Lärm und Liebesdramen in Liverpool
Natürlich hat der Rock-’n’-Pop-Kosmos bis heute eine Menge Superstars geboren, und viele von ihnen haben mehr Platten verkauft als die Beatles in ihrer besten Zeit. Doch keine Band und kein Solokünstler hat jemals die Statur des Liverpooler Quartetts erreicht. Sie besaßen universelle Akzeptanz über alle kulturellen Grenzen hinweg und setzten einen Maßstab, an dem sich bis heute alle Nachfolger messen lassen müssen. Die Beatles wurden zu Wegbereitern jener Bewusstseinsrevolution in den westlichen Industrienationen, in deren Verlauf sich seit Mitte der 1960er Jahre die Lebens- und Kommunikationsformen aus konservativen Zwängen befreiten und für nachfolgende Generationen eine neue Freizügigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen ermöglichten.
Dabei waren die Anfänge dieser vergötterten Weltbeweger alles andere als strahlend. »Es gab damals nichts Großartiges in Liverpool. Zu unserer Zeit war die Stadt sehr arm, aber zugleich sehr robust. Vielleicht hatten die Menschen dort wegen ihrer großen Sorgen einen ganz speziellen Sinn für Humor. […] Es war eine kosmopolitische Stadt, wo die Seeleute an Land gingen und die Blues- und Rock-’n’-Roll-Platten aus Amerika mitbrachten.« John Lennons Rückblick aus dem Jahr 1970 ist nüchtern und zugleich von zärtlicher Zuneigung zu seiner Heimatstadt.
Anfang des 20. Jahrhunderts stellte die Hafenstadt Liverpool einen prosperierenden Schmelztiegel verschiedenster Kulturen dar: Neben Iren und Walisern war hier die größte »Chinatown« Europas zu Hause. Die Stadt begriff sich selbstbewusst als Tor zum britischen Empire und als Brückenkopf von Irland und Amerika – hier hatte die Transatlantiklinie »Cunard« ihren Sitz. Dabei gründete der Reichtum Liverpools maßgeblich auf dem Sklavenhandel des 18. Jahrhunderts, doch inzwischen war die Stadt zum wichtigsten Umschlagplatz von Baumwolle und Textilien in England geworden. Obwohl von der feinen Londoner Gesellschaft als rückständig und bedeutungslos abgetan, hatten die Menschen an der Merseyside ein robustes Selbstbewusstsein entwickelt.
Sich selbst bezeichneten die ›Liverpudlians‹ gern als »Scousers« – nach einem deftigen Seemannsgericht namens »Lobscouse« (hierzulande als Fleisch-Gemüse-Eintopf, als ›Labskaus‹ bekannt). »Scousers besitzen einen unbändigen Lokalpatriotismus, glauben immer, gegen den Rest der Welt – vor allem gegen die Londoner – kämpfen zu müssen. Und diesen Standpunkt verteidigen sie sehr gewandt, mit ihrem Mundwerk und mit ihren Fäusten«, erklärte Bill Harry, Begründer des Musikmagazins Mersey Beat. Kein Wunder, dass aus Liverpool die meisten Komiker und die berühmtesten Fußball-Teams Englands stammen: »Man muss Komiker sein, um hier leben zu können«, war eine beliebte Redensart der Scousers. Als Beleg für die Selbstironie der Liverpudlians mag die Geschichte der Liver Birds dienen, die die Türme des Royal Liver Building schmücken, das gleich am Pier Head der Waterfront neben dem Cunard-Gebäude gelegen ist. Die beiden Phantasievögel, von Carl Bernard Bartels entworfen, gelten als Wahrzeichen der Stadt: Während der weibliche Vogel über den Hafen blickt, um die ankommenden Schiffe willkommen zu heißen, sieht der männliche über die Stadt, um ihre Bewohner zu schützen. Der Volksmund erzählt allerdings eine andere Geschichte: Der weibliche Vogel halte nach jungen, strammen Matrosen Ausschau, während der männliche schaue, ob die Pubs schon geöffnet haben. Im übrigen schlügen beide mythischen Vogelfiguren erst dann mit ihren Flügeln, wenn eine Jungfrau unten auf der Straße vorbeigehe.
Überlebenswichtig wurde der sarkastische Humor der »Scousers«, als die Stadt während des Zweiten Weltkriegs wegen des strategisch wichtigen Hafens zu einem Hauptangriffsziel wurde. Vor allem die ›Docklands‹, die Hafenanlagen und Landungsbrücken an der Flussmündung des ›Mersey‹ in die Irische See, lagen fast permanent unter Beschuss. Die Legende erzählt, dass John Winston Lennon – der zweite Vorname war eine patriotische Reminiszenz an den damaligen Premierminister – während eines deutschen Bombenangriffs am Abend des 9. Oktober 1940, um 6.30 Uhr im Liverpooler Oxford Street Maternity Hospital als Sohn des Handelsmatrosen Alfred Lennon und seiner Frau, der Kino-Platzanweiserin Julia Stanley (ein Joke in ihrer Heiratsurkunde von 1938, denn beide waren verrückt nach Filmen) zur Welt kam. Natürlich eignet sich diese Geschichte wunderbar zur Mythenbildung: Ein unruhiger Geist, ein Kämpfer wird geboren, während um ihn herum die Bombensplitter fliegen. Leider hat die Recherche im Archiv der Tageszeitung Liverpool Echo neuerdings ergeben, dass trotz der vielen Angriffe in jenem Monat am Tag von Lennons Geburt keine Bomben auf Liverpool fielen. Lennons rebellischer Impetus musste also andere Wurzeln haben.
