Prolog: One night in Bangkok …
Auf einmal fange ich an zu schwitzen. Und zwar so richtig. Auf meiner Stirn bildet sich ein Tropfen nach dem anderen, ich kann es regelrecht fühlen. Max liegt neben mir. Alle viere von sich gestreckt. Die Augen geschlossen, auf den Lippen ein feines Lächeln. Das Leinentuch hat er weit von sich gestrampelt. Bärti, seinen Teddybär, nah an sich herangezogen. Auch Max sieht ein bisschen klebrig aus, aber im Vergleich zu mir noch immer ziemlich frisch. Ich schalte die Klimaanlage an. Das Surren hat ja manchmal etwas Beruhigendes. Manchmal. Nur nicht in diesem Moment.
Denn in diesem Moment überkommt es mich. Mitten in Thailand. Mitten im Urlaub. Mitten in der Nacht. Zukunftsangst. Völlig unangemeldet, doch dafür umso stärker. Es ist Dezember, 2015 ist bald Vergangenheit. Max ist viereinhalb Jahre alt und noch rund 550 Tage entfernt von einem Leben, das im Vergleich mit dem jetzigen nicht fremder erscheinen könnte. Einem Leben als Schulkind. Unsere gemeinsame Zeit bestimmen wir dann nicht mehr selbst. Wir werden bestimmt. Am meisten Max. Mit festen Strukturen, großen Pausen und kleinen Ferien. Dennoch: Ich als dazugehörige Mutter bin angekettet an das gleiche Programm.
Und feste Strukturen sind nicht mein Ding. Ganz und gar nicht. Ich arbeite als freie Journalistin. Ein ziemliches Privileg, denn ich kann mir meine Jobs und somit das Leben mit meinem Sohn in einem vorgegebenen Rahmen ganz gut einteilen. Je nach Auftragslage, Lust und Laune. Wird das Geld knapp, stürze ich mich in die Arbeit. Wenn wenig zu tun ist, klinken wir uns ein bisschen aus. Das ist unsere Freiheit. Und so landen wir dann an Orten wie diesem. Thailand. Bangkok. Generell eher entspannt. Generell schon sehr paradiesisch. Doch irgendwie noch nicht perfekt. Noch nicht das, was ich wirklich will. Es sind nur kurzzeitige Ausbrüche aus dem normalen Leben, denn nach ein paar Wochen müssen wir wieder zurück. Max in den Kindergarten, ich an den heimischen Schreibtisch. Das aber will ich ändern. Das will ich durchbrechen. Keine kurzen Urlaube mehr, sondern eine längere, eine lange Reise. Unterwegs leben, unterwegs arbeiten, zusammen mit Max auf der ganzen Welt ankommen.
Ich drehe mich von einer Seite auf die andere. Licht aus, Licht an. Die Gedanken im Power-Modus. Die Angst wird nicht weniger, sondern von Minute zu Minute größer. Fast panikartig. Was sind schon eineinhalb Jahre? Wo sind überhaupt die letzten vier geblieben? Habe ich nicht gestern noch Windeln gewechselt und verdreckte Strampler gewaschen? Und jetzt liegt mein einst so kleines Baby schnarchend neben mir. Fast halb so groß wie ich. Schlagartig wird mir das bewusst. In der Hitze der Nacht, in Schweiß gebadet. Angstschweiß zum Anfassen. Panik zum Mitnehmen. Solche Reisen wie diese hier gibt es höchstwahrscheinlich nicht mehr, wenn Max erst mal in der Schule ist. So viele gemeinsame Momente auch nicht. Ich möchte meinen Sohn beim Aufwachsen beobachten. Ihm zur Seite stehen und Teil seiner Welt sein. Täglich Zeit mit ihm verbringen, nicht nur am Nachmittag oder in den Ferien. Dann, wenn alle loswollen. Und ich es mir womöglich nicht mehr leisten kann.
