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E-Book

Bekenntnisse eines Ichmenschen

Vollständige Ausgabe

AutorStendhal
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl592 Seiten
ISBN9783849636708
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Stendhals posthum erschienene Autobiografie enthält seine gesammelten Selbstbiographien, Tagebücher und Nekrologe, hauptsächlich aus den Jahren 1812 bis 1832.

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Leseprobe

Sechstes Kapitel - Sitten von Grenoble


 


Rom, 2. Dezember 1835.

 

Nach dem Tode meiner Mutter war mein Großvater in Verzweiflung. Ich erkenne, aber erst jetzt, daß er einen Charakter wie Fontenelle gehabt haben muß, bescheiden, klug, verschwiegen, äußerst liebenswürdig und unterhaltend bis zum Tode seiner Tochter. Seitdem hüllte er sich oft in zurückhaltendes Schweigen. Er liebte auf Erden nur diese Tochter und mich.

 

Seine andre Tochter Seraphie langweilte und quälte ihn. Ihm ging der Friede über alles, und sie konnte ohne Szenen nicht leben. Mein guter Großvater, auf seine väterliche Autorität bedacht, machte sich lebhafte Vorwürfe, daß er ihr nicht die Zähne zeigte, wie man bei uns zulande sagt. Er achtete und fürchtete seine Schwester Elisabeth, die ihm in ihrer Jugend einen in Paris gestorbenen Bruder vorgezogen hatte. Das konnte er ihr nie verzeihen, aber bei seinem liebenswürdigen, friedfertigen Charakter zeigte er es ihr nie; ich erriet es erst später.

 

Gegen seinen Sohn Romain Gagnon, meinen Oheim, einen glänzenden Lebemann, hatte er eine Art von Abneigung. Gerade diese Eigenschaft entzweite Vater und Sohn: beide waren in verschiedenem Sinne die liebenswürdigsten Leute der Stadt. Mein Großvater war maßvoll in seinen Scherzen; sein feiner kalter Witz konnte unbemerkt bleiben. Übrigens war er in jenen Zeiten grober Unwissenheit ein Wunder an Gelehrsamkeit. Aus Rache machten ihm die Dummköpfe oder Neider fortwährende Komplimente über sein Gedächtnis. Er kannte die anerkannten Schriftsteller auf allen Gebieten, zitierte sie und glaubte an sie.

 

"Mein Sohn hat gar nichts gelesen", sagte er manchmal mißlaunig. Das stimmte, aber in seiner Gesellschaft konnte man sich unmöglich langweilen. Mein Großvater hatte ihm eine reizende Wohnung in seinem Hause gegeben und ihn zum Advokaten gemacht ... Er gab ihm freien Tisch und 100 Franken monatliches Taschengeld, eine damals in Grenoble riesige Summe. Mein Oheim aber kaufte sich gestickte Kleider für 1000 Taler und hielt Schauspielerinnen aus. Ich bin nur halb hinter diese Dinge gekommen, habe sie aus Andeutungen meines Großvaters erraten. Ich glaube, mein Oheim ließ sich von seiner reichen Geliebten Geschenke machen, und für dies Geld kleidete er sich prächtig und hielt arme Geliebte aus. Allerdings galt es damals in unserem Lande nicht für schlimm, Geschenke von vornehmen Damen anzunehmen, wenn man sie nur gleich ausgab und nichts zurücklegte.

 

Mehrmals kam es vor, daß mein Großvater bei Frau von Quinsonas oder in einem andern Kreise einen reichgekleideten jungen Mann sah, dem alle Welt zuhörte. Es war sein Sohn.

