1 Die bildungspolitische Entwicklung der Behindertenpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland
1.1 Das Erbe der Vergangenheit
Überblickt man die Gesamtgeschichte der pädagogischen Hilfe für behinderte Menschen von ihren ersten institutionellen Anfängen im 18. Jahrhundert bis hinein in die Gegenwart, so erscheint die Zeitspanne vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute nur etwa als ein Fünftel jenes Entwicklungsraumes, den die Behindertenpädagogik für eine Phase benötigt hat, die man ihre jüngere Geschichte nennen kann. Und doch haben sich in dieser Zeit in Deutschland – und eine ähnliche Periode verzeichnen die meisten westlichen Industriestaaten – die größten Wandlungen in gesellschafts- und bildungspolitischen Grundauffassungen wie auch, wenngleich vermindert, in den Organisationsstrukturen vollzogen.
Der erste Unterricht taubstummer Schüler durch den Abbé de l’Epée 1763 in Paris, die Eröffnung der ersten Blindenschule durch Valentin Haüy daselbst 1785 und die frühen Erziehungsversuche bei einem geistigbehinderten Jungen ab 1800 durch Jean Itard sind Ausdruck der Anerkennung der Bildbarkeit Behinderterer, denen vordem dieser Zuspruch verwehrt worden war (Ellger-Rüttgardt/Tenorth 1998; Ellger-Rüttgardt 2008). Der Prozess einer von da an einsetzenden Durchsetzung des Bildungsrechts war, von den ökonomischen und strukturellen Bedingungen her unausweichlich, mit zwei Bestimmungsmomenten verbunden: mit Institutionalisierung und Professionalisierung (Ellger-Rüttgardt 2008, 130). Die Einlösung des Bildungsanspruchs war nur möglich durch die Gründung von „Sonderinstitutionen“, da das allgemeine Bildungswesen mit Schulklassen von über 100 Schülern dieser Aufgabe nicht gewachsen war. Zugleich bedurfte es der Qualifizierung pädagogischer Spezialisten, also der Schaffung einer besonderen Profession, der „Sonderlehrer“.
In der historischen Rückschau war die Gründung von Sonderschulen für eine erfolgreiche Bildung behinderter Menschen mithin notwendig, um ihrer Not zu begegnen. Wir stoßen hierbei auf ein Paradoxon, dass gesellschaftliche Vorgänge der Inklusion nur um den Preis der Exklusion erreicht wurden. Später hat man diesen Vorgang kritisch als Separierung und als Isolierung gebrandmarkt. Der Verlauf einer Rückbesinnung auf die ursprünglichen Bildungsbemühungen der ersten Heilpädagogen, die zugleich auch die „bürgerliche Brauchbarkeit“, die Eingliederung in die Arbeitsgesellschaft zum Ziel hatten, setzt mit einer „Kritischen Sonderpädagogik“ der Siebzigerjahre in der Bundesrepublik ein. Integration und Inklusion werden im Laufe der nächsten Jahrzehnte zu bildungspolitischen Leitideen.
Dieser Werdeprozess einer gesellschaftlich vermittelten Behindertenpädagogik lässt sich weltweit beobachten. Lowenfeld (1975) hat am Beispiel der pädagogischen Förderung blinder Menschen in den angelsächsischen Ländern den Weg „from separation to integration“ beschrieben. Sowohl der historische als auch der interkulturelle Vergleich zeigen auf, dass sich der zwangsläufige Entwicklungsgang bis in die jüngste Zeit hinein wiederholt (Bleidick/Rath 1987; Bürli 1994; Kniel 1980; Neubert/Cloerkes 1987).
Wir befinden uns heute in einer veränderten Situation gegenüber den Gründungsjahren des Sonderschulwesens als auch seiner fortdauernden Konsolidierung seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Ausgliederungs- und Differenzierungsprozess, mit dem die pädagogische Förderung Behinderter ihre Bedeutung und ihre Eigenständigkeit im Bildungswesen erlangte, ist zum Stillstand gekommen und erfährt eine Rückwärtsbewegung. Neue soziale Bewegungen haben eine erhöhte Sensibilität für gesellschaftliche Benachteiligungen geweckt. Die Leistungsfähigkeit des Schulwesens ist gegenüber früheren Zeiten unvergleichlich gewachsen. Es spricht indessen für eine nahezu groteske historische Unkenntnis der Entstehungsbedingungen von Heilpädagogik und Sonderpädagogik im 18. und 19. Jahrhundert, wenn nunmehr räsonierend verlangt wird, die damalige „historische Fehlentwicklung“ für eine „separierende“ Sonderpädagogik sei jetzt zu korrigieren, mittels einer „dialektischen Aufhebung der Sonderpädagogik“, die das gemeinsame Lernen von Behinderten und Nichtbehinderten zum Programm macht (Eberwein 1988, 344). Wir sind nun einmal die Resultate früherer Geschlechter, so schrieb Nietzsche 1874 in der Zweiten unzeitgemäßen Betrachtung, nicht ihre Urheber gewesen; wir haben gleichwohl die Folgen genau zu bedenken. Und auch der Vorwurf, Sonderpädagogik als Theorie, Institution und Profession diene letztlich nur der eigenen Herrschaftssicherung (Hänsel 2003; Hänsel/Schwager 2004), entbehrt jeder historiografischen Glaubwürdigkeit, da vermeintliche Kontinuität postuliert, historische Entwicklungen hingegen nicht in der Blick genommen werden (Ellger-Rüttgardt 2004b; Ellger-Rüttgardt 2005).
