Kunstwerk Leben
Ein kulturhistorischer Exkurs zum Verhältnis von Kunst und Medizin
Kunst und Medizin gehören zusammen. Zwischen beiden besteht ein ursächlicher Zusammenhang, viel mehr als die bloße Wahlverwandtschaft, an die man denken mag, weil viele Ärzte große Kunstliebhaber sind, selbst gern musizieren. Früher jedenfalls war das so, zuzeiten, als es noch ein ausgeprägtes Bewusstsein von der kulturtragenden Bedeutung des Berufes gab, die Medizin weniger naturwissenschaftlich dominiert wurde, als das heute der Fall ist. Gehörte doch auch einmal der Besuch geisteswissenschaftlicher, philosophischer und kulturhistorischer Vorlesungen zum Pflichtprogramm des Medizinstudiums. Dass das seit Jahrzehnten nicht mehr der Fall ist, muss als großer Verlust verbucht werden. Mit dieser »Rationalisierung« hat die Medizin im Rausch des technischen Fortschritts einen kulturhistorischen Dialog beendet, der ihre Geschichte von Anfang an prägte, mit dem sie überhaupt erst entstanden ist.
In Vergessenheit zu geraten droht die tragende Bedeutung des scheinbar Selbstverständlichen, die schlichte Tatsache, dass sich Künstler, vor allem bildende Künstler und Ärzte seit jeher mit demselben Gegenstand, nämlich dem Menschen, befassen. Die Ausbildung beginnt mit dem Studium der Anatomie. Daran hat sich über die Jahrtausende nichts geändert. Wenn es um die Wissenschaft von der Form und dem Bau des Körpers ging, haben Kunst und Medizin immer wieder von gegenseitiger Handreichung profitiert. In der Beschäftigung mit der menschlichen Gestalt, in ihrer forschenden »Zergliederung« trafen sich die Interessen von Anbeginn. Die Geschichte der anatomischen Illustration reicht, so viel wir unterdessen wissen, bis in die byzantinische, vermutlich sogar bis in die hellenistische und die römische Kunst zurück.
Große Bildhauer und geniale Maler waren immer auch scharfsichtige Anatomen; die Ärzte sind bei ihnen in die Lehre gegangen. Über viele Jahrhunderte waren es die Plastiken der Antike, die der griechischen zumal, an denen angehende Mediziner den Bau des Körpers studierten. Die Kunstwerke des klassischen Altertums zeigten ihn in idealer Abstraktion. Als die vermutlich älteste Beschreibung anatomischer Maßverhältnisse gilt der Kanon des griechischen Bildhauers Polyklet, der etwa von 450 bis 410 v.Chr. wirkte. Als dann Jahrtausende später, 1930 in Dresden, zum ersten Mal der »gläserne Mensch« als anatomisches Studienmodell vorgestellt wurde, hatte er gewiss nicht zufällig die Arme in der Haltung eines antiken Beters erhoben. Fast könnte man darin eine späte Hommage an die Kunst erkennen, auf die die Ärzte lange angewiesen waren.
Denn vergessen wir nicht, dass es nachher, im christlichen Abendland lange Zeit untersagt gewesen ist, den menschlichen Körper zu sezieren, Hand an die göttliche Schöpfung zu legen. Erst im 13. Jahrhundert hat Friedrich II., der den Wissenschaften zugetane Stauferkaiser, die Obduktion von Leichen zu Forschungszwecken wieder erlaubt, wenn auch nur vorübergehend und mit der Festlegung, dass allein hingerichtete Verbrecher dafür in Frage kommen sollten. Noch Leonardo da Vinci musste Ausgang des 15. Jahrhunderts seine anatomischen Untersuchungen bei Nacht und in versteckten Kellergewölben betreiben, an Leichen, die er sich heimlich auf dem Friedhof besorgte. Erst allmählich konnte die Renaissance dem Spuk ein Ende machen; im 16. und 17. Jahrhundert entstanden die berühmten »Anatomischen Theater«, Vorläufer der medizinischen Hörsäle, in Pavia, Padua, Basel, Paris oder Amsterdam. Einen Wendepunkte markierte schließlich das Wirken des deutsch-flämischen Arztes Andreas Vesal, der 1543 sein Buch »De humani corporis fabrica« (Über den Bau des menschlichen Körpers) herausbrachte, die erste wissenschaftlich fundierte Anatomie überhaupt, ein Werk, an dem sich fortan Künstler orientierten.
Durchgesetzt hatte sich die medizinische Erkenntnis, dass den Menschen – göttliche Schöpfung hin oder her – nur verstehen kann, wer auch seinen Körper kennt. Dass die Umkehrung ebenso gilt, dass die Reaktionen des Körpers nicht zu begreifen sind, wenn man die Seele außer Acht lässt, das wiederum haben die Künstler sehr viel eher und meist besser verstanden als die Ärzte. Was Sigmund Freud und andere Psychologen um 1900 in den Rang einer wissenschaftlich fundierten Erkenntnis erhoben, als sie das Krankheitsbild der Depression erforschten, hatte Albrecht Dürer bereits 1514 auf seinem Kupferstich »Melancholia« dargestellt: im Bild einer Frau, deren abwesender Blick die lähmende Schwermut eines bedrückten Gemüts, einer erschöpften Seele verrät. Und wie eine bildliche Vorwegnahme der Freudschen »Traumdeutung« muss uns im Nachhinein auch Goyas berühmter Zyklus »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer« anmuten.
