Intentionen im Unterricht der elementaren Arithmetik an der heilpädagogischen Schule und Versuche ihrer Umsetzung
Klaus-Dieter Brahmst
Aufgaben des arithmetischen Unterrichts mit Seelenpflege-bedürftigen Kindern
Die nachfolgend dargestellten Gedanken und Unterrichtsbeispiele stammen aus der Arbeit an einer heilpädagogischen Schule, die in Jahrgangsklassen Kinder mit dem besonderem Förderbedarf »geistige Entwicklung« begleitet. 8
Im Jahresberichtsheft einer Schulgemeinschaft fand sich vor kurzem folgende kleine Anekdote aus dem heilpädagogischen Unterricht: Beim Rechnen mit Geld werden die Kinder gefragt, welche Art zu zahlen am wenigsten Mühe macht: a. den Zahlbetrag genau hinzulegen oder b. einen Schein hinzulegen und das Wechselgeld nachzuzählen. Sabrina(s Antwort): »Mit Karte zahlen« (Brachenreuthe, 2008, 37).
Mit diesem Blick auf den heutigen Alltag wird jenseits seiner humorigen Komponente auch deutlich, dass eine früher für die Beschulung so genannter geistig behinderter Kinder allein maßgebende »Lebenspraktische Bildung« den herkömmlichen Rechenunterricht gar nicht mehr ausreichend begründen könnte. Andere Aspekte des arithmetischen Tätigwerdens, etwa dessen Bedeutung als eine dem menschlichen Dasein per se immanente Größe oder als ein grundlegendexemplarisches Lernfeld für den Aufbau transferfähiger gedanklicher Strukturen, geraten damit durchaus deutlicher in den Fokus. In der Folge regt es zum Nachdenken an, wie der Waldorfpädagoge und universitäre Mathematikdidaktiker Ernst Schuberth den Kern des Unterrichtsfaches beschreibt:
Mathematik, pädagogisch in ihrem tiefsten Sinne erfasst, ist die Erziehung zum Geist. Wie kein anderes Fach kann sie dem jungen Menschen die Gewissheit geben, dass in seinem Inneren, hervorgehend aus seiner ureigensten Tätigkeit, ein objektiver Weltinhalt gewonnen werden kann, der uns niemals passiv von außen zukommt wie etwa eine Farbe oder ein Klang (Schuberth, 2001, 90).
Es gibt keinen Grund, warum Kinder mit Beeinträchtigungen hier ausgeschlossen bleiben müssten, höchstens die Frage und Aufgabe, wie ihnen besondere Zugangswege zum mathematischen Tun bereitet werden können. Für eine Zielsetzung im obig skizzierten Sinn ist zuvorderst das menschenbildende Moment bedeutsam, nicht das absolute intellektuelle Niveau der möglichen Leistungen – wobei allerdings das praktische Moment, allein schon wegen seiner Motivationsbildung und seinen Auswirkungen auf das jeweils individuelle Selbstwertgefühl deswegen in keiner Weise gering geschätzt werden darf.
Rahmenbedingungen der heilpädagogischen Schule
Wenn die Kinder in unsere Schule kommen, haben sie in der Regel bereits eine bestimmte Bildungs- und diagnostische Karriere hinter sich; die Einstufung als Menschen mit besonderem Hilfebedarf im Bereich »Geistige Entwicklung« impliziert, dass etwaig vorliegende Beeinträchtigungen in den Rechenfähigkeiten nicht als »Rechenstörung« im Sinne der ICD-Klassifizierung (DIMDI, 2009, F81.2), sondern als Folge einer allgemeinen Intelligenzminderung angesehen werden; übliche isolierte Förderlehrgänge in der Arithmetik kommen daher zunächst nicht in Betracht, Hilfen werden eher aus einem ganzheitlichen Ansatz der Unterrichtsgestaltung heraus gegeben. Individuelle Förderung bleibt damit nicht ausgespart, geschieht aber generell aus dem Eingebundensein in eine rhythmisierte Tagesgliederung, wie sie eine therapeutisch modifizierte Arbeit nach den Gesichtspunkten der Waldorfpädagogik auszeichnet. Näheres dazu habe ich an anderer Stelle beschrieben (Brahmst, 2006). Der Rechenunterricht kann sich also ebenso auf einen künstlerisch-bewegungsmäßigen Tagesbeginn stützen wie auf die Durchführung als Epochenunterricht, der zudem oft projektorientiert gestaltet wird. In den unteren Jahrgängen übernimmt als kontinuierliche Bezugsperson die Klassenlehrerin oder Klassenlehrer alle sich hier abwechselnden Fächer. Für die Weiterführung in den Epochenpausen, auf die eine Arbeit an der Arithmetik unabdingbar bauen muss, sorgen zusätzliche wöchentliche Übstunden.
Faktischer Ausgangspunkt unserer Arbeit mit den Kindern wird in der Regel sein, dass bei Schuleintritt außer einem vereinzelten Aufsagen-Können der Zahlenreihe eine Zahlbegriffsbildung über den Raum bis zur Drei selten vorkommt und auch bei der Eins und der Zwei nicht als gesichert angenommen werden kann. Für die Entwicklung einer adäquaten Methodik vor diesem Hintergrund müssen uns daher zwei Ebenen besonders interessieren:
- die Frage nach der generellen Genese des Zahlbegriffs nebst dazugehöriger operationaler Verknüpfungen (mathematisch-philosophische Dimension),
- die Frage nach dem regulären individuellen Erwerb entsprechender Bewusstseinsleistungen beim Kind und deren möglichen Beeinträchtigungen (psychologische Komponente).
