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E-Book

Die Kugel und das Opium

Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens

AutorLiao Yiwu
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl432 Seiten
ISBN9783104020198
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Liao Yiwu dokumentiert in diesem Buch die Geschichten von Opfern und Überlebenden des Tiananmen-Massakers am 4. Juni 1989. Über Jahre führte er heimlich im Untergrund Interviews, die er lange aufbewahrte, um sie jetzt, außerhalb Chinas zu veröffentlichen. Ding Zilin und Jiang Peikun, die die »Bewegung der Mütter von Tiananmen« gegründeten, haben für das Buch eine Liste der Opfer zusammengestellt. Ihre Namen dürfen in China nicht veröffentlicht werden. »Ein chinesischer Schriftsteller, der sprachmächtig und unerschrocken gegen die politische Unterdrückung aufbegehrt und den Entrechteten seines Landes eine weithin hörbare Stimme verleiht. Liao Yiwu setzt in seinen Büchern und Gedichten den Menschen am Rand der chinesischen Gesellschaft ein aufrüttelndes literarisches Denkmal. Der Autor, der am eigenen Leib erfahren hat, was Gefängnis, Folter und Repression bedeuten, legt als unbeirrbarer Chronist und Beobachter Zeugnis ab für die Verstoßenen des modernen China.« Aus der Begründung für den Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2012

Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind in großer Armut auf. 1989 verfasste er das Gedicht »Massaker«, wofür er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt wurde. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien sein Buch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser«. 2011, als »Für ein Lied und hundert Lieder« in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seit seiner Ausreise nach Deutschland erschienen die Titel »Die Kugel und das Opium« (2012), »Die Dongdong-Tänzerin und der Sichuan-Koch« (2013), »Gott ist rot« (2014), »Drei wertlose Vita und ein toter Reisepass« (2018), »Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand« (2019) sowie der Roman »Die Wiedergeburt der Ameisen« (2016). Zuletzt erschien 2022 sein Dokumentarroman »Wuhan«. Für sein Werk wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Liao Yiwu lebt in Berlin.

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Leseprobe

5


Über Jahre habe ich in aller Heimlichkeit im Untergrund zahllose Interviews geführt, doch noch mehr Interviews mit den haarsträubendsten Details habe ich, weil sich die Gesprächspartner zurückzogen oder ihre Zustimmung verweigerten, nicht in Buchform veröffentlichen können. Am 4. Juni waren die Sondereinsatzkommandos überall unterwegs, nicht wenige starben unter ihren Schlägen und Tritten.

Von der ersten Gruppe von acht »Rowdys«, die Autos angezündet hatten, wurden sieben im Schnellverfahren hingerichtet, das Urteil des achten, eines Umweltarbeiters namens Wang Lianxi, wurde wegen erwiesener »schwerer geistiger Zurückgebliebenheit« in der Revision in lebenslange Haft umgewandelt. Er hat 18 Jahre abgesessen, kurz nach seiner Entlassung kam er den Planungen für die Olympischen Spiele ins Gehege, sein Haus wurde zwangsgeräumt, und weil er nun kein Zuhause mehr hatte, wurde er von der örtlichen Verwaltung in eine Nervenheilanstalt gesteckt. Nach Augenzeugenberichten lebt Wang Lianxi jetzt auf der Straße und sucht im Abfall nach etwas Essbarem.

Und dann war da noch Lu Zhongshu, der wegen öffentlichen Anzündens von Autos und Empörung gegen Sondereinsatzkommandos beinahe totgeschlagen worden wäre.

Wu Wenjian erzählt, man habe ihn in einen Panzer gesteckt und direkt ins Untersuchungsgefängnis geschafft. Verwirrt wie er sei, wisse er nicht, ob sie ihm den Verstand herausgeprügelt haben oder ob er schon immer so war. Er war am ganzen Körper grün und blau, hatte keinen heilen Fleck mehr am Leib, verlor die Kontrolle über seine Körperfunktionen, zog die Hosen nicht herunter und ließ es einfach laufen. Er lief den ganzen Tag herum wie ein Schlafwandler, wenn man ihn ansprach, reagierte er nicht. Später »verliert« sich dann auf wundersame Weise »jede Spur« von ihm, man weiß so wenig über seinen Verbleib wie über den von Wang Weilin, den Helden, der sich den Panzern entgegengestellt hat.