Warum aber sind diese und andere, die Krankheits-Bilder der Künstler entstanden, die unzähligen Darstellungen des Leides und der Hoffnung, der körperlichen Schmerzen oder des Ausdrucks der Fassungslosigkeit im Gesicht des Patienten auf einer Operationsdarstellung des Malers Christian Schad? Wer dieser Frage nachgeht, muss weit, immer weiter zurückschauen, um am Ende auf den ursächlichen Zusammenhang von Kunst und Medizin zu stoßen. Wie durch die Freude, so wurden die Menschen seit jeher durch Schmerz und Krankheit zu künstlerischer Gestaltung veranlasst. Kunst sollte in der Not helfen, lange bevor man über das einschlägige medizinische Wissen verfügte. Aus der Beschäftigung mit Körper, Seele und Geist sind Sitten und Gebräuche entstanden, Kunst und Literatur erwachsen. Schon die frühesten kultischen Handlungen waren künstlerische Aktionen mit ästhetischen Gegenständen. Bis heute haben sich die Fetische bei den Naturvölkern, zum Beispiel in Afrika, erhalten. Um der Gesundheit willen wurden sie gestaltet; ihretwegen, um der Krankheit Herr zu werden, hat man Götter erschaffen, angerufen und zeremoniell beschworen. Die Wirkung war so nachhaltig, dass noch die Trivialliteratur und die Telenovelas unserer Tage mit Erfolg auf die »Halbgötter in Weiß«, auf Dr. Frank und Konsorten, setzen können. Auch schwören die Ärzte nach wie vor einen Hippokratischen Eid, der selbst mit der Beschwörung »aller Götter und Göttinnen« anhebt.
Wie die Kultur überhaupt, so ist die Medizin aus den kultischen Handlungen grauer Vorzeit entsprungen. In dem leider immer seltener gebrauchten Begriff der »Heilkunst«, der Ars medicinae, hat sich das eine mit dem anderen metaphorisch verbunden; in ihm finden wir die ganze Geschichte aufgehoben. Wer sie auch nur kursorisch verfolgt, wird schnell erkennen, dass die Medizin ein ursächlicher Bestandteil unserer, nein, jeder Kulturgeschichte ist. Etwas vereinfacht könnte man sagen: Aus medizinischer Notwendigkeit ist die Kultur ursprünglich entstanden. In dem Maße, in dem die Menschheit zum Bewusstsein ihrer selbst gelangte, wirkte die Medizin als Identität stiftender Kulturträger. Das heißt, in ihr offenbart sich auch die unterschiedliche kulturelle Prägung von Völkern und Ethnien. Sie ist, historisch verstanden, die Kultur der Behandlung von Körper, Seele und Geist – die praktizierte Philosophie des Lebens und des Todes, ein Weltverständnis, das zugleich und über jegliche Grenzen hinweg verbindend wirkt. Weil sie das existentielle Grundbedürfnis aller berührt, hat sich die Medizin längst auch als der Nukleus einer modernen Weltkultur erwiesen. Ungeachtet aller politischen und historischen Verwerfungen gibt es das kulturelle Phänomen einer Weltmedizin, auch wenn uns das erst langsam, viel zu langsam wieder bewusst werden mag.
Um diese Möglichkeiten zu nutzen und gewachsenes Wissen nicht länger brachliegen zu lassen oder gar zu verschütten, bedarf es aber nicht zuletzt einer historischen Selbstbesinnung, einer Erinnerung an besondere Verhältnisse, an die kausale Verknüpfung von Kunst und Medizin. Und dabei sind es nicht die Künstler, die ich hier im Verzug sehe, sondern die Ärzte. Sie müssen in den allermeisten Fällen erst wieder erkennen, dass es bei ihrer Arbeit um mehr als angewandte Naturwissenschaft geht. Natürlich soll damit keiner esoterischen Geringschätzung des medizinischen Fortschritts oder moderner High-Tech-Verfahren das Wort geredet werden. Mitnichten! Als praktizierender Radiologe weiß ich nur zu gut, was wir der technologischen Entwicklung zu verdanken haben, wie sie hilft, in einem Maße Leben zu retten, das noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar war.
Aber es gibt eben auch noch die andere Dimension, die einer gewachsenen Kultur der Heilkunst, auf die wir viel zu wenig zurückgreifen, obwohl wir es mit durchaus berechtigtem Stolz tun könnten. Wenn wir eine Krankheit so erfolgreich wie irgend möglich behandeln wollen, geht es eben nicht nur um das Beschreiben und präzise Analysieren messbarer Körperdaten, sondern auch um das Verstehen des Kranken und das Erfassen des Ausmaßes seines Leidens sowie um das Gewinnen von Vertrauen. Weiter gespannte Sinnzusammenhänge müssen in den Horizont des Arztes rücken. Wir befinden uns also auch in der Medizin immer auf einem Terrain, das eher den Geisteswissenschaften zugerechnet wird: auf dem Gebiet der Hermeneutik, der Deutung von Sinnzusammenhängen. Und dass wir da wiederum sehr viel von den uns ursächlich verbundenen Künstlern lernen können, heute wie damals, sollte außer Frage stehen. Aus der Erinnerung an das beschriebene Beziehungsgeflecht mit der Kunst könnte endlich der Entwurf einer ärztlichen Lebensphilosophie erwachsen, deren ganzheitlicher Ansatz Hoffnung macht, weil er sich wieder auf die Trias...