1.
Über Partikularität und Universalität von Werten
Religiöse Pluralität: Vielfalt braucht Dialog
Yasemin El-Menouar
1. Einleitung
Der Islam gehört zu Deutschland. Das ist keine Frage, sondern eine Tatsache. Weltreligionen haben ihren Platz in der modernen Gesellschaft. Aufgeklärt und beim Glauben tolerant zu sein, das ist kein Widerspruch, sondern geht zusammen. Zumal das Grundgesetz die Religionsfreiheit und die religiöse Neutralität des Staats garantiert. Allerdings zeigen die Forschungsergebnisse des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung, dass zwischen der Wahrnehmung des Islams in der Mehrheitsgesellschaft und der von den Muslimen in Deutschland tatsächlich gelebten Religion eine große Lücke klafft (Kapitel 2 und 3). Die Folgen dieser Wahrnehmungsverzerrung äußern sich in zahlreichen Islamdebatten, die um eine »Integrationskrise« kreisen, die sich in weiten Teilen nicht aus empirischen Daten erhärten lässt. Dazu zählt beispielsweise der Streit um Kopftuch, Burka und Burkini (Kapitel 4).
Von diesen Befunden ausgehend wird in diesem Beitrag argumentiert, dass die auf der religiös-politischen Ebene angesiedelten Debatten, die von der eher archaischen Denkfigur vom Wir und die Anderen beherrscht werden, den Umgang mit der kulturell und religiös-pluralistischen Wirklichkeit moderner Demokratien mehr behindern als fördern (Kapitel 5).
Deshalb wird in diesem Beitrag dafür plädiert, dem partikulären Wir, das einer Sprache und dem Denken der Homogenität verhaftet ist, ein allgemeineres, dynamisches Wir entgegenzustellen, das kulturelle, religiöse und soziale Unterschiede anerkennt. Eine solche dynamische Anerkennungskultur braucht den Austausch und die Auseinandersetzung, aus denen heraus das Miteinander gestaltet wird. Längst gehört der Islam zur europäischen Vielfalt; nun geht es darum, Muslimen auch entsprechendes Gehör im laufenden Prozess des Aushandelns von Gemeinsamkeiten zu verschaffen. So entstehen neue »große Erzählungen«, die in der Lage sind, einen neuen Gemeinsinn zu begründen, der den unterschiedlich kleinen und großen Zugehörigkeiten eine Basis für das Zusammenleben bietet (Kapitel 6).
Voraussetzung dafür ist, dass an die Stelle des aufgeregten Nebeneinanders der Monologe in den Islamdebatten ein kontinuierlicher Dialog tritt – und zwar auf innerreligiöser, interreligiöser und gesamtgesellschaftlicher Ebene (Kapitel 7). In diesem Zusammenhang werden abschließend die Vorschläge der Bouchard-Taylor-Kommission daraufhin befragt, welche Impulse sie für das Miteinander in einer zunehmend pluralisierten Gesellschaft liefern (Kapitel 8).
2. Verzerrte Islamwahrnehmung
Eine Mehrzahl der nichtmuslimischen Deutschen sieht den Islam heute als Gefahr. Mehr als jeder Zweite stuft die Religion als Bedrohung ein. In Deutschland war die Ablehnung des Islams schon 2012 größer als etwa in Großbritannien oder Frankreich. 53 Prozent der nichtmuslimischen Befragten im Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung hielten damals den Islam für »sehr bedrohlich« oder »bedrohlich«. Zwei Jahre später waren es bereits 57 Prozent. Die Ablehnung des Islams nimmt in Deutschland also zu.1
Noch deutlicher ist der islamskeptische Trend bei der Frage spürbar, ob der Islam in die westliche Welt passe. 61 Prozent der 2014 befragten nichtmuslimischen Deutschen meinten »eher nicht« oder »gar nicht« – eine Steigerung von neun Prozentpunkten im Vergleich zur Befragung für den Religionsmonitor 2012. Lediglich ein Viertel der deutschen Bevölkerung nahm den Islam 2014 noch als Bereicherung wahr.
