Avantgarde und Trauma
Die Musik des 20. Jahrhunderts und die Erfahrungen der Weltkriege
Die Entdeckung des Unbewussten
Welche Spuren hat das unendliche Leid der beiden Weltkriege in der Musik hinterlassen? Wie reagiert Musik, wenn eine ganze Gesellschaft traumatisiert ist? Für ein einzelnes Schicksal mag die Musik Klänge finden, hat sie sich doch schon zu Beginn des Jahrhunderts an die Gestaltung extremer Situationen gewagt. Elektra, die Heldin der Oper von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, scheint traumatisiert zu sein, weil sie die Ermordung ihres Vaters miterleben musste. Diese Szene wird im täglichen Erinnerungsritual immer wieder heraufbeschworen, bei jeder Gelegenheit wird sie aktualisiert: «Was hebst du die Hände? So hob der Vater seine beiden Hände, da fuhr das Beil hinab […]», sagt sie zu ihrer Schwester. Elektra aber kann ihre Gefühle äußern, ist lebendig in all ihrem Hass und hat in der Hoffnung auf Rache ein Ziel, das ihr eine Lebensperspektive gibt. Sie ist zumindest nicht so schwer traumatisiert, dass sie keine Gefühle mehr zeigen und nicht mehr erzählen könnte. Die Musik vermag sich ihrer schroffen Gestik anzuverwandeln, kennt Momente der Erstarrung in dissonanten Klängen, bleibt aber immer ausdrucksvoll, findet stets ihren Fluss wieder und vermag, bei aller Diskontinuität im Einzelnen, Zeit zu gestalten und ein kohärentes Ganzes herzustellen.
Eine extreme Traumatisierung hingegen, wie man sie oft bei Kriegsteilnehmern findet, zeigt weit stärkere Symptome: «Ein traumatisiertes Erinnerungsvermögen ist nicht zur erzählenden Wiedergabe fähig. […] Ein schweres Trauma zerstört den Zusammenhalt des Bewusstseins», heißt es bei Jonathan Shay.1 «Für Kampfsoldaten bricht der Zeithorizont zusammen. Es kommt für sie nur darauf an, das Jetzt zu überstehen.»2 «Die Veränderung des Zeitgefühls beginnt mit der Auslöschung der Zukunft und umfasst schließlich auch das Auslöschen der Vergangenheit», schreibt Judith Herman.3 Als weitere Symptome derer, die mit einem ungeheilten Trauma weiterleben, weiterleben müssen, werden genannt: «roboterhaftes, nicht von Affekten begleitetes Funktionieren […]»,4 «Fortdauer der Empfindungslosigkeit»5 und das «Gefühl der Sinnleere und Bedeutungslosigkeit»6.
Erlauben wir uns, etwas vorzugreifen, so fällt auf, wie sich daraus mit nur geringfügig veränderter Wortwahl die Beschreibung einiger Strömungen der musikalischen Avantgarde nach 1950 ergibt: «Wahrnehmung der einzelnen, vereinzelten, isolierten Ereignisse […] verhindert das Erzählen von Geschichten. Zeit wird zerteilt und zerschnitten, Zeitsplitter, Zeitfetzen, Zeitschnipsel werden in neue und andere Zusammenhänge gebracht, um immer wieder und immer wieder neu die Erfahrung von Beziehungslosigkeit zu ermöglichen», so heißt es – ohne alle Kritik übrigens – in einem Buch über «Neues Hören» von Eva-Maria Houben.7
Die Musik des 20. Jahrhunderts könnte vor folgendem Problem gestanden haben: In wieweit kann sie sich extremen Seelenzuständen anverwandeln und dabei ihrer selbst mächtig bleiben, oder wird sie soweit in sie hineingezogen, dass sie die Symptome von Traumatisierung in sich hineinnimmt, selbst reproduziert? Wenn Musik mit Emotionslosigkeit, Distanziertheit, Abstraktion, Kälte und Abtrennung ihrer körperlich-sinnlichen Dimensionen reagiert, wenn ihr Zeithorizont wegbricht, sie unfähig wird zur Herstellung von Zusammenhängen und zum sinnvollen, verstehbaren Nacheinander, kurz: wenn sie sich fragmentiert und nicht mehr erzählen kann, und wenn sich keine Instanz mehr findet, die für die Kohärenz des Erklingenden verantwortlich zeichnet, dann haben emotionale Erstarrung, Verlust des Zeithorizonts und Dissoziation des Ich die Musik selber ergriffen.
