2. Kapitel Die Hebamme
»Haben Sie Ringelblume?«, fragte die Hebamme. »Ich brauche auch noch Lobelie und Zaubernuss.«
Sie saß am Küchentresen und sah Mutter zu, wie sie unsere Sperrholzschränke durchwühlte. Zwischen ihnen auf dem Tresen stand eine elektrische Waage, auf der Mutter hin und wieder getrocknete Blätter abwog. Es war Frühling. Trotz der hellen Sonne war der Morgen kühl.
»Ich habe erst letzte Woche frische Ringelblume gemacht«, sagte Mutter. »Tara, hol sie doch mal schnell.«
Ich holte die Tinktur, und meine Mutter packte sie mit den getrockneten Kräutern in eine Plastiktüte. »Noch etwas?« Mutter lachte. Das Lachen war schrill, nervös. Die Hebamme schüchterte sie ein, und wenn meine Mutter eingeschüchtert war, bekam sie etwas Gewichtloses, fuhr jedes Mal herum, wenn die Hebamme eine ihrer langsamen, behäbigen Bewegungen machte.
Die Hebamme ging ihre Liste durch. »Das ist alles.«
Sie war eine kleine, füllige Frau Ende vierzig, die elf Kinder hatte und eine rostfarbene Warze am Kinn. Sie hatte die längsten Haare, die ich je gesehen hatte, eine Kaskade von der Farbe von Feldmäusen, die ihr bis auf die Knie fiel, wenn sie ihren straffen Dutt löste. Ihre Züge waren streng, die Stimme von starker Autorität. Sie hatte keine Lizenz, besaß keine Urkunden. Sie war Hebamme einzig kraft ihrer eigenen Behauptung, was mehr als genug war.
Mutter sollte ihr assistieren. Ich weiß noch, wie ich sie an jenem ersten Tag musterte, sie verglich. Mutter mit ihrer Rosenblütenhaut, die Haare zu weichen Wellen gerollt, die um ihre Schultern wippten. Ihre Lider schimmerten. Mutter trug jeden Morgen ihr Make-up auf, und wenn sie keine Zeit dafür hatte, entschuldigte sie sich den ganzen Tag dafür, als wäre sie dadurch allen lästig gefallen.
Die Hebamme sah aus, als hätte sie ihr Äußeres seit zehn Jahren nicht mehr beachtet, und durch die Art, wie sie sich gab, kam man sich blöd vor, dass man es überhaupt bemerkt hatte.
Die Hebamme verabschiedete sich mit einem Nicken, die Arme voll mit Mutters Kräutern.
Beim nächsten Mal brachte die Hebamme ihre Tochter Maria mit. Sie stand neben ihrer Mutter, ahmte ihre Bewegungen nach, ein Baby an ihre drahtige neunjährige Gestalt geklemmt. Ich schaute sie hoffnungsfroh an. Außer Audrey war sie das erste Mädchen wie ich, das ich getroffen hatte, das erste, das auch nicht zur Schule ging. Langsam näherte ich mich ihr, aber sie war völlig in die Worte ihrer Mutter vertieft, die gerade erklärte, wie Herzspannkraut bei Kontraktionen nach der Geburt angewandt werden sollte. Marias Kopf wippte zustimmend; ihr Blick wich nicht vom Gesicht ihrer Mutter.
Ich trottete allein zu meinem Zimmer, doch als ich die Tür schließen wollte, stand sie da, noch immer das Baby auf der Hüfte. Es war eine fleischige Masse, und sie musste ihren Körper scharf an der Taille beugen, um sein Gewicht auszugleichen.
»Gehst du?«, fragte sie.
Ich verstand die Frage nicht.
»Ich gehe immer«, sagte sie. »Hast du schon mal gesehen, wie ein Baby geboren wird?«
»Nein.«
»Aber ich, viele Male. Weißt du, was es bedeutet, wenn ein Baby Steißlage hat?«
»Nein.« Ich sagte es wie eine Entschuldigung.
Als Mutter das erste Mal bei einer Geburt half, war sie zwei Tage weg. Dann wehte sie zur Tür herein, so blass, dass sie fast durchsichtig war, und ließ sich aufs Sofa sinken, wo sie zitternd liegen blieb. »Es war furchtbar«, flüsterte sie. »Sogar Judy hat gesagt, sie hat Angst.« Mutter schloss die Augen. »Man hat es ihr aber nicht angesehen.«
Mutter ruhte sich noch einige Minuten aus, bis sie wieder etwas Farbe bekam, dann erzählte sie die Geschichte. Die Wehen waren lang und aufreibend gewesen, und als das Baby endlich kam, war die Mutter stark aufgerissen. Überall war Blut. Es blutete einfach immer weiter. Da sah Mutter, dass die Nabelschnur sich um den Hals des Babys gewickelt hatte. Der Junge war violett und so still, dass Mutter ihn für tot hielt. Während sie diese Einzelheiten erzählte, wich ihr das Blut aus dem Gesicht, bis sie fahl wie ein Ei dasaß, die Arme um den Oberkörper geschlungen.
