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E-Book

Aufgehobene Erschöpfung

Der Komponist Mauricio Kagel

VerlagSchott Music
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl214 Seiten
ISBN9783795786489
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Der Band versammelt die Beiträge des Symposiums zu Mauricio Kagel (1931-2008) im Rahmen von «Auftakt 2008» der Alten Oper Frankfurt/Main. Ursprünglich war die Teilnahme Kagels am Symposium geplant. Doch zwei Tage davor starb der Komponist am 18. September 2008. «Dass Mauricio Kagel mit seiner multiästhetischen Begabung, seinen Eskapismen, Grenzüberschreitungen und Tabubrüchen zu den künstlerischen Jahrhundertgestalten rechnet, dürfte nicht zu bestreiten sein», schreibt Hans-Klaus Jungheinrich im Vorwort. Die Beiträge des Bandes bieten einen breitgefächerten Blick auf Kagels Schaffen.

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Leseprobe

Woher – wohin?

Mauricio Kagel zwischen «Palimpsestos» in Buenos Aires und «Anagrama» in Köln (1950-1957)

Jürg Stenzl

1

Am 30. September 1957 kam der 26-jährige Mauricio Kagel mit seiner Ehefrau, der Bildhauerin Ursula Burghardt, mit einem einjährigen DAAD-Stipendium aus Buenos Aires nach Deutschland. – Ein einfacher, unproblematischer Satz in jeder Biografie des Komponisten. Doch dieser Satz verbirgt ein ganzes Bündel nicht gestellter Fragen: Wie war die argentinische Welt, wie die Metropole Buenos Aires beschaffen, in der Kagel aufgewachsen ist? Dass ihr nach Europa ausgerichtetes kulturelles Leben während und nach dem Weltkrieg ungemein reich war, ist bekannt und lässt sich beispielsweise in den Erinnerungen Unbedingt Musik (Frankfurt am Main 2005) des um vier Jahre älteren Michael Gielen nachlesen. Schier unübersehbar ist die Fülle der avantgardistischen kulturellen und künstlerischen Zeitschriften und Manifeste, die seit den Zwanzigerjahren in Lateinamerika, und ganz besonders in Buenos Aires veröffentlicht wurden. Doch für die neue Musik aus Lateinamerika im 20. Jahrhundert (und auch zuvor) interessiert sich in Europa – aber auch in den USA – kaum jemand …

Der siebenjährige Mauricio, in einer gut situierten jüdischen Familie multikultureller Herkunft aufgewachsen, erhielt Klavierunterricht beim namhaften Pianisten Vicente Scaramuzza (1885-1968), dem späteren Lehrer von Martha Argerich und Bruno Leonardo Gelber; zudem studierte er Cello, Klarinette und Gesang und war bereits als 18-jähriger Interpret und Mitorganisator des «Agrupación Nueva Musica». Dessen Leiter war der avantgardistische Komponist Juan Carlos Paz (1901-72), auch er ein Lehrer von Kagel. Paz hatte seit 1934 autodidaktisch seine die Tonalität gerade nicht ausschließende Reihentechnik, unabhängig von Schönberg und seinem Schülerkreis, entwickelt.1 Michael Gielen war der Pianist dieses Ensembles; der Webern-Schüler und Dirigent Teodoro (Theodor) Fuchs sowie der in Wien ausgebildete Musikforscher und Theorielehrer Erwin Leuchter, der in Wien Arbeiter-Sinfoniekonzerte geleitete hatte und seit 1936 in Buenos Aires lebte, unterrichtete sowohl Gielen wie Kagel.2

Neben der musikalischen Ausbildung beschäftigte sich der frühreife Jüngling intensiv mit Literatur und – besonders nachhaltig – mit dem Film. Er begann an der Universität geisteswissenschaftliche Studien mit den Schwerpunkten Literatur und Philosophie; Persönlichkeiten wie Jorge Luis Borges und Witold Gombrowicz wurden – und blieben – für ihn bedeutungsvoll. 1954 schrieb er die Musik zum Film Muertes de Buenos Aires von Alejandro Sanderman, der auf Gedichten von Borges beruhte und der staatlichen Zensur zum Opfer fiel.3 Bereits 1950 war der 19-jährige Kagel Mitbegründer der «Cinemateca Argentina» und von 1952-56 auch als Filmkritiker tätig.

Max Nyffeler hat im Jahre 2000 im Hinblick auf die Verleihung des Siemens-Preises mit Mauricio Kagel ein langes Interview geführt und ihm direkt die Frage gestellt, wie er nach Deutschland gekommen sei und ob es sich im September 1957 um einen kulturellen Bruch oder eher um «eine Neubegegnung mit Dingen, die Sie eigentlich schon aus Argentinien kannten», gehandelt habe.4 Kagels Antwort: «In Buenos Aires habe ich 19535 Pierre Boulez kennen gelernt, der dort zweimal [1953 und 1954] mit der Theater-Companie von Jean-Louis Barrault auf Tournee war. Er insistierte: ‹Sie müssen weg: nach Europa.› Ich bewarb mich um ein Stipendium nach Frankreich, das ich aber nicht erhielt. Dafür bekam ich eines vom Deutschen Akademischen Austauschdienst [DAAD]. Boulez erzählte mir vom Studio für elektronische Musik des WDR. So kam ich nach Köln. Natürlich war mir vieles bekannt, anderes nicht. In Argentinien blieb meine Neugierde selten unbefriedigt. Kurios: Dort wurde ich als Europäer und hier als Südamerikaner betrachtet.»