Eine Lösung muss her. »Carpe diem« steht in großen Lettern auf meiner Hüfte. Pflücke den Tag. Mach was draus, bevor die Chance vorüber ist. Eineinhalb Jahre sind besser als gar nichts, doch wenn ich nicht bald anfange, etwas zu ändern, sind sie schneller vorbei, als ich schwitzen kann. Wir müssen die Zeit bis zu Max’ Schuleintritt nutzen. Für uns. Für die Welt. Für etwas, das wir nie vergessen werden.
Doch bislang habe ich nie den richtigen Dreh gefunden. Journalistin bin ich ursprünglich nur geworden, um in fernen Ländern zu leben und von dort zu berichten. Hat aber nie so wirklich geklappt. Nationale TV-Nachrichten mussten in den letzten Jahren reichen. Vor ein paar Monaten hatte ich einen zweiten Versuch gestartet und nebenher ein Aufbaustudium angefangen. Deutsch als Fremdsprache. Deutsch, so der Plan, könnte ich weltweit unterrichten. Im Rahmen dieses Studiums flog ich nach Kalifornien. Santa Cruz. Dort versuchte ich als Assistenzlehrerin an der Uni, langweilige Grammatik in lustige Hippie-Studenten zu quetschen. Es war nicht schlecht, bestimmt nicht, aber irgendwie auch nicht wirklich ideal. Immerhin kam ich mit einer für mich neuen Lebensform in Berührung. Der der digitalen Nomaden. Beim Kochen im Hostel lief mir eine von ihnen über den Weg. Sie zeigte mir eine völlig neue Welt. Ein komplett neues Universum: Menschen, die digital arbeiten und währenddessen um den Globus reisen. Viele von ihnen sogar äußerst erfolgreich und scheinbar ziemlich glücklich. Den Laptop immer dabei, die kreativen Ideen in dem dazu passenden Rucksack verstaut.
Ein paar von ihnen haben sich wohl als blinde Passagiere in meiner Tasche versteckt, denn auf einmal kommen sie in der Hitze der thailändischen Nacht hervor. Bevölkern das Bett und meine Gedanken. Laptop. Reisen. Schreiben. Zusammen mit Max die Welt entdecken und von unterwegs arbeiten. Spannende Länder, fremde Kulturen, neue Menschen erleben. Ihm die Welt zeigen, bevor ich ihn auf sie loslasse. Dabei genügend Geld verdienen, um das Ganze für uns zwei zu finanzieren. Nicht nur für ein paar Wochen am Stück, sondern auf lange Sicht. Ein Jahr. Ortsunabhängig, ungebunden und ohne Kindergarten. Bis zur Schulpflicht. Sie wird uns vom Rest der Welt scheiden, aber bis dahin … Ja, das könnte es sein. Das wird es sein. Unser Ticket in die Welt. Und von einer Sekunde auf die andere verfliegt meine Panik. Meine Zukunftsangst. Ich fühle ein imaginäres Handtuch, das mir den Schweiß von der Stirn tupft. Ich bin mir auf einmal sicher. Und zwar so richtig.
Meine nächtliche Eingebung lässt mich nicht mehr los. Als wir zurück in Deutschland sind, kann ich es kaum erwarten, mich in eine digitale Nomadin zu verwandeln. Die ersten Recherchen im Internet offenbaren die vielfältigsten Möglichkeiten. Eine ganz neue Welt breitet sich vor mir aus, in den unterschiedlichsten Varianten. Die Familie der digitalen Nomaden scheint zwar zumindest in unseren Gefilden noch relativ klein zu sein, dafür umso bunter. Ehemalige Bankangestellte schreiben mittlerweile Bücher über Selbstfindung, Programmierer bauen unter Palmen Webseiten. Eine Erfolgsgeschichte reiht sich an die andere, und das passende Material zum Nachmachen gibt es oftmals gratis mit dazu. Egal ob Bücher, Webseiten, Podcasts oder komplette Online-Kurse: Ich werde fündig. Und motiviert. Was die können, schaffe ich auch. Sicher.