 

"Mein Vater wußte von diesen Kleidern nichts", sagte mein Oheim zu mir. "Ich machte, daß ich fortkam, ging nach Hause und zog meinen schlichten Frack an. Wenn mein Vater zu mir sagte: "Sage mir doch gefälligst, woher du das Geld für diese Kleidung nimmst?", so antwortete ich: "Ich hatte Glück im Spiel." – "Aber warum bezahlst du dann deine Schulden nicht?" – Aber Frau Soundso wollte mich doch in dem hübschen Kleid sehen, das sie mir gekauft hatte, fuhr mein Oheim fort. Ich zog mich mit irgendeinem Kalauer heraus."

 

Ich weiß nicht, ob der Leser von 1880 einen noch heute sehr berühmten Roman "Die gefährlichen Liebschaften" kennt, den der Artillerieoffizier Choderlos de Laclos in Grenoble geschrieben hatte und der die Sitten von Grenoble schildert. Ich habe Frau von Merteuil noch gekannt. Ihr Urbild war Frau von Montmort, die mir kandierte Nüsse schenkte. Sie war lahm und besaß das Haus Drevon oder Chevallon bei der Kirche von Saint-Vincent zwischen Le Fontanil und Boreppe. Der Besitz der Frau von Montmort und der meines Großvaters waren nur durch die Straße getrennt. Das reiche junge Mädchen, das ins Kloster gehen muß, war ein Fräulein von Blacons aus Boreppe.

 

Diese Familie ist ein Muster von Trübsinn, Frömmigkeit, Sittenstrenge und reaktionärer Gesinnung. Wenigstens war sie es 1814, als der Kaiser mich als Kommissar in den siebenten Militärbezirk schickte. Mein Kollege war der alte Senator Graf Saint-Ballier, ein Lebemann aus der Zeit meines Oheims. Er erzählte mir viel von ihm und den unglaublichen Torheiten, zu denen er ein paar Damen (die Namen habe ich vergessen) verleitete. Damals glühte ich von heiligem Feuer und war nur auf Mittel bedacht, um die Österreicher zurückzuwerfen oder wenigstens ihren raschen Vormarsch zu hemmen.

 

Ich habe also die Sitten der Frau von Merteuil noch gerade erlebt, wie eben ein Knabe von neun bis zehn Jahren und von feurigem Temperament Dinge sehen konnte, die ihm jeder beim rechten Namen zu nennen vermied.

 

 

Siebentes Kapitel - Vater und Familienleben


 


Rom, 2. Dezember 1835.

 

Beim Tode meiner Mutter (um 1790) bestand die Familie also aus: Gagnon Vater, sechzigjährig, Romain Gagnon, seinem Sohn, fünfundzwanzig, Seraphie, seiner Tochter, vierundzwanzig, Elisabeth, seiner Schwester, vierundsechzig, Cherubin Beyle, seinem Schwiegersohn, dreiundvierzig, Henri, dessen Sohn, sieben, Pauline, seine Tochter, vier, und Zenaïde, seine Tochter, zweijährig. Das sind die Personen des traurigen Dramas meiner Jugend, das mich fast nur an Leiden und an tiefe innere Widerwärtigkeiten erinnert. Doch sehen wir uns den Charakter dieser Figuren etwas näher an.

 

Die Tochter meines Großvaters, Seraphie Gagnon, war ein Teufel in Frauengestalt, seine Schwester Elisabeth Gagnon eine große hagere Frau mit schönen italienischen Zügen. Sie besaß einen durchaus edlen Charakter, aber edel mit allen Raffinements und Skrupeln des spanischen Gewissens. Sie hat in dieser Hinsicht mein Herz geformt: dieser Tante Elisabeth verdanke ich die abscheulichen Phantastereien spanischen Edelmutes, die ich in den ersten dreißig Jahren meines Lebens beging. Ich vermute, daß meine Tante Elisabeth, obwohl für Grenoble reich, infolge einer unglücklichen Liebe ledig geblieben war. Ich hörte so etwas in meinen ersten Kinderjahren aus dem Munde meiner Tante Seraphie.