Im Anschluss gilt es dann, zu prüfen und exemplarisch darzulegen, welchen besonderen Beitrag ein an der Waldorfschulpädagogik orientiertes, aber den heilpädagogischen Belange angepasstes Konzept vorlegen kann.
Fachliche und pädagogische Gesichtspunkte zur Veranlagung des Zahlbegriffs
Die Mathematik als eine offenkundig sinnlichkeitsfreie und damit geistbezogene Wissenschaft ist von Anfang hinsichtlich der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten beispielhaft angeschaut worden. Gerade die Zahlen stellen in ihrem Wesen ein Geheimnis dar – es wundert daher nicht, dass sie auch in den Mittelpunkt philosophischen Interesses gerieten. In der Zeit der Aufklärung war für Immanuel Kant die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori eine »Schicksalsfrage der Philosophie« (Höffe, 2008, S. 10) und er beantwortete sie 1787 in seiner »Kritik der reinen Vernunft« positiv mit dem Verweis auf den entsprechenden Charakter von Sätzen der reinen Mathematik (Kant, 2000, 23 715). Der Satz 7 + 5 = 12 sei wie alle anderen arithmetischen Sätze synthetischer Natur, die Begriffe von 5 und 7 würden demnach die Summe 12 nicht bereits in sich enthalten. In seinem Vertrauen auf das menschliche Erkenntnisvermögen noch über ihn hinausgehend wurde ihm hier 1884 widersprochen vom Begründer der modernen Logik, Gotthold Frege, der gerade den analytischen Charakter dieses Satzes behauptete (Frege, 2009, S. 64). Hatte bereits Platon den Ideen eine eigene Existenz zugesprochen, so tat es Frege nun mit den Zahlen, die er als Anzahlen (Klassen gleichmächtiger Mengen) verstand; Mengen begriff er wiederum als Umfänge von Begriffen, die als Elemente des reinen Denkens und somit Gegenstände der Logik gelten durften (Bedürftig, 2001, 244 u. 255). Zu ähnlichen, den analytischen Charakter dieser Urteile betreffenden Ergebnissen, aber mit deutlich weitergehenden Intentionen gelangte ab 1886 Rudolf Steiner, der einen gegenüber Kant erweiterten Begriff von Erfahrung entwickelte (Steiner, 1961 a, 123 – 124). Steiner sah den Menschen einem Dualismus zweier Welten gegenüber stehen, der zusammen mit der Sinneswahrnehmung über die Bewusstseinsfähigkeit, Ideen wahrnehmen zu können, auflösbar wird:
»Bürger zweier Welten, der Sinnen- und der Gedankenwelt, die eine von unten an ihn heran tretend, die andere von oben leuchtend, bemächtigt sich der Mensch der Wissenschaft, durch die er beide in eine ungetrennte Einheit verbindet. Von der einen Seite winkt uns die äußere Form, von der andern das innere Wesen; wir müssen beide vereinigen« (Steiner, 1961 b, 60).
Für die unterrichtliche Einführung der (natürlichen) Zahlen wie der elementaren Rechenoperationen hat Rudolf Steiner innerhalb der Ausgestaltung der Waldorfpädagogik sehr explizite Vorschläge, die eng an die oben geschilderten Aspekte anknüpfen (Steiner, 1972, 105 ff); darauf wird später noch Bezug genommen.
Eine endgültige Klärung der Natur der Zahlen ist nicht möglich (Bedürftig, 2001, 268), nach den Unvollständigkeitssätzen von Kurt Gödel aus dem Jahre 1931 jedenfalls nicht innerhalb geschlossener formaler Systeme wie der eben die Gesetzmäßigkeiten der natürlichen Zahlen beschreibenden Peano-Arithmetik (Resag, 2008). In Abgrenzung zum Logizismus, der von Frege begründet und von Russell fortgesetzt worden war und gerade auf psychologische Bezüge verzichten wollte, ging Jean Piaget einen demgegenüber umgekehrten Weg, indem er die Genese des Zahlbegriffs aus berühmt gewordenen Beobachtungsreihen an Kindern heraus (re-)konstruierte. Er relativierte die Bedeutung des Kardinalen gegenüber dem mehr im Handlungsbereich liegenden Ordinalaspekt der Zahlen, was der stärkeren Anerkennung des Operationalen in der pädagogischen Methodik erst den Weg öffnete (Piaget, 1969, 194 – 200). Sein entwicklungspsychologisches Stufenmodell beschreibt das Schulalter bis zum 11. Lebensjahr als das »Stadium der konkreten Operationen« und erteilt damit einer einseitig abstrakten Unterrichtsgestaltung bereits für den Regelbereich eine Absage. Sukzessive wird den Kindern nach Piaget erst jetzt die »Entdeckung physikalischer Invarianzen wie Zahl, Substanz, Masse, Volumen« (Remschmidt, 2000, 19) möglich.
Durch neuere Untersuchungen im Säuglingsalter werden die Ergebnisse Piagets teilweise relativiert, besonders was den Zeitpunkt des ersten Begreifens von Objektpermanenz (Objekte existieren weiter, auch wenn sie aus dem Gesichtsfeld verschwinden), Solidität (Objekte können nicht durch andere hindurchgehen) und Kontinuität (bei Bewegungen von Objekten) angeht; die Frage einer ersten numerischen Kompetenz bereits im ersten Lebensjahr (Wahrnehmung diskreter Anzahlen) bleibt...