Zunächst lebte die junge Familie zu dritt in beengten Verhältnissen in der Newcastle Road 9. Doch die Eltern trennten sich zwei Jahre später, und die Idylle zerbrach. Seine Mutter Julia hatte in dieser Zeit verschiedene Affären und gebar von einem ihrer Liebhaber ein Mädchen – John soll seine später verschollene Schwester Victoria nie zu Gesicht bekommen haben. Seinen Vater, einen unsteten Seemann irischer Abstammung, sah er in den ersten fünf Jahren nur sporadisch. Im Juni 1946 aber machte Freddie Lennon seinem Sohn ein überraschendes Angebot: Er wolle mit ihm zusammen nach Neuseeland auswandern, »mit der Absicht, nie mehr zurückzukehren«. Nach Aussagen seines Vaters war John von diesem Plan zunächst begeistert. Als im folgenden Monat überraschend seine Mutter Julia mit ihrem neuen Liebhaber auftauchte und von dem Plan erfuhr, war sie außer sich. Obwohl ihr Ehemann ihr sogleich anbot, auch sie nach Neuseeland mitzunehmen, lehnte Julia brüsk ab und forderte John auf, sich zu entscheiden: Mit wem wollte er in Zukunft zusammenleben? Nach einer dramatischen Szene, die den Fünfjährigen nachhaltig verstört haben muss, rannte John schließlich weinend seiner Mutter nach, um bei ihr zu bleiben. »Das war das letzte, was ich von ihm sah und hörte, bevor ich erfuhr, dass mein Sohn ein Beatle war«, erinnerte sich Freddie Lennon später.
Doch Julia dachte nicht daran, als treusorgende Mutter in Liverpool bei ihrem Kind zu bleiben. Sie wollte ihre – nach der endgültigen Trennung von Freddie – wiedergewonnene Freiheit auskosten und entschied, dass der kleine John am besten bei ihrer kinderlosen Schwester Mary Elizabeth, genannt Mimi, und ihrem Ehemann George Smith in der Menlove Avenue aufwachsen sollte. Im Gegenzug übernahm Julia die Rolle einer fürsorglichen, aber etwas exzentrischen Tante, die in Erziehungsfragen toleranter als Mimi war und John – vielleicht aus schlechtem Gewissen – oft verwöhnte.
In diesen familiären Wirrungen, denen der erst fünfjährige John Lennon ausgesetzt war, liegen bereits jene Motive begründet, die ihn später nach dem Ende des Beatles-Männerbundes und in der Lebensgemeinschaft mit Yoko Ono immer wieder dazu brachten, die Erinnerung an seine Mutter zu romantisieren – und gleichzeitig die Erinnerung an den Vater zu verdrängen. Dem Beatles-Biographen Hunter Davies gab Lennon bereits 1968 zu Protokoll: »Meinen Vater hatte ich bald vergessen. Es war, als wäre er tot.« Seine Mutter beschwor John dagegen in nicht enden wollenden Hymnen wie ›Julia‹, ›Mother‹ (»Mama don’t go, daddy come home!«) oder ›My Mummy’s Dead‹. Die beunruhigende Verbindung von Glaube und Geborgenheit, von Trost und Herkunft bleibt für Lennon bis zu seinem Tod ein bestimmendes Thema. Noch Ende 1979 bricht es sich in seiner Parodie auf den mittlerweile zum »Born Again Christian« konvertierten Bob Dylan Bahn: In ›Serve Yourself‹ singt Lennon mit beißendem Spott: »But there’s something missin’ in this whole bloody stew, it’s your mother, your poor bloody mother.« Schon in einer Dylan-Satire aus dem Jahr zuvor heißt es: »Because I’m knockin’ on heaven’s door, because I’m lookin’ for my Ma!«
Die verlorene Mutter – sie war und blieb das lebenslange Trauma von John Lennon. Er ging später so weit, zu behaupten: »Der einzige Grund dafür, dass ich ein Star geworden bin, liegt in der Verdrängung. Nichts hätte mich zu all dem getrieben, wenn ich ›normal‹ gewesen wäre.« Dabei war es Julia Lennon, die die musikalischen Interessen ihres Sohnes unterstützte und ihm beispielsweise einfache Banjo-Akkorde zeigte. Sie selbst galt als talentierte Sängerin, die ihr Baby oft mit einer kleinen Melodie aus dem Disney-Film Schneewittchen und die sieben Zwerge zum Schlafen brachte: »Want to know a secret? Promise not to tell. You are standing by a wishing well.« Kein Wunder, dass Lennon später diese Melodie mit Buddy-Holly-Harmonien kreuzte und daraus die Beatles-Nummer ›Do You Want to Know a Secret‹ machte. Wie ein Schwamm saugte der Heranwachsende alle alltagskulturellen...