 

Schließlich gehörte auch mein Vater zur Familie. Joseph Cherubin Beyle, Advokat am Parlamentsgericht, Ultraroyalist und Ritter der Ehrenlegion, Adjunkt des Bürgermeisters von Grenoble, starb 1819 mit zweiundsiebzig Jahren, war also 1747 geboren. Im Jahre 1799 war er somit dreiundvierzig Jahre alt. Er war äußerst unliebenswürdig, hatte stets Käufe und Verkäufe von Gütern im Sinne, war äußerst gerieben durch die Gewohnheit, mit den Bauern zu handeln, ein Erzdauphineser. Ihm fehlte alles Spanische, verstiegen Vornehme, und so war er auch meiner Großtante Elisabeth zuwider. Er war äußerst häßlich und runzlig und den Frauen gegenüber verwirrt und schweigsam, obwohl er sie nicht missen konnte.

 

Wegen dieser Eigenschaft hatte er Verständnis für die "Neue Heloise" und die übrigen Werke Rousseaus, von dem er nur mit Verehrung sprach, obwohl er ihn als gottlos schmähte, denn der Tod meiner Mutter hatte ihn zum Frömmler im höchsten und übertriebensten Maße gemacht. Er erlegte sich die Pflicht auf, alle Messen nachzusprechen; ein paar Monate lang wollte er sogar ins Kloster gehen und verzichtete wahrscheinlich nur darauf, um mir seine Advokatenstelle offen zu halten. Er sollte Konsistorialadvokat werden, eine vornehme Auszeichnung in seinem Stande, von der er sprach wie ein junger Offizier von dem Ehrenkreuz. Er liebte mich nicht als Menschen, sondern als Sohn und als Stammhalter der Familie.

 

Er konnte mich auch schwerlich lieben, denn er sah deutlich, daß ich ihn nicht liebte und nie ohne Not mit ihm sprach. Stand er doch allen meinen schöngeistigen und philosophischen Ideen fremd gegenüber, welche die Grundlage meiner Fragen an meinen Großvater und der ausgezeichneten Antworten dieses liebenswürdigen Greises bildeten. Ich sah ihn nur selten. Mein leidenschaftlicher Wunsch, Grenoble, d. h. ihn zu verlassen, und meine Vorliebe für die Mathematik, das einzige Mittel, um aus dieser Stadt fortzukommen, die ich haßte und noch hasse, denn dort lernte ich die Menschen kennen, versenkten mich in den Jahren 1797 bis 1799 in tiefe Einsamkeit. Ich kann wohl sagen, in jenen beiden Jahren und schon teils im Jahre 1796 habe ich gearbeitet wie Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle.

 

Seit meiner Abreise Ende Oktober 1799 – ich entsinne mich des Datums, denn am 18. Brumaire (9. November) war ich in Remours – bin ich für meinen Vater nur noch ein Geldforderer gewesen. Die Entfremdung nahm dauernd zu; er konnte kein Wort sagen, das mir nicht mißfiel. Für mich war es entsetzlich, einem Bauern ein Stück Land abzukaufen und acht Tage zu feilschen, um dreihundert Franken zu verdienen; das war gerade seine Leidenschaft.

 

Nichts war natürlicher. Sein Vater, der den stolzen Namen Pierre Beyle trug, starb in Claix mit dreiundsechzig Jahren unversehens an der Gicht. Mein Vater sah sich dadurch mit achtzehn Jahren (es war also um 1765) im Besitz eines Gutes in Claix, das 800 oder 1800 Franken (eins von beiden) einbrachte, und einer Anwaltsstelle; dabei hatte er zehn Schwestern zu versorgen. Seine Mutter war eine reiche Erbin, d. h. sie besaß etwa 60 000 Franken und hatte als solche den Teufel im Leibe. Sie hat mich als Kind oft geohrfeigt, wenn ich ihren Azor, ein Bologneserhündchen mit langem weißen Seidenhaar, am Schwanze zog. Das Geld war also mit vollem Recht der einzige Gedanke meines Vaters; ich dagegen habe stets nur mit Ekel...

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