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E-Book

King Kong Theorie

AutorVirginie Despentes
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783462319101
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die feministische Streitschrift von Virginie Despentes in neuer Übersetzung - so aktuell wie nie zuvor Gleich zu Beginn ihres autobiografischen Essays stellt Virginie Despentes klar, für wen sie schreibt: für die Unzufriedenen, die Ausgegrenzten, für die, die in keine Schublade passen. Ein wütendes Pamphlet gegen Männlichkeitswahn, das Opferdasein und die Beschränkung des Menschen auf Geschlechter- und Rollenklischees. Außerdem ein Plädoyer für das Recht auf Selbstbestimmung, das »Aus-der-Rolle-Fallen« und für ein - wenn nötig auch radikales - Eintreten für sich selbst. Schonungslos, drastisch, ehrlich. »Ein flammendes Plädoyer für das Unangepasstsein« SPIEGEL Online

Virginie Despentes, Jahrgang 1969, zunächst bekannt als Autorin der »Skandalbücher« »Baise-moi - Fick mich« und »King Kong Theorie«, hat sich spätestens mit ihren Vernon-Subutex-Romanen in den Olymp der französischen Schriftsteller:innen geschrieben. Sie ist eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs. Ihr Roman Apocalypse Baby wurde mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet.

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Leseprobe

Fick ich dich oder fickst du mich


Seit einiger Zeit werden wir in Frankreich ständig wegen der 70er-Jahre beschimpft. Dass das ein Irrweg gewesen sei und was wir denn mit der sexuellen Revolution erreicht hätten und ob wir uns für Männer hielten oder was und dass man sich angesichts unseres Blödsinns frage, wo die gute alte Männlichkeit geblieben sei, die von Papa und Großpapa, die der Männer, die noch im Krieg zu fallen und einen Haushalt mit gesunder Autorität zu führen verstanden. Und mit dem Gesetz im Rücken. Wir werden beschimpft, weil die Männer Angst haben. Als könnten wir etwas dafür. Aber das ist doch fantastisch oder zumindest modern, ein Beherrscher, der herumheult, weil der Beherrschte nicht mitspielt … Spricht der weiße Mann hier tatsächlich zu den Frauen oder will er nur seine Überraschung darüber kundtun, welche Wendung seine Angelegenheiten überall nehmen? Egal. Auf jeden Fall ist es unglaublich, wie wir beschimpft, zur Ordnung gerufen und kontrolliert werden. Mal spielen wir zu sehr die Opfer, mal vögeln wir nicht, wie es sich gehört, zu sehr wie Hündinnen oder zu sehr wie zärtliche Verliebte, egal, was passiert, wir haben nichts davon verstanden, zu porno oder nicht sinnlich genug. Ehrlich mal, diese sexuelle Revolution war Perlen vor die Gänse. Egal, was wir machen, irgendjemand macht sich immer die Mühe zu sagen, es sei bescheuert. Eigentlich sei es vorher besser gewesen. Ach ja?