Kehren wir zurück zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Für Elektra liegt die traumatisierende Szene in der Vergangenheit; in Arnold Schönbergs Operneinakter Erwartung ist sie Gegenwart. Eine Frau irrt nachts durch den Wald auf der Suche nach ihrem Geliebten, den sie schließlich ermordet findet. Die Musik zeichnet ihre Empfindungen mit größter Genauigkeit nach: Angst, Erschrecken, Erstarren, Hoffnung, glückliche Erinnerungen, Eifersucht, Schmerz und Verzweiflung. Dabei taumelt sie schreckhaft von Augenblick zu Augenblick, es gibt keine Themen und Motive mehr, die einen zeitlichen Zusammenhang herstellen könnten, nur noch isolierte Gesten, Schocks und Ausbrüche; der Zeithorizont schrumpft auf die reine Gegenwart. Die Zusammenklänge sind durchweg dissonant, angespannt, als würde die Musik mit der Frau nur noch flach und verspannt atmen; das Metrum bleibt bei der nuancierten und aufgelösten Rhythmik oft kaum noch spürbar, als würde die Musik sich aus dem Körper zurückziehen. Und dennoch: In einem genialen Balanceakt gelingt es Schönberg, in der Dramaturgie des Ausdrucks einen großen formalen Bogen herzustellen. Bei aller Anverwandlung an die extremen Situationen bleibt die Musik immer organisch und – trotz ihrer Angespanntheit – immer körperlich empfunden. Vor allem: Die Musik lebt noch in teilweise weit ausschwingenden melodischen Bögen, erhält sich so den Raum für eine innere Welt und verfügt über ein reiches Ausdrucksspektrum – sie hat sich noch nicht in die traumatisierende Situation hineinziehen lassen.
Schönberg komponierte Erwartung 1909; einen großen Einschnitt in seinem Schaffen bilden die Jahre des Ersten Weltkriegs, in denen kaum ein Werk vollendet wurde. Das mag äußere Gründe haben; Schönberg wurde 1915 zum Kriegsdienst einberufen, aber bereits 1917 entlassen. In die Jahre bis 1920 fällt die Ausarbeitung der Zwölftontechnik. Damit war Schönberg entscheidend beteiligt an dem Stilwandel zu Beginn der 1920er Jahre mit der Suche nach Ordnung und einer Musik, die eher Kälte, Härte und Distanz vermittelt als Sensibilität und Verletzlichkeit. Sollte der Erste Weltkrieg damit nichts zu tun haben? Auch wenn in Adornos Philosophie der neuen Musik8 der Erste Weltkrieg gar nicht vorkommt – bemerkenswert für einen Denker, der den Zusammenhang von Musik und Gesellschaft thematisiert –, müssen wir dennoch dieser Frage nachgehen.
Nach den unvorstellbaren Schrecken des Zweiten Weltkriegs werden die des Ersten gelegentlich unterschätzt. Zu den Materialschlachten, den Giftgaseinsätzen an der Front, dem Hunger und den Entbehrungen im ganzen Land kamen die Trauer über die Gefallenen und der Anblick der vielen invaliden und verkrüppelten Menschen. «Der Erste Weltkrieg hinterließ ein Heer von Blinden, Amputierten, von an Seele und Körper Zerschmetterten wie kein Krieg zuvor», schreibt Bruno Schrep.9 Das musste spürbare Auswirkungen haben auf die Befindlichkeit der ganzen Gesellschaft, zumal in Deutschland und Österreich noch die gesellschaftlichen Umbrüche durch das Ende der Monarchien und das demütigende Bewusstsein, den Krieg verloren zu haben, hinzukamen.
Die Quellen zu den Kriegserlebnissen der Komponisten sind nicht sehr ergiebig. Aber auch wer nicht verletzt wurde, kann durch lebensbedrohende Situationen oder durch das, was er mit ansehen musste, von traumatischen Erfahrungen betroffen sein. Und über traumatisierende Erlebnisse wollen oder können viele Menschen nicht sprechen. Doch selbst wenn Komponisten persönlich nicht betroffen waren, so haben sie oft die Atmosphäre, die veränderten Reaktionsweisen, die Art, mit Gefühlen, mit Trauer und Schmerz, mit Verletzungen umzugehen, von der sie umgebenden Gesellschaft aufgenommen. «Nichtgeheilte Fronttraumata zerstören nicht nur das Leben der betroffenen Veteranen, sondern auch das Leben ihrer Familien und der Gemeinschaft. In einigen Fällen, so etwa im Deutschland der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg, kann diese Erscheinung die Gesellschaft insgesamt schwer schädigen.»10
In einer solchen Situation ist die Frage interessant, über welche Ressourcen eine Gesellschaft verfügt, mit traumatischen Erfahrungen umzugehen. Ein Blick auf die vorausgehenden gut hundert Jahre zeigt, dass die Voraussetzungen für eine Bewältigung der Kriegstraumata im 20. Jahrhundert denkbar ungünstig waren.
Walter Benjamin hat in seiner Arbeit «Über einige Motive bei Baudelaire» neben der Isolation des Einzelnen die Erfahrung von Schocks als wesentlich für die in der Großstadt lebenden Menschen herausgearbeitet. Zu einer von Baudelaire übersetzten Erzählung von Poe heißt es dort: «Seine Passanten benehmen sich so, als wenn sie, angepasst an die Automaten, nur noch automatisch sich äußern könnten. Ihr Verhalten ist eine Reaktion auf Choks.»11 Das liest sich bereits wie eine Beschreibung neusachlicher Kunst der 1920er Jahre. Für eine Bewältigung bzw. Integration traumatischer Erfahrungen ist ein menschliches Umfeld...