Es ist fast schon eine Sucht, die mich packt. Eine Versuchung, der ich verfalle. Denn je mehr ich mich mit der Materie beschäftige, desto greifbarer wird das Ganze für mich. Wir leben in einer Welt, in der uns solche Türen offenstehen. Das Internet macht es möglich. Gepaart mit Flexibilität. Ist der Wille da, kann man auf Weiterbildung am hauseigenen Küchentisch zurückgreifen. Zwischen Spaghetti und Kindergeschrei. Sieben Tage die Woche. Rund um die Uhr.
Was mich allerdings verwundert: Der Großteil der digitalen Nomaden ist Single. Kein Kind. Kein Anhang. Wenn doch, dann ist die gesamte Horde unterwegs. Vater, Mutter, Kind. Mindestens zu dritt. Familie auf Weltreise. Elternzeit weit ab vom Schuss. Das scheint im Kommen zu sein. Doch wo sind die Alleinerziehenden? Wo sind die Mütter (oder Väter), die sich beruflich selbstständig machen, ihr Kind unter den Arm klemmen und zu zweit losziehen, um die Welt zu entdecken? Kann man sich nur als Single oder im Familienverband von gesellschaftlichen Zwängen freimachen? Kann man seine Träume nicht auch solo mit Kind leben? Ich verstehe es nicht. Gerade Alleinerziehende besitzen doch die perfekten Voraussetzungen für ein solches Nomadenleben: Organisationstalent. Krisenmanagement. Haushalten mit knappem Budget.
Wer es schafft, sein Kind ohne Partner im Großstadtdschungel von München, Hamburg oder Berlin durchzubringen, wird das Leben im südamerikanischen Regenwald doch mit links meistern.
Vereinzelt soll es diese alleinerziehenden digitalen Mütter oder Väter anscheinend schon geben, irgendwo versteckt. Doch keine(r) von ihnen berichtet ausführlich darüber. Journalistisch. Professionell. Die speziellen Informationen, die ich für meine Situation dringend bräuchte, gibt es somit leider nicht. Ein großes Loch in den Weiten des Internets tut sich auf. Somit auch eine riesige Marktlücke. Die gilt es zu schließen. Und zwar von mir. Von uns. Als gutes Beispiel!
Mein Kopfkino geht los: Wie wäre es also, wenn Max und ich loszögen und ich über unser Leben von unterwegs berichtete? Wenn ich alles in Deutschland auf Pause setzte und einen kleinen Zwischenstart hinlegte? Wir das wagten, was sich viele andere zwar auch schon getraut haben, aber nicht unbedingt in dieser Konstellation? Ich will zusammen mit Max Träume leben. Von jetzt an bis zum Schulstart. 550 Tage. Mit den Möglichkeiten, die wir haben. Sowohl jobtechnisch als auch finanziell. Mit all dem Wissen, das ich bereits in mir trage. Hauptsächlich also mit dem Schreiben und Reisen, plus dem, was ich noch dazulernen möchte. Unternehmerischem Hintergrundwissen, um beides miteinander zu verbinden.
Die Startzeichen stehen gar nicht so schlecht. Und den Rest bekomme ich auch noch irgendwie hin. Mit der entsprechenden Vorbereitung und einer ordentlichen Portion Mut. Und den habe ich, denn immerhin starte ich das Ganze nicht allein. Sondern mit dem mir wichtigsten Menschen an der Seite. Die Idee wächst und gedeiht. Von Minute zu Minute. Von Tag zu Tag. Laptop. Reisen. Schreiben. Die Grundidee steht.
Vorher kommt aber noch der zweite Auslandsaufenthalt als Teil meines Deutschstudiums. Kolumbien. Bogotá. Das...