? Wir essen längst nicht mehr das, was gerade auf den Feldern wächst. Es ist ja durchaus von Vorteil, dass wir zum Beispiel den ganzen Winter über Äpfel aus Kühlhäusern haben und die Kinder nicht mit Sauerkraut füttern müssen, um die Vitamin-C-Versorgung sicherzustellen. Dennoch sind die Früchte, die gerade Saison haben, weniger angewiesen auf Düngemittel und Pestizide, ihre Produktion verbraucht weniger Energie, oft schmecken sie besser, und wir haben den Vorteil, dass sich die natürlichen Rhythmen auch auf unserem Tisch bemerkbar machen. Hier gilt es also, den gesunden Menschenverstand walten zu lassen: Was kann ich guten Gewissens kaufen, auch wenn es gerade keine Saison hat, und was sollte ich besser bleiben lassen, weil es von weit her zu uns transportiert wird oder aufwendig in temperierten Gewächshäusern herangezüchtet werden muss? Es lohnt sich, dafür in einen sogenannten Ernte- oder Saisonkalender zu schauen, den Sie leicht im Internet finden und der ganz neue Optionen eröffnen kann, was auf den Tisch kommt!
Achten Sie auch auf die Vielfalt der Nahrung – unsere Vorfahren haben sich von Hunderten verschiedener Nahrungsmittel ernährt, die Kost der Menschen in der Frühsteinzeit und selbst noch von Jäger-und-Sammler-Völkern unserer Zeit war und ist ausgesprochen abwechslungsreich. Eine Studie5 zur Ernährung der Aborigines in Groote Eylandt und der Donydji-Region zeigt, dass die Gruppen zwischen 100 und über 300 verschiedene Nahrungsmittel nutzten, darunter Landtiere, Reptilien, Vögel, Fische und zwischen 22 und 130 verschiedene Pflanzen. Wir hingegen beschränken uns trotz der Vielfalt unserer Supermärkte auf einen Bruchteil dieser Auswahl.
Einfaches Essen aus der Natur
Klar können wir einen Wildkräuterkurs machen und tagelang durch Forst und Wiesen streifen, um seltene Kräutchen zu finden. Aber ich mache es mir gern einfach und habe daher beschlossen, dass wir vor allem das nehmen, was man ohnehin kennt und was überall wächst.
Wir haben daher schlicht mit der Brennnessel angefangen. Sie wächst praktisch überall, ist leicht zu erkennen (brennt!) und ein wahrer Schatz an Eisen, Vitamin C und A. Ihre Blätter lassen sich mit Handschuhen pflücken, die ganz jungen Blätter oben an der Pflanze auch mit der bloßen Hand. Die Samen sind im August reif und dunkel und voller Nährstoffe. »Brennt das denn nicht beim Essen?« – Nein, die Nessel brennt nicht mehr, wenn wir die Blätter im Mixer mit Quark oder Frischkäse zu Kräuterquark verarbeiten oder mit Birne,...