VORSICHT, ÜBERTHERAPIERUNG
Die bildgebenden Verfahren sind Segen und Fluch zugleich. Einerseits geben sie einen differenzierten Blick ins Körperinnere, andererseits werden Befunde damit oft dramatisiert.
Um diese Tatsache kommt niemand herum: Die Gelenke unterliegen mit zunehmendem Alter einem ganz normalen Verschleißprozess, der erst durch die Schmerzen zu einem Krankheitsbild wird. Nicht jeder, der via bildgebende Verfahren Abnutzungserscheinungen im Gelenk aufweist, muss automatisch Schmerzen haben. Und nicht bei jedem, der unter Arthrose leidet, lassen sich im Bild stark degenerative Knorpelschädigungen nachweisen. Eine Röntgenaufnahme geht schnell und bringt der Praxis Geld. Ist das Bild dann einmal da, werden die sichtbaren Befunde nicht selten mit möglichen Symptomen, düsteren Zukunftsaussichten oder drastischen Therapiemaßnahmen in Zusammenhang gebracht. Deshalb können Bilder die Befunde dramatisieren und Ihre Gelenke kränker aussehen lassen, als sie sind.
DER SCHMERZ ENTSCHEIDET ÜBER DIE THERAPIE
Wenn man so will, ist der Befund Arthrose eine radiologische Bestandsaufnahme mithilfe eines medizinischen Stufenrasters von 1 bis 4 (1 entspricht einem leichten Verschleißstadium und 4 einer kompletten Knorpelabnutzung, siehe >). Schmerzintensität und Verschleißstadium korrelieren aber, wie wir gesehen haben, nicht zwingend. Wir betreuen Patienten, die mit fortgeschrittener Arthrose sehr gut leben. Aus diesem Grund bedarf es einer umfangreichen ärztlichen Differenzialdiagnostik, um:
die wichtigen von den unwichtigen Befunden zu unterscheiden;
den Ursachen der Schmerzen auf den Grund zu gehen;
andere Beschwerdebilder auszuschließen.
»Herr Doktor, warum soll ich mich operieren lassen, wenn ich mit einer harmlosen Spritze alle acht Wochen seit vielen Jahren gut leben kann?« Diese Antwort gab eine 84-jährige, sehr rüstige Dame, die seit Jahren bei uns zur Behandlung ist, auf die Frage, wie sie zu einem Gelenkersatz stünde. Sie hat eine fortgeschrittene Arthrose im Knie und kommt mit Injektionen in regelmäßigen Abständen sehr gut zurecht. Ganz beschwerdefrei zu werden, ist in ihrem Fall nicht das Therapieziel.
Es geht darum, dass Arzt und Patient ein Team bilden, um die Beschwerden möglichst sanft und zum Wohle des Betroffenen in den Griff zu bekommen. Die Entscheidung für eine Therapie ist daher immer auch eine Frage der Verhältnismäßigkeit: Rechtfertigen die Erfolgsaussichten eines Eingriffs auch die damit einhergehenden Risiken und Nebenwirkungen? Oder erzielt ein schonendes Verfahren das gleiche oder bessere Ergebnis – nur unter etwas größerem zeitlichen Aufwand?
Am Problem vorbeitherapiert?
Wir warnen davor, Therapiemaßnahmen – und schon gar operative – aufgrund einer Röntgen- oder MRT-Aufnahme zu verordnen. Werden die Beschwerden ausschließlich auf im Bild sichtbare Abnutzungserscheinungen im Gelenk zurückgeführt, kann eine Operation – ob Arthroskopie (Gelenkspiegelung) oder Gelenkersatz – glattweg an der Ursache vorbeitherapieren. Der behandelnde Arzt muss die Ergebnisse von Röntgenbild & Co. immer im Kontext mit der Befindlichkeit des Betroffenen und aller zur Verfügung stehenden Untersuchungsmethoden betrachten.
Das Ideal: Minimaler Eingriff, minimales Risiko, maximales Ergebnis.
DIE KEHRSEITE DES MEDIZINISCHEN FORTSCHRITTS
Die bildgebenden Verfahren tragen nicht unmaßgeblich dazu bei, dass zu schnell zum Messer gegriffen wird. Vor allem dann, wenn Schmerzintensität und Verschleißgrad übereinstimmen, ist der Schritt in die Operation nicht mehr weit. Der Einsatz von Gelenkprothesen ist zu einem Routineeingriff geworden. Die Ausnahme hat sich zur Regel entwickelt.
AUS DER PRAXIS
»Ein 45-jähriger Heizungsinstallateur, der kurz vor einem Gelenkersatz an der Hüfte stand, kam zu uns in die Praxis, um eine Zweitmeinung einzuholen. Er litt seit Längerem unter starken Schmerzen, vor allem in der linken Hüfte. Weil sich im Bild ein belastungsbedingter arthrotischer Befund gezeigt hatte und die Beschwerden immer schlimmer wurden, hatte ihm sein Arzt mit den Worten ›Das muss man machen!‹ zu einer Hüftprothese in der linken Seite geraten. Bis dahin hatte der Patient im Verlauf von zwei Jahren zwei Spritzen in die Hüfte bekommen.