1.2 Wiederaufbau des Sonderschulwesens in den Gemeinden
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 lag Deutschland danieder. Es bedurfte der größten Anstrengungen, um die Trümmer der Städte zu beseitigen, der drohenden Hungersnot zu begegnen, einfache Lebensfristung sicherzustellen. Erst nach ein bis zwei Jahren kam der öffentliche Schulbetrieb, oft in Notunterkünften und mit behelfsmäßig instruierten Lehrkräften, in Gang. Nach der Währungsreform 1948 und mit Konstitution der Bundesrepublik Deutschland 1949 konnte man erwarten, in einigen Jahren zu halbwegs geordneten Verhältnissen zurückzukehren.
Den Gemeinden oblag die Finanzierung und Organisation des Bildungswesens, somit auch des Schulwesens für behinderte Kinder und Jugendliche. Die Entwicklung folgte dem Duktus der Geschichte vor 150 Jahren. So ist es nicht verwunderlich, vielmehr folgerichtig, dass beim Wiederaufbau des Sonderschulwesens Institutionalisierung und Professionalisierung im Vordergrund stehen. Beide Gesichtspunkte hängen eng zusammen.
Das erste regionenübergreifende Dokument, das ein Gesamtprogramm für den Wiederaufbau der Institution Sonderschule im westlichen Teil Deutschlands umfasst, wurde vom Vorstand des Verbandes Deutscher Hilfsschulen dem Deutschen Städtetag zur Beschlussfassung überreicht. Es war die erste erfolgreiche Aktion eines professionellen Lehrerverbandes nicht nur seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, sondern auch seit der Auflösung bzw. der „Gleichschaltung“ der pädagogischen Lehrerverbände in dem Jahre 1933. Der Verband Deutscher Hilfsschulen (VDH) hatte sich 1949 als Nachfolgeverband des Verbands der Hilfsschulen Deutschlands (VdHD) neu konstituiert. 1955 wurde der Verband in Konsequenz seines erweiterten Aufgabengebietes in Verband Deutscher Sonderschulen (vds) umbenannt. Seit 2003 lautet der offizielle Name Verband Sonderpädagogik e.V.
Erster Bundesvorsitzender des Verbandes Deutscher Hilfsschulen in der Nachkriegszeit von 1949 bis 1957 war Paul Dohrmann. Als Hannoveraner Städtischer Schulrat wusste er entscheidenden Einfluss auf die Beratungen des Deutschen Städtetages zu nehmen, der 1954 die „Stellungnahme zum Heilpädagogischen Sonderschulwesen“ annahm, die der Verband unter Dohrmann erarbeitet hatte (Bleidick 1998b, 100). Die Vorlage ging per Geschäftsführung des Städtetages an alle Schulträger in städtischen und ländlichen Gemeinden. Unter dem Titel „Denkschrift zu dem Ausbau des Heilpädagogischen Sonderschulwesens“ hat sie als konzeptioneller Planungsrahmen den Aufbau des Sonderschulwesens in der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich bestimmt. Noch 1968 wirkt der Impetus in einem Anschreiben des vds an den deutschen Städtetag nach:
„In dankbarer Erinnerung an die durch den Deutschen Städtetag und seine Mitglieder in den früheren Jahren gewährte großzügige und vorbildliche Unterstützung der Bemühungen um den Aufbau des Sonderschulwesens wendet sich der Verband Deutscher Sonderschulen heute erneut an Sie mit der Bitte, die Bemühungen um eine ausreichende und angemessene Betreuung der lernbehinderten Kinder in den so zahlreich entstehenden Großsiedlungen der Städte ebenso tatkräftig und nachhaltig zu unterstützen“ (Zeitschrift für Heilpädagogik 1968, 548).
Die Denkschrift zählt fünf Sonderschultypen auf. Nur die Hilfsschule ist organisatorisch und didaktisch ausführlich beschrieben. Die Ausdifferenzierung nach zehn gleichgewichtig eigenständigen Fachrichtungen erfolgte erst in den Sechzigerjahren. Äußerliche, praktisch vordringliche Notwendigkeiten spielen eine große Rolle: neue, eigene Schulgebäude, die Einrichtung der Klassenräume, Werkräume, Freiluftschulerziehung usw. In der ideologischen Begründung schließt sich der Beschluss des Deutschen Städtetages den geläufigen Argumenten an. Das Sonderschulwesen erfährt seine Legitimation, „indem es gehemmten und behinderten Kindern aus Gründen der Menschlichkeit dient und viele davor bewahrt, der Allgemeinheit zur Last zu fallen“. So „bringt es zugleich finanzielle und wirtschaftliche Ersparnisse“, so der Bundesausschuss des vds (Zeitschrift für Heilpädagogik 1957, 518).
Der vollständige Text des Dokumentes ist abgedruckt in der Zeitschrift für Heilpädagogik 1955, 3–55; ferner in Möckel (1998, 306–339). Ein Auszug gibt die wichtigsten Abschnitte zu den allgemeinen Ausführungen wieder, die sich gemäß der Tradition des Verbandes vorwiegend mit dem Hilfsschulwesen beschäftigen. Spezielle Ausführungen im zweiten Teil der Denkschrift beziehen sich auf Detailaufgaben der Hilfsschulen, der Sprachheilschulen, der Schwerhörigenschulen, der Sehbehindertenschulen und der Schulen für gemeinschaftsschwierige Kinder. Blinden- und Gehörlosenschulen sind nicht erwähnt. Sie werden durch eigene Verbände vertreten; in einigen Ländern unterstehen sie...