Kagel wurde Student der Kommunikationswissenschaft an der Bonner Universität und arbeitete im elektronischen Studio des WDR. Doch – und das ist eine weitere jener Fragen aus dem eingangs erwähnten Fragenbündel – er und seine Frau blieben in Westdeutschland, Köln wurde zu ihrem festen Wohnsitz, 1980 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft. Ist es denn «einfach selbstverständlich», dass er nicht nach Argentinien zurückgekehrt ist, und wieso ist er in Deutschland, in einer zerstörten Stadt geblieben, in der der Schutt beiseite geräumt war, gleichwohl an fast jeder Straßenkreuzung Ruinen wie archaische Fratzen zu sehen waren? In einer Stadt, in der Karlheinz Stockhausen die Gruppen für drei Orchester abgeschlossen und 1957 seinen bahnbrechenden Aufsatz «… wie die Zeit vergeht …» geschrieben und im dritten Band der Schriftenreihe die reihe veröffentlicht hatte.

Köln 1957: In der Kölner Stadtchronik prangt für das Jahr 1957 als herausragendes Ereignis die «im Rheinpark üppig und farbenfroh, durch Brunnen mit hochschießenden Fontänen und mit Flamingos bevölkerten Wasserbecken gestaltete» BUGA, die Bundesgartenschau. «Sie stand noch im Zeichen des Wiederaufbaus und der Beseitigung von Kriegsschäden», liest man dort. – Mit der Parole «Sicherheit – Keine Experimente!» errang Konrad Adenauers CDU 1957 «den größten Triumph in der Geschichte der Union», die CDU/CSU erhielt mit 50,2 Prozent der abgegebenen Stimmen fast 55 Prozent der Mandate im Bundestag. «ERHARD hält, was er verspricht: Wohlstand für alle durch die SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT», stand auf dem Plakat des Vereins «Die Waage» für diese Bundestagswahl.

Dagegen Buenos Aires, «damals» – so Kagel zu Nyffeler – «die größte jüdische Gemeinde neben New York. Die geistige Atmosphäre dort in den vierziger, fünfziger Jahren war unbeschreiblich dicht, genau so komplex wie widersprüchlich – eine wirklich großartige, kulturell überschäumende Stadt.»6

Der in Köln wohnhafte Schriftsteller Heinrich Böll hatte 1957 sein Irisches Tagebuch veröffentlicht, Zeugnis einer Flucht, das nicht von der irischen Geschichte handelte, sondern eine «Böll’sche Utopie, die […] Wirklichkeit war» (Alfred Andersch) beschrieb. Marcel Reich-Ranicki bezeichnete dieses Tagebuch eine «unmittelbare Kritik der einheimischen Verhältnisse: Irland wird immer wieder als Gegensatz zur Bundesrepublik betrachtet.»7

Der kompetente und genaue Autor der jüngsten Darstellung von Kagels Musik, Björn Heile, zeichnet Köln in den späten Fünfzigerjahren als «arguably the capital of new music with the electronic studio of the WDR at its centre». Niemand bezweifelt die zentrale Rolle des deutschen Rundfunks für die Entwicklung der zeitgenössischen Musik dieser Jahre. (Der WDR war erst seit 1956, durch Trennung des NMDR in NDR und WDR, unabhängig geworden.) Doch Björn Heile meint nicht nur den WDR, sondern die ganze Stadt: «The city had probably one of the highest numbers of international renowed composers per head of population in history: Karlheinz Stockhausen, György Ligeti, Gottfried Michael Koenig, Franco Evangelisti, Cornelius Cardew, Bernd Aloys Zimmermann and Nam June Paik lived there at least for a time during the 1950s, and many more passed through the city on a regular basis.»8 Diese Aufzählung ist gewiss eindrucksvoll (selbst wenn diese Komponisten erst begannen, «internationally renowed» zu werden), aber reicht sie als Antwort auf unsere Frage nach den Gründen für Kagels Verbleiben in Deutschland? Zu selbstverständlich wird die «andere Seite», wird Lateinamerika, die Metropole Buenos Aires ausgeblendet, Kagel zudem als «at the margin» der dominierenden Tendenzen, als «some kind of internal dissident» des «serialist dogma» bezeichnet. (Auch das zeigte sich erst nach der Uraufführung von Anagrama, vor allem aber in den frühen 1960er Jahren nach dem ersten «theatralischen» Werk wie Sur scène von 1959/60.)

Mauricio Kagel hat im Gespräch mit Max Nyffeler eine eigene – allerdings sehr generelle – Antwort gegeben: «Eigentlich fühle ich mich überall etwas fremd – nicht grundsätzlich, aber genug, um von ‹latenter Befremdung› zu sprechen. Und das schafft eine wohltuende Distanz zu vielem. Ich bin in Buenos Aires geboren, aber es hätte ebenso Chicago, Shanghai oder Milano sein können. Emigranten reisen oft nicht dorthin, wo sie wollen, sondern wo sie ein Visum bekommen. […] Ich bin gebürtiger Argentiner, aber beileibe kein typischer Bürger des Landes. Oder vielleicht doch? Einer jener Millionen Nord- und Südamerikaner, die aus europäischen Einwanderer-Familien stammen. Aber die Identifikation der Emigranten und ihrer Nachkommen mit der neuen Heimat...

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