THEMA
Aller Anfang ist schwer, erst recht das Ende
Die Geschichte der Kunst ist auch die der großen Torsi: Der Fragment-Virus schleicht sich ins Werk ein
Gerhard R. Koch
Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß, Und daß du nie beginnst, das ist dein Los.
Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe.
Goethes Gedicht aus dem West-östlichen Divan ist auch ein Hymnus auf das endlos in sich verschlungene Arabesken-Wesen islamischer Kunst. Den Dresdner »Pegida«-Schreihälsen dürfte dies schwerlich bekannt sein, wollen sie doch ein ›Abendland‹ verteidigen, von dem sie keinerlei Ahnung haben. Goethes Verse liefen allerdings noch auf etwas anderes hinaus: auf einen grundlegenden Zweifel am linear-teleologischen Verlauf jeglicher Art, an der Vorstellung, dass alles (s)einen Anfang habe, und von diesem bis zum Schluß fortschreite, ja sich zu diesem hin steigere. Denn was man gemeinhin Abendland nennt, basiert auf der jüdisch-christlichen Idee von Schöpfung, Sündenfall, geschichtlichem Prozess – bis hin zum Erscheinen des Messias, dem Jüngstem Tag, der Erlösung, dem wiedergewonnenem Paradies: Alles wird gut, möglicherweise. Oder auch gerade nicht.
Analog verweisen die gängigen Vorstellungen von Kunst, zumindest in eurozentrischem Sinn, auf Schöpfung en miniature: auf das Werk. Ebendieses wird, ob als Text, Theater, Musik oder Film, als Verlaufs-Form nach dem obligaten Schrift-Modell gedacht, die im »Westen« von links nach rechts führt. Dieser Blickrichtung folgen auch Aufzüge, Paraden, Totentänze und noch die Bildfolgen Achim Freyers oder Robert Wilsons. Der Weg führt von A bis Z, zum Ziel: finis coronat opus. Die »Final«-Symphonie geleitet per aspera ad astra. Und selbst in der Malerei spricht man von »écriture«. Das vollkommen gelungene Werk ist demnach nicht nur Artefakt, sondern Abbild eines sinnvollen Weltganzen. Aber wenn Adorno Hegel vom Kopf auf die Füße stellte (»Das Ganze ist das Unwahre«), dann war dies nicht nur Ideologiekritik am Heile-Welt-Getue, sondern auch Einspruch wider den allzu obligaten Kult ums ›Meisterwerk‹, Zweifel am beschworenen Schein des »Wahren, Schönen, Guten«. Solches Misstrauen gegenüber dem integral autonomen ästhetischen Produkt findet sich schon in der frühen Romantik (F. Schlegel, Novalis): das Fragment als auch utopisches Wundmal misslingender Totalität. Ebendiese fußte nicht zuletzt auf der Dur-Moll-Tonalität, die die europäische Kunstmusik vom frühen siebzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert bestimmte – einschließlich der Regel, dass selbst ein mehrsätziges Werk in der exponierten Grundtonart schließen solle. Noch in nicht wenigen großen Opern folgt darin das Finale der Ouvertüre. Erst der Symphoniker Mahler widersetzt sich diesem Schema. Aber schon Schubert, Chopin und Brahms haben mit Moll-Schlüssen für Dur-Stücke der Regel opponiert. Gleichwohl gab es eine Grundformel klassischer Harmonik: den Nukleus der Kadenz, der noch in der gigantischsten Ausformung Modell eines zielstrebigen Verlaufs ist. Die musikästhetischen Irritationen seit dem 19. Jahrhundert haben mit der nachlassenden Kraft dieser Norm zu tun: Das gelingende Ganze ist nicht mehr selbstverständlich, das Fragmentarische greift um sich.
Goethe, West-östlicher Divan, Erstausgabe, Titelblatt und Frontispiz mit dem arabischen Schriftzug: »Der östliche Divan des westlichen Verfassers«. Bilder: wikimedia.org/H.-P. Haack.
Nicht in wenigen Fällen ist das »Unvollendete« der Werke keineswegs dem Tod des Verfassers geschuldet, sondern subjektive Sperre und generelle Situation greifen ineinander. So oder so ist das Abbrechen nicht zufällig, mag man über die Gründe noch so sehr spekulieren können. Natürlich konnte Mozart Fugen komponieren. Dass es trotzdem diverse Fragmente gibt, lässt darauf schließen, dass er sie als Beweis-Vehikel in Angriff nahm, dann die Lust am Archaischen verlor. Sogar im Fall des Torsos der c-Moll-Messe, immerhin acht Jahre vor seinem Tod entstanden, lässt sich zumindest mutmaßen, dass die geringe Aussicht auf eine Wiener Aufführung und sein größeres Interesse an neuartigen Opern, Klavierkonzerten, Symphonien und Kammermusik-Kombinationen ihn davon abhielten, sich der starren Form der lateinischen Liturgie, einschließlich des »gelahrten Styls«, weiter zu widmen. Man sollte jedenfalls das Abbrechen nicht mythologisieren: Ein »Spätwerk« jedenfalls war die Messe nicht. Nicht Mozart, die Gattung war erschöpft.
