Der Theorieteil gliedert sich inhaltlich in mehrere Abschnitte. Zunächst erfolgt eine Definition des Begriffes „autobiographisches Gedächtnis“ und eine Festlegung einer Arbeitsdefinition desselben für diese Arbeit (2.1). Im zweiten Teil werden die wichtigsten theoretischen Grundannahmen zum Thema Gedächtnis kurz dargestellt. Dabei wird auf die Gedächtnismodelle von Paivio (1986), Baddeley (1992; 1998) und Engelkamp (1991) Bezug genommen (2.2). Ausgehend von den theoretischen Überlegungen zum Gedächtnis soll im nächsten Abschnitt (2.3) speziell die Entwicklung des kindlichen Gedächtnisses und die Probleme und Einschränkungen die damit, vor allem für kindliche Aussagen, verbunden sind im Mittelpunkt stehen. Der vierte Teil beinhaltet die Darstellung der wichtigsten wissenschaftlichen Studien zu Interviewmethoden für Kinder und deren Ergebnisse (2.4). Den Abschluss des Theorieteils bilden die psychologischen Hypothesen die in der vorliegenden Studie untersucht werden (2.5).
Das autobiographische Gedächtnis besteht aus Erinnerungen, die sich auf vergangene Lebensereignisse beziehen. Daher wird es häufig als „Ereignisgedächtnis“ bzw. „episodisches Gedächtnis“ bezeichnet (Baddeley, 1998). So verwendet Tulving (1972; 1983) die Begriffe „autobiographisches Gedächtnis“ und „episodisches Gedächtnis“ synonym. Dabei muss beachtet werden, dass diese beiden Konstrukte hinsichtlich relevanter Aspekte voneinander abgegrenzt werden können (Rubin, 1986). Die Abgrenzung, die Tulving vornimmt, bezieht sich lediglich auf die Begriffe „semantisches“ und „episodisches Gedächtnis“. Er definiert das episodische Gedächtnis als bestehend aus persönlich bedeutsamen Erlebnissen, während im semantischen Gedächtnis Informationen von der und über die Welt abgespeichert sind. Beide Systeme unterscheiden sich grundlegend bezüglich der Funktion und der Art der abgespeicherten Informationen. Um eine bessere Differenzierung der beiden Gedächtnissysteme zu gewährleisten, führt Tulving weiter aus, dass ein Ereignis nur dann im episodischen Gedächtnis abgespeichert und erinnert wird, wenn das Ereignis selbst erlebt wurde und in einen zeitlichen und räumlichen Kontext eingeordnet werden kann. Als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal ist somit die Kontextabhängigkeit der Erinnerung zu nennen (Tulving, 1972; 1983).
Um autobiographische Erinnerungen einzuordnen, verwendet Weber (1993) drei Dimensionen: der „Selbstbezug“, der „episodisches Charakter“ und die „Komplexität“ eines Ereignisses. Die Dimension „Selbstbezug“ steht für die emotionale Bedeutung eines Ereignisses und dessen Einordnung hinsichtlich vorangegangener bzw. nachfolgender Ereignisse für das jeweilige Individuum. Unter dem „episodischen Charakter“ wird der Grad an situativer Verankerung der Inhalte verstanden, dass heißt das Ausmaß, in dem für den Abruf eines Erlebnisses der Kontext notwendig ist. So haben Ereignisse, die selbst erlebt wurden, hohen episodischen Charakter, während bspw. das Wissen darüber, wo man geboren wurde, niedrigen episodischen Charakter hat. Die Dimension „Komplexität“ beschreibt die Vielfalt an Sinneswahrnehmungen, Motiven und Handlungen von Ereignissen und bezieht sich darauf, inwieweit eine Episode in einen übergeordneten Zusammenhang eingebettet werden kann.
Die beschriebenen Dimensionen lassen sich als Kontinua auffassen. Das heißt, es gibt Ereignisse, die mehr oder weniger Selbstbezug besitzen, mehr oder weniger komplex sind und solche, die mehr oder weniger episodischen Charakter aufweisen. Durch diese erweiterte Definition von Weber ist es nicht zwingend erforderlich, dass Ereignisse, die persönlich bedeutsam sind, auch selbst erlebt wurden (Weber, 1993). Übereinstimmung besteht darin, dass es sich bei autobiographischen Erinnerungen um Inhalte handelt, die dem episodischen Gedächtnis zuzuordnen sind, wie es von Tulving (1972, 1983) definiert wurde. Unterschiedliche Auffassungen gibt es weiterhin darüber, ob die Begriffe autobiographisches Gedächtnis und episodisches Gedächtnis synonym zu verwenden sind oder ob ersteres aufgrund seiner besonderen Charakteristika wie Selbstbezug oder Komplexität als eigenständiges Gedächtnissystem zu betrachten ist (Weber, 1993).
