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Autonomie und Stellvertretung in der Medizin

Entscheidungsfindung bei nichteinwilligungsfähigen Patienten

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783170266605
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Im Gegensatz zum Idealbild des 'mündigen Patienten' zeichnen sich viele Patienten gerade dadurch aus, dass sie die Fähigkeit zur Autonomieausübung vorübergehend oder dauerhaft verloren oder aber gar nicht erst erworben haben. Zu denken ist hier etwa an alte und demente Patienten, an Patienten, die sich aufgrund von Drogen- oder Medikamenteneinwirkung (z. B. auf der Intensivstation) nicht äußern können sowie auch an Kinder oder geistig behinderte Patienten. Daher besteht ein großer Bedarf an ethisch gerechtfertigten und zugleich an der Praxis ausgerichteten Handlungsorientierungen zur Entscheidungsfindung bei nicht einwilligungsfähigen Patienten. Das interdisziplinär angelegte Werk beleuchtet auf medizinethischer und rechtlicher Basis praxisorientiert die Frage sowie die Möglichkeiten, wie in Situationen, die keine eigene Entscheidung durch die Patienten über die weitere Behandlung ermöglichen, dennoch die Patientenautonomie respektiert werden kann.

Prof. Dr. Christof Breitsameter ist Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, Mitglied im Zentrum für Medizinische Ethik Bochum (ZME) und Mitglied der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. (AEM).

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Leseprobe

1 Einführung:
Autonomie und Stellvertretung – Medizinische Entscheidungen in der modernen Gesellschaft


Christof Breitsameter

1.1

Motiv und Grund

1.2

Autorität und Authentizität

1.3

Die Beträge

Literatur

Während lange Zeit das Wohl des Kranken als oberste Maxime des ärztlichen Handelns galt, tritt heute der Wille des Patienten mehr und mehr in den Vordergrund. Sowohl aus ethischer als auch aus juristischer Perspektive erscheint es weitgehend unumstritten, dass erst die autonome Willensäußerung des Patienten medizinische Maßnahmen rechtfertigt (vgl. Krones und Richter 2006, S. 94–106). Die Vorstellung von einem informierten Patienten, der gemäß eigener Wertüberzeugungen darüber befinden kann, was mit seinem Körper zu geschehen hat, ist jedoch nicht selten mehr Idealbild als realistische Beschreibung der tatsächlichen Umstände. Neben existierenden Restbeständen einer paternalistischen Arzt-Patient-Beziehung führt zu Problemen bei der praktischen Umsetzung des Respekts vor der Patientenautonomie vor allem die Tatsache, dass nur ein Teil jener Menschen, die medizinische Hilfe benötigen, auch faktisch der Idee eines autonom entscheidenden Gegenübers entspricht. Viele Patienten zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie die Fähigkeit zur Autonomieausübung vorübergehend oder dauerhaft verloren oder diese noch gar nicht erworben haben. Zu denken ist hier an alte und demente Patienten, an Patienten, die sich aufgrund von Drogen- oder Medikamenteneinwirkung nicht äußern können, sowie auch an sehr junge Kinder oder geistig behinderte Patienten. Diese nicht einwilligungsfähigen Personen als eine Randgruppe zu betrachten, würde allein schon ihrer rein quantitativen Relevanz nicht gerecht. Darüber hinaus sollte berücksichtigt werden, dass eine Krankheit stets (zum Beispiel aufgrund von Symptomen wie Schmerzen) ein unterschiedlich hohes Ausmaß an Einschränkungen der persönlichen Entscheidungsfähigkeit mit sich bringt. Von daher stellt sich die prinzipielle Frage, ob an der Vorstellung eines rational und unter Bezugnahme auf die eigenen Wertüberzeugungen entscheidenden Individuums, etwa im Falle einer schweren Erkrankung, überhaupt festgehalten werden kann. Zudem muss pragmatisch festgelegt werden, wie der klinische Entscheidungsprozess bei nicht einwilligungsfähigen Patienten zu strukturieren ist. Konkret muss hier gefragt werden: Wer entscheidet auf der Grundlage welcher Kriterien? Die Spannbreite möglicher Positionen reicht hier von einer Entscheidung allein durch den Arzt – etwa in einer klinischen Notfallsituation – bis zu all jenen Instrumenten, die der Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens dienlich sein sollen.