Auch Schuberts »unvollendete« Werke (das Oratorium Lazarus, die h-Moll-Symphonie, der c-Moll-Quartett-Satz, eine C-Dur-Klaviersonate) stammen nicht aus den letzten Lebensjahren, ganz zu schweigen von den frühen Sonaten-Fragmenten. Die Abbrüche lassen sich vielmehr als Krise diagnostizieren: Den eigenen Ansatz authentisch fortzuführen, sah er sich außerstande – und der Konvention wollte er nicht folgen. Da ist auch Alfred Brendel zu widersprechen, der einmal meinte: Die frühe fis-Moll-Sonate (1817) sei noch zu ungestaltet, verglichen mit den späteren. Man kann es nämlich genau umgekehrt sehen: Im Kopfsatz hat er sogar radikaler als später primär auf Klang und Bewegung gesetzt. Die »reifen« Werke sind bei aller Expansivität bündiger in der Anlage.
Das Fragmentarische greift um sich: Auguste Rodin, La pensée, um 1895. Bild: wikimedia.org
Nun wäre es sicher übertrieben, entdeckte man im neunzehnten Jahrhundert in erster Linie Symptome des Scheiterns großer Entwürfe. Gleichwohl: Lieto fine, Apotheose und Verklärung sind problematisch geworden, die Schlüsse heikel. Der Höhenflug ist dem Abgrund gewichen, selbst wenn er bei Schumann noch als seliges Versinken erscheint: Die Frühlingsnacht schwingt sich gerade nicht in jauchzende Höhe. Und wenn Alban Berg seine Sonate op. 1 in eine Reminiszenz an den vorletzten Davidsbündler-Tanz münden lässt, hat dies eher lugubren Charakter (ist wohl also ein Verweis auf Tristesse). Vollends gibt es zwei Extremfälle des Umschlags von Gloriole in Depression: Der Kopfsatz von Bruckners Achter wie Liszts h-Moll-Sonate führen in der Erstfassung in die pompöse Aufwallung, in der zweiten ins karge Stocken. Aller Triumphalismus ist dahin. Und sosehr Wagner über Aureolen gebot, so evident ist der Widerspruch zur Gier nach dem Apokalypse-Ende – ob bei Holländer, Tristan, Wotan oder Amfortas. Demgegenüber klingt Erdas »Alles was ist, endet« geradezu tröstlich.
Beunruhigender als die realen Torsi sind fast die latenten Ratlosigkeiten, wie sinnvoll zu schließen sei. Ausgerechnet der Triumphator Liszt verunsichert immer wieder mit oft erheblich divergierenden ossia-Varianten, als wisse er nicht, wie er die finalen Weichenstellungen zu bewerkstelligen habe. Nicht zufällig gibt es gerade bei seinen Liedern sehr unterschiedliche Versionen, die zu interpretatorisch heiklen Entscheidungen nötigen. Vollends vor Rätsel stellen einige späte Klavierstücke (Bagatelle ohne Tonart, Sospiri, Nuages gris, Unstern, Schlaflos, Frage und Antwort), die entweder einfach »aufhören«, einstimmig versickern oder auf verminderten Septakkorden, wenn nicht Dissonanzen quasi steckenbleiben oder in der Luft verharren: Der Fragment-Charakter ist schon integriert.
Nun gibt es nicht zufällig »bürgerliche« Künstler, bei denen sich keine Fragmente finden: Brahms, Strauss, Strawinsky, Thomas Mann tendierten offenkundig weder zur Bohème noch zum utopischen Surplus, haben dementsprechend ihr Lebenswerk, gewiss imponierend, als abgeschlossenes hinterlassen. Ihre Anfechtungen, Zweifel, Depressionen konnten sie zumindest verbergen. Dagegen Mussorgski: Bei keiner seiner Opern kann man sich auf eine eindeutig »authentische« Fassung verlassen. Und die unaufgelösten, »unerlösten« Enden seiner Ohne-Sonne-Lieder bleiben verstörend offen. Während in der deutschen Musikauffassung der Glaube ans »integrale« Werk im Sinne einer geschlossenen Tradition vorherrscht, die in die historische Tiefe, bis zu Urvater Bach, vertikal gestaffelt ist, spielen Folklore, Volksmusik, Exotismus, Jazz, außereuropäische Kulturen da kaum eine Rolle. Im Gegensatz zur slawischen, französischen, erst recht amerikanischen Musik. Allerdings hat das Fragmentarische noch eine andere Seite: Zum Abbrechen gehört gleichermaßen das Nicht-Aufhören-Können im Doppel-Sinn von Nietzsches »Denn alle Lust will Ewigkeit« wie »Ewige Wiederkehr des Gleichen«: die Unersättlichkeit des Eros oder die Dauer-Qual des Sisyphus.
Bei keiner seiner Opern kann man sich auf eine »authentische« Fassung verlassen: Modest Mussorgski (1870). Bild: wikimedia.org
Zielen, zumal deutsche, »Final«-Symphonie und Oper teleologisch auf den alles entscheidenden Höhepunkt (mag er auch bei Bruckners Neunter, Mahlers Zehnter, Schönbergs Moses und Aron und Jakobsleiter – übrigens auch keine »letzten« Werke –, Bergs Lulu unerreicht geblieben sein), so gibt es Gegen-Musiken, in die kategorial andere Einflüsse eindringen, in denen Unaufhörliches und Verschwindendes ineinander umschlagen – so wie das Perpetuum mobile zur Statik tendiert. Der Grundzug vieler ethnischer Musiktraditionen heißt Heterophonie: Permanent wird Gleiches wiederholt. Und wo es kaum Entwicklung gibt, bleibt der Schluss offen. Ein erstes Beispiel in der europäischen Kunstmusik ist Chopins C-Dur-Mazurka op. 7 Nr. 5, zu spielen »senza fine«,...