Der Rest war belangloses Geplauder, Sex ist kein Thema für ein persönliches Interview. Eigentlich saßen wir uns als Hagestolze gegenüber, außerdem hatten wir alle gesessen, natürlich würden wir auch auf Frauen zu sprechen kommen. Und wenn wir genug darüber geredet hatten, fiel uns plötzlich ein, dass das Aufnahmegerät noch an war. Dann zogen die Gesprächspartner die Jacke zurecht, setzten sich aufrecht hin und warnten mich, »die Leichen, die sie im Keller hatten, nicht in der Öffentlichkeit breitzutreten«.

Chinaweit haben schätzungsweise mehrere zehntausend Widerständler vom 4. Juni gesessen, alleine im Distrikt Beijing waren es bereits mehrere tausend. Die meisten von ihnen waren Grünschnäbel, so wie Wu Wenjian auch, und nicht wenige gingen als Jungfrauen ins Gefängnis. Aufgrund der Jahre, bis zu zwei Jahrzehnte, in denen alles auf Eis lag, hatten alle nach ihrer Entlassung Probleme mit ihrem Unterleib.

Im Nu war ihre Jugend vorbei, zu der ejaculatio praecox kam Impotenz, bis die Natur sich erholt hatte, dauerte es unterschiedlich lange, ein halbes bis zwei, drei Jahre. Wu Wenjian, der nur eine relativ kurze Zeit gesessen hatte, war fast zwei Jahre impotent, bevor er sich halbwegs erholt hatte. Er sagt: Ich habe Kunst studiert, ich war noch nicht lange draußen, als ich bei einer Werbefirma angefangen habe. Für einen Rowdy ging es mir verhältnismäßig gut. Ich war ziemlich häufig auf Geschäftsreise, wohnte in Hotels, wo die schönen Frauen wie Wolken auftauchten und wieder verschwanden, doch in meinem Kopf waren es Orte, an denen man verfolgt und von der Polizei wegen Ehebruchs aufgegriffen wurde. Mein erster Kuss war ein Desaster, ich bin so gegen das Mädchen geknallt, dass ihre Lippe aufplatzte, außerdem bin ich schon bei der ersten Umarmung gekommen und hatte einen großen nassen Fleck auf der Hose. Ich hatte vielleicht eine Angst, und Gewissensbisse, und je größer die Angst wurde, umso schlimmer wurden die Gewissensbisse, und dann kam ich natürlich überhaupt nicht mehr in die Gänge und habe den ganzen Abend nur vor mich hin gestiert. Das Mädchen hatte viel Geduld mit mir und hat mich gestreichelt und getröstet, ich hätte fast geflennt, aber ich konnte mir ja auch schlecht selbst eine reinhauen. Nachher ist sie dann weg, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Du hast wahrscheinlich alles kaputtgedrückt, sagte ich.

Auf der Straße, wenn ich da nur ein Mädchen sah, das ein bisschen was Erotisches hatte, hatte ich jedes Mal den Impuls, sie anzusprechen, aber dann habe ich mich immer voller Selbstzweifel gefragt, was ich machen soll, wenn es nicht geht. In einer Bar in Chongqing habe ich eine Bedienung verführt, ach herrje, was für ein Busen! Wir waren kaum im Zimmer, da hingen wir schon aneinander, sie hüpfte und klammerte, beide Beine um meine Hüfte, ich konnte meine Erregung nicht kontrollieren, ein paar Sekunden war in meiner Hose die Hölle los, und vorbei war’s. Scheiße! Wenn sie richtig in Fahrt kamen, war bei mir alles vorbei! Diese Verachtung, dieses Zusammenbeißen der Zähne, das ist für einen Mann unerträglich. Doch was sollte ich machen, es war, als hätte ich meine Souveränität verloren, ich musste es noch eine Weile aushalten, dann schien es, als hätte ich wieder ein bisschen Gefühl, doch beim nächsten Versuch war es das Gleiche. Als es so weit war, zischte sie durch die Zähne: zwecklos!

Das war vermutlich schlimmer als die Angriffe der Kommunistischen Partei auf dich.

Waren wir denn für gar nichts gut? Aber die Bürokraten, die Pfeffersäcke, die Zyniker, die Deckhengste, die sind etwas wert? Wofür haben wir denn gesessen? Was habt ihr denn gemacht, als wir im Bau waren? Geld gescheffelt und zu den Nutten gerannt, oder? Und wenn ihr genug Geld hattet und genug gevögelt habt, erzählt ihr uns, wir wären nichts wert, oder?

Die Welt und die Menschen haben sich verändert.