Laut den Ergebnissen einer aktuellen Umfrage, die das Monatsmagazin Cicero im Juni 2017 in Auftrag gegeben hatte, nimmt die Islamskepsis immer noch weiter zu. Nicht einmal jeder sechste Deutsche (17,9 Prozent) ist demnach derzeit der Meinung, dass der Islam zu Deutschland gehört. Zwei Drittel der Befragten (64,2 Prozent) lehnen diese Aussage des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff und der Bundeskanzlerin Angela Merkel mittlerweile ab.2
Dabei meinten 85 Prozent der Anders- und Nichtgläubigen im Religionsmonitor, sie stünden anderen Religionen sehr tolerant gegenüber. Das scheint aber nicht für den Islam zu gelten. Die Islamwahrnehmung läuft der behaupteten eigenen Akzeptanzfähigkeit zumindest diametral zuwider. Davon zeugt nicht zuletzt das regelmäßige Wiederaufflammen einer inzwischen längst religiös akzentuierten Leitkulturdebatte. Zuletzt ist es der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière gewesen, der Ende April 2017 »Zehn Thesen« präsentierte, auf die sich angeblich alle in Deutschland einigen können.3 Tatsächlich definiert der Begriff der Leitkultur jedoch eher, wer dazu gehört und wer nicht. Zwischen aufgeklärter Gesellschaft und Islam wird so eine symbolische Grenze gezogen. Muslimische Religiosität findet sich heute im Fokus verschiedener Diskurse wieder, die den Islam problematisieren. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft nimmt den Islam in erster Linie nicht als Religion wahr, sondern vor allem als eine demokratiefeindliche und extremistische Ideologie.4 Durch essenzialistische Argumentationen und kulturalistische Fehlschlüsse ist das vielschichtige Spektrum muslimischer Strömungen und Lebenswelten schon lange aus dem Blickfeld geraten. Dadurch ist es kaum mehr möglich, zwischen Islam und Extremismus, zwischen gut integrierten, frommen Muslimen und Fanatikern zu unterscheiden. Stattdessen wird ein homogener, unveränderlicher Islam imaginiert, der in dieser reduzierten Form zur Projektionsfläche für Ängste und letztlich zum Feindbild taugt. 3. Die Realität muslimischer Lebenswelten
Misst man die Wahrnehmung muslimischer Religiosität, wie von Anders- und Nichtreligiösen angenommen, an der selbst ausgesagten religiösen Lebenspraxis von Muslimen, entpuppt sich eine solche Fremdwahrnehmung des Islams allerdings schnell als Trugbild. Denn tatsächlich steht die Mehrheit der etwa 4,5 Millionen Muslime dem Land und seiner nichtmuslimischen Bevölkerung offen gegenüber.5 Für sie ist Deutschland längst Heimat. Und ihre Religion ist ihnen vor allem eins: eine wichtige Ressource, aus der sie die Kraft für ihren Alltag schöpfen. Umgekehrt bereichern Muslime mit ihrer gelebten Religiosität die Diversität in Deutschland. So ist etwa das Fastenbrechen während des Ramadans mittlerweile ein Teil der deutschen Alltagswirklichkeit. Forschungsergebnisse aus dem Religionsmonitor belegen das eindrucksvoll.6 So halten 80 Prozent der muslimischen Befragten die Demokratie für eine gute Regierungsform. Unter den hochreligiösen Muslimen sagen das sogar 90 Prozent. Neun von zehn Befragten haben in ihrer Freizeit Kontakt zu Nichtmuslimen. Jeder Zweite hat sogar mindestens genauso viele Kontakte mit Nichtmuslimen wie mit Muslimen. Offenkundig haben sich Muslime an den Mainstream in Deutschland mehr angenähert, als es die Leitkulturdebatten vermuten lassen. Die Geschlechterrollenstudie im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge von 20137 hat zudem gezeigt, dass sich muslimisch fromm und politisch liberal keineswegs ausschließen müssen. 83 Prozent der befragten Muslime sehen in der Gleichberechtigung der Geschlechter einen fest verankerten Wert. 44 Prozent der muslimischen Frauen wünschen sich eine Erwerbstätigkeit in Vollzeit. Und 60 Prozent der Muslime befürworten die gleichgeschlechtliche Ehe. Von den hochreligiösen Befragten mit eher festen Glaubensgrundsätzen sind es immerhin noch 40 Prozent. Diese Zahlen belegen, dass Religion und Religiosität nicht liberalitätshemmend interpretiert werden können. Die Kluft zwischen der eigenen Alltagsrealität und dem verzerrten Stimmungsbild in der Öffentlichkeit erfahren viele Muslime in Deutschland als Ausgrenzung. Sie leiden unter dem negativen Image ihrer Religion, das von Themen wie Terror, Kriminalität, Frauenfeindlichkeit, Demokratiedistanz und Parallelgesellschaften geprägt wird. Die große Binnenvielfalt des muslimischen Lebens, die bisherigen Integrationsleistungen und die zivilgesellschaftlichen Beiträge werden hingegen kaum zur Kenntnis genommen. Statt den muslimischen Beitrag zur Diversität in Deutschland anzuerkennen, wird ein kultureller Anpassungsdruck auf Muslime erzeugt. Solche Forderungen und Überforderungen hemmen aber den Austausch und die Auseinandersetzung, die für eine pluralistische Gesellschaft lebenswichtig sind. ...