Die Forschung zum autobiographischen Gedächtnis steht vor dem Problem die experimentelle Kontrolle zu gewährleisten und trotzdem das Thema so realitätsnah wie möglich zu untersuchen. Dies führt dazu, dass die Ereignisse, auf die sich in verschiedenen Studien zu autobiographischem Gedächtnis bezogen wird, von Wortlisten bis Lebensereignissen reichen (Weber, 1993). Für die vorliegende Studie wird die Begriffsbestimmung von Weber (1993) als Arbeitsdefinition übernommen.
In diesem Kapitel werden die wichtigsten theoretischen Konzepte zum Thema „Gedächtnis“ unter Berücksichtigung der zentralen Merkmale dieser Modelle beschrieben. Ausgehend von einem unspezifischen Gedächtniskonzept werden immer differenziertere Gedächtnismodelle vorgestellt.
Die Fähigkeit, ein Symbol zu entschlüsseln, wird „literacy“ genannt. Handelt es sich bei dem Symbol um einen visuellen Stimulus spricht man von „visual literacy“ (Weidenmann, 2001). Während die Fähigkeit zum Erkennen einfacher Bilder als gegeben vorausgesetzt werden kann, muss das Entschlüsseln komplexeren Stimulusmaterials wie das Erkennen von Perspektiven oder Symbolen erst erlernt werden (Weidenmann, 2001). Kinder verfügen im Vergleich zu Erwachsenen über eine kleinere Anzahl an Strategien, um sich die Bedeutung von Bildern zu erschließen und sind generell weniger geübt darin Bilder zu verarbeiten (Mackworth und Bruner, 1970). Dies impliziert, dass Wiedergabeleistungen in Abhängigkeit von Komplexität des Stimulusmaterials und Alter der Kinder variieren.
Kernstück der Theorie von Paivio ist die Annahme von zwei funktionell unabhängigen, aber miteinander in Verbindung stehenden kognitiven Systemen. Das „verbale“ System kodiert wahrgenommene Informationen in sprachlicher Form. Das „imaginale“ System verarbeitet und speichert Informationen dagegen in einer bildhaften Repräsentationsweise. Welches System von einem Reiz jeweils aktiviert wird, hängt vom Reiz selbst ab. So aktivieren Wörter das verbale, Bilder das imaginale Kodierungssystem (Paivio, 1986).
Doppelkodierungen, also Aktivierungen beider Kodierungssysteme durch einen Reiz, treten nach Paivio vor allem bei konkreten Bildern und Begriffen auf, wie zum Beispiel beim Bild von einem Hund oder dem Wort Hund. Das konkrete Bild weckt auch das dazugehörige Wort und vice versa das konkrete Wort aktiviert eine entsprechende bildliche Vorstellung. Mit der Theorie der Doppelkodierung lässt sich nach Paivio erklären, dass konkrete Wörter und Bilder besser behalten werden als Abstraktionen (Paivio, 1986).
Allerdings berücksichtigt die duale Theorie von Paivio nur verbale und bildliche Modalitäten. Akustische und begriffliche Codes werden dadurch nicht erklärt. Außerdem kann nicht davon ausgegangen werden, dass Erinnerungsleistungen sich nur durch die gleichzeitige Präsentation von Bild und Text verbessern lassen. Zur Erklärung wird daher auf die Engelkamps „multimodale-Gedächtnis-Theorie“ verwiesen.
Abbildung 2.1
Theorie der dualen Kodierung nach Paivio (Anderson, 2001)
Baddeley (1998) prägte den Begriff des Arbeitsgedächtnisses (AG), dessen Funktion darin liegt Informationen zu memorieren und auf die Aufnahme ins Langzeitgedächtnis vorzubereiten. Verglichen mit Atkinson und Schiffrin (1968), die einen passiven eher einheitlichen Kurzzeitspeicher (KZG) annehmen, unterteilt sich nach Baddeley (1998) das Arbeitsgedächtnis in mehrere Systeme. Er unterscheidet zwischen der phonologischen Schleife, dem visuospatialem Skizzenblock und einer zentraler Kontrollinstanz (Baddeley, 1998).
Die phonologische Schleife besteht aus einem passiven Speicher für die phonologische Codierung und hat eine Kapazität von ca. zwei Sekunden. Während visuell präsentiertes Informationsmaterial erst in eine phonologische Repräsentation umgewandelt werden muss, hat auditives Informationsmaterial sofort Zugang zum phonologischen Speicher. Demgegenüber dient der visuell-räumliche Notizblock zur Speicherung visuell-räumlicher Codes (Baddeley, 1998).
Abbildung 2.2:
Baddeleys Theorie des Arbeitsgedächtnisses (Baddeley, 1992)
Die Aufgabe der zentralen Exekutive als oberste Kontrollinstanz, ist den Informationsfluss aus den beiden Subsystemen und dem Langzeitgedächtnis zu koordinieren. Die beiden Subsysteme stellen Puffer dar, die durch aktive Wiederholungsprozesse und einen passiven Speicher verhindern, dass die zu verarbeitenden Informationen zerfallen. Da beide Systeme unterschiedliche Informationen verarbeiten,...