1.1 Motiv und Grund


Um verstehen zu können, warum medizinisches Handeln, das doch dem Wohl des Patienten zu dienen hat, überhaupt begründet werden muss und welche Rolle dabei der Wille des Patienten spielt, ist ein Blick auf die Struktur der modernen Gesellschaft unumgänglich. Hier sind ethische Fragen Begründungsfragen. Anders gesagt: Wenn Ethik die Reflexion von Moral ist, dann stattet sie unser Handeln mit Gründen aus (vgl. Breitsameter 2010, S. 7). Wenn man allerdings in die Geschichte der Ethik blickt, sieht man in antiken und mittelalterlichen Theorien weniger Begründungs- als vielmehr Haltungsdiskurse, in denen weitgehend klar ist, was richtiges Handeln ist – nämlich tugendhaftes Handeln. Dies muss nicht weiter begründet werden, weil eine Ordnung vorausgesetzt wird, die nicht begründungsbedürftig ist, sondern eben gilt. Rechtfertigungsbedürftig ist allein die Abweichung von dem, was als tugendhaft angesehen wird. Dahinter steht eine Gesellschaft, in der der Einzelne im Regelfall weiß, was von ihm wann erwartet wird, und in der so etwas wie ein Gesamtsinn dessen erkennbar ist, was getan werden soll.

Die moderne Gesellschaft dagegen setzt sich, vereinfacht gesagt, aus Funktionen zusammen, die sich voneinander abgekoppelt haben (vgl. Luhmann 1997, S. 625). In der Wirtschaft gilt eine andere Logik als in der Politik, in der Wissenschaft eine andere als in der Medizin, um nur einige wenige Perspektiven anzuführen. Diese Logiken können sich autonom entfalten – und müssen es auch: Was in der Medizin getan werden soll, darf nicht primär von wirtschaftlichen Gesichtspunkten her diktiert werden, was in der Wissenschaft als richtig erkannt wird, kann nicht direkt von dem beeinflusst sein, was politisch als opportun gilt (und wenn das der Fall ist, wie beispielsweise bei Gefälligkeitsgutachten für die Industrie, wird dies als Missbrauch wissenschaftlicher Logik gebrandmarkt). Die gesellschaftlichen Funktionssysteme sind freilich nicht autark: Was medizinisch sinnvoll ist, ist unter Umständen nicht zu bezahlen, und was von wissenschaftlicher Seite empfohlen wird, politisch nicht durchsetzbar (vgl. Breitsameter 2003). In einer solchen funktional differenzierten Gesellschaft kann die Frage nach dem richtigen Handeln nicht mehr mit dem Hinweis auf Tugendkataloge gelöst werden. Haltungsfragen werden von Begründungsfragen, wenn nicht abgelöst, so doch dominiert. Denn die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft ist in normativer Hinsicht durch Uneindeutigkeit gekennzeichnet. Die Struktur der Gesellschaft selbst lässt das Individuum in Fragen des richtigen Handelns unterbestimmt, damit es sich flexibel auf die unterschiedlichen und womöglich antinomischen Erwartungen einlassen kann, die an es herangetragen werden. Man bezeichnet diesen Prozess auch als Individualisierung. Individualisierung meint nicht, dass Menschen dazu in der Lage sind, über alles, was ihr Leben betrifft, individuell zu entscheiden. Individualisierung hebt vielmehr darauf ab, dass wir in einer Welt leben, in der die Handlungen verschiedener Individuen strukturell gleichzeitig voneinander unabhängig und aufeinander bezogen sind (vgl. Beck 1986, S. 205ff.). In einer solchen Welt treten Begründungsfragen auf. Weil Begründungen sich aber nicht auf Eindeutigkeiten stützen können, die sozusagen objektiv von außen zu lösen sind, werden sie nach innen verlegt, und zwar in die subjektive Form des Motivs. Dabei gilt als Motiv nicht beispielsweise ein Wunsch, der einem Menschen spontan in den Sinn kommt. Ein Motiv ist grundsätzlich kritisierbar, es kann immer auch ein anderes Handlungsmotiv geben, und wir müssen – uns selbst oder anderen Personen – Gründe dafür liefern, warum wir einem bestimmten Wunsch den Vorzug vor einem anderen geben (vgl. Gosepath 1999, S. 19). Dadurch entsteht eine unaufhebbare Korrespondenz von Gründe- und Motivwelt – unaufhebbar, weil die Gründe motivbasiert bleiben und sich nicht in einen vernünftigen Konsens aufheben lassen (vgl. Habermas 1988, S. 185).