Ich bin 1969 geboren. Ich war in einer gemischten Schule. Ich habe schon in der ersten Klasse gelernt, dass die schulische Intelligenz der Jungs die gleiche ist wie die der Mädchen. Ich habe kurze Röcke getragen, ohne dass jemand in meiner Familie sich Gedanken gemacht hat, was die Nachbarn sagen. Ich habe mit 14 die Pille genommen, ohne dass es ein Problem war. Ich habe gevögelt, sobald ich die Gelegenheit hatte, das hat mir damals super gefallen, und zwanzig Jahre später ist der einzige Kommentar, der mir dazu einfällt: »zu cool für mich«. Ich bin mit 17 ausgezogen und durfte allein wohnen, ohne dass jemand etwas dagegen hatte. Ich habe immer gewusst, dass ich arbeiten würde. Ich würde nicht die Gesellschaft eines Mannes ertragen müssen, damit er meine Miete bezahlt. Ich habe ein Bankkonto auf meinen Namen eröffnet, ohne zu wissen, dass ich zur ersten Generation Frauen gehörte, die das ohne Vater oder Ehemann tun durfte. Ich habe erst ziemlich spät angefangen zu masturbieren, aber ich kannte das Wort schon, weil ich es in Büchern gelesen hatte, die keinen Zweifel ließen: Ich war kein asoziales Monster, weil ich mich anfasste, außerdem ging es nur mich an, was ich mit meiner Möse machte. Ich habe mit Hunderten Männern geschlafen, ohne je schwanger zu werden, und wenn, hätte ich gewusst, wo ich abtreibe, ohne die Erlaubnis von irgendwem, ohne mein Leben aufs Spiel zu setzen. Ich bin Hure geworden, ich bin mit hohen Absätzen und tiefen Dekolletés durch die Stadt spaziert, ohne jemandem Rechenschaft zu schulden, ich habe jeden Centime, den ich verdient habe, selbst kassiert und selbst ausgegeben. Ich bin getrampt, ich wurde vergewaltigt, ich bin wieder getrampt. Ich habe den ersten Roman unter meinem richtigen Vornamen geschrieben, ohne eine Sekunde daran zu denken, dass man mir bei Erscheinen die Grenzen aufzählen würde, die ich nicht hätte überschreiten dürfen. Die Frauen meines Alters sind die ersten, die ein Leben ohne Sex führen können, ohne über das Spielfeld Kloster zu gehen. Die Zwangsehe ist heute schockierend. Die eheliche Pflicht ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Jahrelang war ich tausend Meilen vom Feminismus entfernt, nicht weil Solidarität oder Bewusstsein fehlten, sondern weil mich mein Geschlecht lange Zeit an kaum etwas gehindert hat. Da ich Lust auf ein Männerleben hatte, führte ich ein Männerleben. Denn die feministische Revolution hat wirklich stattgefunden. Man sollte endlich aufhören, uns einzureden, früher seien wir erfüllter gewesen. Horizonte haben sich geweitet, Freiräume plötzlich aufgetan, als wären sie immer da gewesen.

Zugegeben, das heutige Frankreich ist keineswegs Arkadien für alle. Hier sind weder alle Frauen glücklich noch alle Männer. Das hat nichts damit zu tun, ob die traditionellen Geschlechterrollen eingehalten werden oder nicht. Wir könnten alle in Schürzen in der Küche stehen und jedes Mal Kinder machen, wenn wir Sex haben, das würde nichts am Untergang der Arbeit, des Liberalismus, des Christentums oder des ökologischen Gleichgewichts ändern.

Die Frauen um mich herum verdienen tatsächlich weniger als die Männer, haben weniger hohe Posten, finden es normal, dass sie unterschätzt werden, wenn sie etwas unternehmen. Es gibt diesen Domestikenstolz, über Hindernisse hinweg vorwärtskommen zu müssen, als wäre das nützlich, angenehm oder sexy. Ein unterwürfiges Glück bei der Vorstellung, als Sprungbrett zu dienen. Wir schämen uns unserer Kräfte. Auf Schritt und Tritt überwacht von Männern, die sich weiter in unsere Angelegenheiten einmischen und uns erklären, was gut oder schlecht für uns sei, aber vor allem von anderen Frauen, in der Familie, in Frauenzeitschriften und im alltäglichen Diskurs. Eine Frau muss ihr Licht unter den Scheffel stellen: »kompetent« ist immer noch gleichbedeutend mit »männlich«.

 

Die Psychoanalytikerin Joan Rivière schrieb 1927 »Weiblichkeit als Maskerade«. Darin schildert sie den Fall eines »Zwischentyps« von Frau, also heterosexuell, aber männlich, die darunter litt, dass sie nach jedem öffentlichen Auftritt von entsetzlicher Angst gepackt wurde, die ihr alle Kraft raubte und sich in einem zwanghaften und demütigenden Drang äußerte, die Aufmerksamkeit der Männer zu suchen:

»Durch die Analyse stellte sich dann heraus, dass sich ihr zwanghaftes Flirten und Kokettieren (…) folgendermaßen erklärte: Es war der unbewußte Versuch, sich gegen die Angst zur Wehr zu setzen, die sich einstellte, weil sie nach der intellektuellen Leistung ihres Vortrags Vergeltungsmaßnahmen von seiten der Vaterfigur befürchtete. Die öffentliche Zurschaustellung ihrer geistigen Fähigkeiten, die sie an sich erfolgreich durchführte, bedeutete, daß sie sich selbst als im Besitz des Penis ihres Vaters zur Schau stellte, nachdem sie ihn kastriert hatte. Sobald die Vorführung vorüber war, wurde sie von einer furchtbaren Angst vor der Vergeltung, die ihr Vater üben würde, erfaßt. Offensichtlich war das Bestreben, sich ihm sexuell hinzugeben, ein Versuch, den Rachesuchenden zu besänftigen.«

 

Diese Analyse bietet einen Schlüssel zum Verständnis der Schwemme heißer Outfits im heutigen Popgeschäft. Egal, ob du durch die Stadt läufst, MTV oder eine Varietésendung im ersten Programm siehst oder in einem Frauenmagazin blätterst – du bist erschlagen von der Explosion des extremsten, oft sehr kleidsamen Schlampenlooks, den viele junge Mädchen übernehmen. Im Grunde ist das ihre Art, sich zu entschuldigen und die Männer zu beruhigen: »Sieh nur, wie gut ich bin; trotz meiner Autonomie, meiner Bildung, meiner Intelligenz ist mein einziges Ziel immer noch, dir zu gefallen«, scheinen die Gören im String zu verkünden. »Ich wäre zwar durchaus fähig, anders zu leben, aber ich setze die wirkungsvollsten Verführungsstrategien ein, und entscheide mich damit für ein nicht selbstbestimmtes Leben.«

Auf den ersten Blick scheint es überraschend, dass die Mädchen mit so viel Begeisterung die Attribute der »Objekt«-Frau übernehmen, dass sie ihre Körper verstümmeln und spektakulär zur Schau stellen, während diese junge Generation zugleich die »anständige Frau« wieder aufwertet, also weit entfernt ist von ausgelassenem Sex. Der Widerspruch ist nur scheinbar. Die Frauen senden den Männern eine beruhigende Botschaft: »Habt keine Angst vor uns.« Dafür lohnt es sich, unbequeme Sachen zu tragen und Schuhe, in denen niemand laufen kann, sich die Nase zertrümmern oder die Brust aufblasen zu lassen und zu hungern. Keine Gesellschaft hat je so viele Beweise für die Unterwerfung unter ein ästhetisches Diktat, so viele körperliche Veränderungen zur Verweiblichung des Körpers verlangt. Und gleichzeitig hat keine Gesellschaft den Frauen so viel körperliche und intellektuelle Bewegungsfreiheit gelassen. Die Über-Markierung der Weiblichkeit gleicht einer Entschuldigung für den Verlust der männlichen Vorrechte. »Seien wir befreit, aber nicht zu sehr. Wir spielen das Spiel mit, wir wollen keine phallische Macht, wir wollen niemandem Angst machen.« Die Frauen machen sich freiwillig klein, verschleiern, was sie gerade errungen haben, machen sich zu Verführerinnen, nehmen ihre Rolle wieder ein, umso demonstrativer, als sie wissen, dass es im Grunde nur noch zum Schein ist. Der Zugang zu traditionell männlichen Machtbereichen geht mit der Angst vor Bestrafung einher. Seit jeher wurde brutal bestraft, wer seinen Käfig verließ.

Wir haben nicht so sehr die Idee unserer Unterlegenheit verinnerlicht – wie gewalttätig auch immer die Kontrollinstrumente waren, der Alltag hat uns gezeigt, dass die Männer weder von Natur aus überlegen noch sehr anders als die Frauen sind. Vielmehr ist uns die Vorstellung, dass unsere Unabhängigkeit schädlich sei, in Fleisch und Blut übergegangen und wird von den Medien eifrig verbreitet: Wie viele Artikel wurden in den letzten zwanzig Jahren über Frauen geschrieben, die den Männern Angst machen, über Frauen, die für ihren Ehrgeiz oder ihre...

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