Eine eingehende Untersuchung und der Abgleich mit dem Verschleißzustand auf den Bildern rechtfertigten aus meiner Sicht keinen operativen Eingriff. Der Knorpel am Hüftkopf war noch nicht sehr angegriffen, maximal Stadium 2. Außerdem schien der Patient längst nicht mit allem behandelt worden zu sein, was konservativ möglich wäre. Im Gespräch verhärtete sich mein Verdacht, dass die starken Beschwerden vielleicht gar nicht von der Hüfte, sondern vom Rücken kamen: Der Patient klagte über Ruheschmerzen und erzählte, dass er beim Gehen weniger Probleme habe. Wir wissen aber, dass die Hüfte beim Sitzen oder Liegen nicht wehtut. Dafür kann man nicht sehr gut laufen. Die Bandscheibe hingegen mag keine Ruhe, sondern Bewegung. Ein Bild von der Wirbelsäule bestätigte, dass ein Bandscheibenvorfall die Ursache für die starken Schmerzen war, die bis in die Hüfte ausstrahlten. Mit einem gezielten Mix nun angezeigter Maßnahmen wurde der Patient innerhalb von wenigen Monaten beschwerdefrei. Eine Operation hätte ein relativ intaktes Hüftgelenk durch ein künstliches ersetzt und dabei doch an der Ursache der Beschwerden vorbeioperiert. Von den Risiken und Kosten eines solchen Eingriffs will ich dabei gar nicht sprechen.«
Dr. Martin Marianowicz
ALTERSSTANDARDISIERTE RATEN VON ERSTMALIGEN KNIEGELENKERSATZ-OPERATIONEN PRO 100 000 EINWOHNER NACH KREISEN.
DURCHSCHNITTSWERT DER JAHRE 2005 BIS 2011
Die Daten beziehen sich auf den Wohnortkreis der Patienten.
Quelle: Faktencheck Gesundheit 2013. Bertelsmann Stiftung
OP-Spitzenreiter Deutschland
Jährlich werden in Deutschland zwischen 350 000 und 400 000 Knie- und Hüftgelenke eingesetzt. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland ganz weit vorn im Operationsranking, so ein Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 2013: Beim künstlichen Gelenkersatz kommen auf 100 000 Einwohner 295 Operationen an der Hüfte und 213 am Knie, während der OECD-Länderdurchschnitt bei 154 Eingriffen an der Hüfte und 122 am Knie liegt. Nur die Schweiz (Hüfte) und Österreich (Knie) befinden sich weiter vorn.
Ob am Rücken oder an den Gelenken – Tatsache ist, dass in Deutschland zu schnell operiert wird. Das wiederum hat viele Ursachen. Die Bertelsmann-Stiftung hat zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie (DGOOC) in einem Faktencheck diesbezüglich eine beunruhigende Feststellung gemacht: Über Bayern, Hessen, Thüringen und Niedersachsen zieht sich eine Art Operationsgebiet, in dem dreimal so oft zum Messer gegriffen wird wie in anderen Regionen. Die Bandbreite reicht dabei von Arthroskopien über Gelenkprothesen bis zu Revisionsoperationen am künstlichen Ersatz.
Das gilt auch für Folgeeingriffe am operierten Knie, die in manchen Landkreisen fünfmal häufiger zu beobachten waren als anderswo. Dort, wo viele Arthroskopien vorgenommen werden, kommt es häufiger zum Gelenkersatz. Die Autoren der Bertelsmann-Studie folgern daraus, »dass auch sozioökonomische Faktoren Einfluss auf die Häufigkeit von Kniegelenksoperationen haben können«.
Ein hohes Versorgungsniveau, wie es in Deutschland herrscht, ist im Sinne des Heilungsgedankens grundsätzlich natürlich zu begrüßen. Hightech-Medizin oder regionale Finanzkraft rechtfertigen aber noch lange keine Übertherapierung auf Kosten der Betroffenen, die mit den möglichen postoperativen Folgen leben müssen.
Problem: Vergütungssystem
Ein Grund, warum Patienten oft zu schnell auf dem OP-Tisch landen, liegt an unserem Gesundheitssystem. Medizinische Leistungen werden den Krankenkassen nach dem sogenannten Fallpauschalensystem abgerechnet, bezahlt wird dabei nach Behandlungsfall und nicht nach Behandlungszeitraum oder Leistungsaufwand.
Eine solche Vergütungsform schafft finanzielle Anreize für Über- und Fehlversorgung, weil präventive und konservative Therapiemaßnahmen in der Regel wesentlich niedriger veranschlagt sind als ein operativer Eingriff.
Zum Vergleich: Eine Arthroskopie am Knie kostet etwa 3000 Euro, ein Gelenkersatz um die 12 000 Euro inklusive langwieriger Rehabilitationsmaßnahmen. Für die konservative Behandlung erhält ein Orthopäde hingegen durchschnittlich 30 Euro pro Quartal, und zwar unabhängig davon, wie viele Termine der Patient braucht. Selbst wenn ein Kassenarzt einzelne medizinische Maßnahmen extra berechnet, die aus dem Leistungsrahmen der gesetzlichen Krankenversicherer fallen, erklärt die gesetzliche Abrechnungspolitik, warum sich viele Ärzte wenig Zeit für eine ausführliche Beratung und Schulung ihrer Patienten nehmen und weshalb es passieren kann, dass Betroffene förmlich in eine Operation hineingeredet werden. Arztpraxen und Krankenhäuser sind medizinische Einrichtungen mit einem Heilungsauftrag, aber zugleich Wirtschaftsunternehmen, die sich rechnen müssen und einem hohen Wettbewerbsdruck unterliegen.
Ein Orthopäde, der nach konservativen Gesichtspunkten behandelt und sich mit Kollegen anderer Fachrichtungen über den Genesungsprozess seiner Patienten austauscht, verdient wesentlich weniger als ein Chirurg, weil eine Gelenkspiegelung oder gar der Gelenkersatz deutlich lukrativere Eingriffe...