1.2 Autorität und Authentizität


Da die moderne Gesellschaft sich als funktional differenzierte Gesellschaft reflektiert, ist es für sie selbstverständlich geworden, ein und denselben Gegenstand aus verschiedenen Blickwinkeln unterschiedlich zu betrachten, ohne dass einer bestimmten Perspektive ein gesellschaftsweit konzedierter Vorrang eingeräumt wird. Eine medizinische Entscheidungslage kann auch wirtschaftlich oder politisch betrachtet werden, und unter Umständen wird man zu unterschiedlichen Urteilen darüber gelangen, was zu tun ist. Dadurch entsteht das Paradox einer Symmetrie von Asymmetrien, was Auswirkungen auf die klassischen Autoritäten bzw. auf die professionelle Expertise hat. Die autoritativen Sprecherpositionen, zu der auch der Arzt gehört, werden in der Moderne auf Augenhöhe zueinander gebracht, ohne aufzuhören, professionelle Sprecherpositionen zu sein (vgl. Nassehi 2008). Eine medizinische Entscheidung, die ehemals eine autoritative Entscheidung war, kann nun angezweifelt werden, weshalb sie mit Gründen ausgestattet werden muss. Man kann also den Arzt fragen, warum er so gehandelt hat, wie er gehandelt hat, oder warum er so handeln will, wie er vorhat zu handeln, und man hebt mit der Forderung, Gründe für sein Handeln zu benennen, auf seine Motivlage ab. Diese Möglichkeit, den Arzt nach Gründen für sein Verhalten zu befragen, die wiederum auf seine Motive verweisen, kann so weit gehen, dass ihm unterstellt wird, aus wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen oder wissenschaftlichen und eben nicht aus medizinischen Motiven heraus gehandelt zu haben. Aber selbst wenn man dem Arzt unterstellt, sich von rein medizinischen Überlegungen leiten zu lassen, kann man die Frage stellen, ob die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Maßnahme richtig war. Genau dadurch ist die moralische Uneindeutigkeit der Moderne charakterisiert. Was medizinisch getan werden soll und was der Arzt deshalb vorschlägt, kann durch den Juristen oder Psychiater bestritten oder infrage gestellt werden, mit der Folge, dass im Grunde immer weiter diskutiert werden muss, was als richtiges Handeln anzusehen ist. Und selbst dann, wenn in dieser Frage Einigkeit erzielt wäre, wenn also ein autoritativer Konsens darüber bestünde, was dem Wohl des Patienten dient, kann der Wille des Betroffenen von dem abweichen, was ihm als zuträglich empfohlen wird. Daher stellt sich die Frage, was als authentischer Wille des Patienten gelten kann.

Das Medium, in dem ethische Begründungen sich ereignen, ist dann jedenfalls nicht mehr...

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