Ich war das, ich war nicht mehr ganz normal. Ich kam mit mir selbst nicht zurecht, hatte Selbstmitleid und ließ meine Wut an irgendwelchen Mädels aus. Es ist noch gar nicht lange her, da war ich mit Kunzi, der gerade aus dem Knast gekommen war, am Qianmen bummeln, die Abendsonne war richtig schön, und was da so an uns vorbeilief, war auch nicht schlecht. Doch da ist vor uns ein Mädchen vorbeigewischt, mit langen, wehenden Haaren, die einen leichten Duftschleier nach sich zogen, und dann die beiden runden Hälften ihres Hinterteils. Mir machte das nichts weiter aus, seit ich draußen war, hatte ich gesehen, was ich hatte sehen müssen. Aber Kunzi war schon über vierzig, dieser mutige Kamerad, der am 4. Juni trotz des Kugelhagels auf ein Autodach geklettert war und eine Rede gehalten hatte, dem blieb in diesem Augenblick komplett die Spucke weg, ihm standen die Augen vor dem Kopf wie zwei unförmige Angelhaken, die er nur allzu gerne eingezogen hätte, und mit ihnen diese beiden Hinterbacken. Normale Menschen können das nicht nachfühlen, dieses schreckliche Gefühl des Verhungerns. Erst als das Mädel weg war, kam der Kamerad wieder zu sich, und er flüsterte mir mit trauriger Stimme ins Ohr: Ach, alter Wu, ich bin impotent.

 

Ich habe diesen Kameraden kennengelernt, Wu Wenjian hat ihn immer wieder bequatscht, der Kamerad hat immer wieder gezögert, aber letzten Endes hat er meinem Ansinnen nicht entsprochen. Kunzi war ein ehemaliger Soldat, die Brust voller patriotischer Begeisterung. Vor der Nacht auf den 4. Juni war er pünktlich an dem von dem vagabundierenden Schriftsteller Zheng Yi in seinen Erinnerungen beschriebenen Ort – an der Kreuzung der Hochstraße bei Muxidi mit der Chang’an –, wo er von erhobener Position aus die Konfrontation von Panzer und Menge dirigierte. Später dann ist er verraten und von den Sondereinsatzkommandos der Truppen im Ausnahmezustand gefasst und wegen »Putschversuchs« zum Tod auf Bewährung verurteilt worden. Er war noch nicht lange im Knast, als sich seine Frau und seine Kinder von ihm abwandten, und als er Jahre später entlassen wurde, stand er alleine da, ein Hagestolz, mit seinen 80 Jahre alten Eltern in eine Wohnung gepfercht. Arbeit ist so schwer zu finden, sagte er. Wenn ich mich von dir interviewen lasse und der Chef davon Wind kriegt, dann wirft er mich auf der Stelle raus.

Was arbeitest du denn?

Erst auf der Straße, vor einem von den großen Kaufhäusern, da habe ich für die Kunden auf die Fahrräder aufgepasst. Es war lausig wenig Geld, im Winter, wenn es schneit, muss man ständig auf den Hacken sitzen, wenn man nicht zu einem Eiszapfen gefrieren will. Dann bin ich über Beziehungen, meine Brüder, weißt du, in ein Schwimmbad gekommen, dort habe ich saubergemacht, die Klos, Tag und Nacht, jedenfalls war das Einkommen etwas sicherer. In den achtziger Jahren gab es kaum noch Nachtclubs, in den Filmen damals sind nur schlechte Menschen in solche Clubs gegangen, oder doch wenigstens zweite Wahl, die keiner geregelten Arbeit nachgingen. In den 90ern gab es nicht nur eine Öffnung der Wirtschaft, sondern auch der Hosenläden; dass man in den Clubs Frauen finden konnte, die sich einem für Geld anboten, war nichts Besonderes mehr. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ging das mit den Nachtclubs zurück, dafür hatten die Badeanstalten Hochkonjunktur. Da wurde gesoffen, gesungen, Mahjongg gespielt, gewhirlpoolt, Rücken gerieben, Füße geknetet, massiert, herumgehurt – ein Rundumservice: was den Kunden guttat, wurde geboten. Am Anfang hast du vielleicht noch keine Gefühle gehabt, aber dann kam so ein Mädchen, hat dich halb ausgezogen und erst einmal seriös massiert und anschließend dann weniger seriös, so in der Leistengegend, am Unterleib, und dich endlos gereizt. Wie sollte sich da nichts regen? Das war eine Absteige,...

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