Audrey machte Kamillentee, dann brachten wir unsere Mutter ins Bett. Als mein Vater am Abend nach Hause kam, erzählte meine Mutter es auch ihm. »Ich kann das nicht«, sagte sie. »Judy schon, aber ich nicht.« Dad legte ihr den Arm um die Schulter. »Der Herr hat dich berufen«, sagte er. »Und manchmal verlangt der Herr schwere Dinge.«
Mutter wollte keine Hebamme sein. Es war Dads Idee gewesen, einer seiner Pläne für größere Unabhängigkeit. Er hasste nichts mehr als unsere Abhängigkeit vom Staat. Dad sagte, eines Tages seien wir völlig los vom Netz. Sobald er das Geld zusammen habe, werde er eine Pipeline bauen, über die Wasser vom Berg komme, und danach werde er auf der ganzen Farm Sonnenkollektoren aufstellen. Damit hätten wir am Ende aller Tage dann Wasser und Strom, wo alle anderen dann Wasser aus Pfützen trinken und im Dunkeln leben müssten. Mutter sei Kräuterkennerin, damit sie uns pflegen könne, wenn wir krank seien, und wenn sie Hebamme würde, könnte sie die Enkel entbinden, wenn die dann kämen.
Ein paar Tage nach jener ersten Geburt kam die Hebamme Mutter besuchen. Sie brachte Maria mit, die wieder mit mir auf mein Zimmer kam. »Das war richtig Pech, dass deine Mutter bei ihrem ersten Mal eine schlimme gekriegt hat«, sagte sie und lächelte. »Die nächste wird einfacher.«
Ein paar Wochen später kam ihre Voraussage auf den Prüfstand. Es war Mitternacht. Da wir kein Telefon hatten, rief die Hebamme bei Oma-von-unten an, die daraufhin müde und widerwillig zu uns heraufging und blaffte, Mutter müsse wieder »Doktor spielen«. Sie blieb nur wenige Minuten, aber lange genug, um das ganze Haus zu wecken. »Warum ihr nicht einfach ins Krankenhaus gehen könnt wie jeder andere auch, das kapier ich nicht«, brüllte sie und knallte die Haustür hinter sich zu.
Mutter holte ihre Reisetasche und den Kasten mit den dunklen Tinkturfläschchen, dann schlich sie langsam aus dem Haus. Ich war besorgt und schlief schlecht, aber als sie am Morgen zurückkam, die Haare wirr und dunkle Ringe unter den Augen, hatte sie ein breites Lächeln im Gesicht. »Es war ein Mädchen«, sagte sie. Dann legte sie sich ins Bett und schlief den ganzen Tag.
So vergingen Monate, meine Mutter musste zu jeder Tages- und Nachtzeit aus dem Haus und kam zitternd wieder, zutiefst erleichtert, dass es vorüber war. Als die Blätter fielen, hatte sie bei einem Dutzend Geburten mitgeholfen. Am Ende des Winters bei mehreren Dutzend. Im Frühling sagte sie meinem Vater, sie habe nun genug gelernt, sie könne nun ein Baby selbst entbinden, wenn es sein müsse, wenn das Ende der Welt gekommen sei. Sie könne jetzt aufhören.
Dad machte ein langes Gesicht. Er erinnerte sie daran, dass es Gottes Wille sei, dass es unsere Familie segnen werde. »Du musst Hebamme sein«, sagte er. »Du musst selbst ein Kind entbinden können.«
Mutter schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht«, sagte sie. »Und außerdem, wer würde mich denn holen, wenn es Judy gibt?«
Sie hatte sich verhext, Gott den Fehdehandschuh hingeworfen. Bald danach erzählte mir Maria, ihr Vater habe eine neue Arbeit in Wyoming. »Mama sagt, deine Mutter soll das jetzt übernehmen«, sagte Maria. In meiner Fantasie nahm ein erregendes Bild Gestalt an, ich in Marias Rolle, die Tochter der Hebamme, selbstbewusst, kenntnisreich. Doch beim Blick auf meine Mutter, die neben mir stand, verflüchtigte sich das Bild.
In Idaho arbeiteten Hebammen außerhalb der Legalität, sie hatten weder eine offizielle Zulassung noch eine Ausbildung. Das bedeutete, dass eine Hebamme bei einer schiefgegangenen Entbindung eine Anklage wegen unerlaubter Arzttätigkeit riskierte; ging die Entbindung richtig schief, musste sie mit einer Anklage wegen Totschlags und einer Haftstrafe rechnen. Dieses Risiko gingen nur wenige Frauen ein, weswegen Hebammen rar waren: An dem Tag, als Judy nach Wyoming aufbrach, war Mutter die einzige Hebamme im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern.
Nun kamen Frauen mit dicken Bäuchen zu uns und baten Mutter, sie zu entbinden. Mutter wurde blass bei dem Gedanken. Eine Frau saß auf der Kante unseres abgewetzten gelben Sofas, den Blick zu Boden gerichtet, und erklärte, ihr Mann sei arbeitslos und sie habe kein Geld fürs Krankenhaus. Mutter saß still da, der Blick gerade, die Lippen fest, der ganze Ausdruck einen Moment lang stabil. Dann löste sich der Ausdruck auf, und sie sagte mit ihrer kleinen Stimme: »Ich bin keine Hebamme, nur Assistentin.«
Die Frau kam noch einige Male, saß wieder und wieder auf unserem Sofa und beschrieb die unkomplizierten Geburten ihrer anderen Kinder. Oft, wenn Dad den Wagen der Frau vom Schrottplatz aus sah, kam er ins Haus, leise, durch die Hintertür, vorgeblich, um Wasser zu trinken; dann stand er in der Küche, trank langsam lautlose Schlucke, die Ohren zum Wohnzimmer hin gespitzt. Und wenn die Frau dann ging, war Dad ganz aufgeregt, sodass Mutter, sei es angesichts der Verzweiflung der Frau oder Dads...